Mario Cruz: "Der Prinz"

Schwule Liebe im chilenischen Knast

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Buchcover zu Mario Cruz: Der Prinz
Ein wiederentdeckter Roman aus den 70ern über Homosexualiät in Südamerika: "Der Prinz" von Mario Cruz. © Albino Verlag
Von Dirk Fuhrig · 23.10.2020
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Zwei junge Männer entdecken im Gefängnis ihre Liebe zueinander. Erstmals schreibt ein chilenischer Schriftsteller offen über Homosexualität - Anfang der 70er-Jahre. Der erst kürzlich wiederentdeckte Roman wurde auch verfilmt.
"Der Prinz" ist ein Fundstück. Der chilenische Autor und Journalist Mario Cruz hat das Buch Anfang der 70er-Jahre geschrieben. Aber erst durch eine Filmfassung, die demnächst auch in Deutschland in die Kinos kommen soll, wurde der Schriftsteller nun wiederentdeckt. Das Besondere dabei: Es handelt sich um eine schwule Liebesgeschichte, die in einer Zeit entstanden ist, als in Südamerika Homosexualität ein absolutes Tabu war.
Erst die Erläuterungen zu dieser Ausgabe enthüllen, wer dieser chilenische Schriftsteller war. Er arbeitete in den 60er-Jahren als Theater- und Film-Kritiker für verschiedene größere Publikumszeitschriften und schrieb auch selbst einige Theaterstücke, ohne größeren Erfolg. Der Roman wurde 1972 vermutlich im Selbstverlag veröffentlicht - die fehlenden Angaben sollten womöglich verhindern, dass Verfasser und Verlag wegen Verletzung der guten Sitten verfolgt werden konnten. So schildert Florian Borchmeyer in seinem ausführlichen Nachwort die Umstände dieser Publikation.

Zufallsfund auf einem Markt in Santiago

Der chilenischen Filmregisseur Sebastían Muñoz hat das Heft, auf dessen Titelseite ein muskulöser Jüngling hinter Gitterstäben abgebildet war, auf einem Markt in der Hauptstadt Santiago entdeckt. Er beschloss, den Text als Vorlage für seinen Spielfilm zu verwenden, der 2019 bei den Festspielen in Venedig Premiere hatte.
Die Hauptfigur Jaime hat aus Eifersucht einen Mann umgebracht - weil dieser ihn als Liebhaber verschmäht hatte. Der gut aussehende junge Mann wird verurteilt und landet im Gefängnis. Dort bekommt er den Spitznamen "Der Prinz". Er geht eine Beziehung mit einem anderen Inhaftierten ein, der in der Gefängnishierarchie als Anführer gilt.

Vorbild Jean Genet

Der Roman scheint allen Klischees eines homoerotischen Szenarios zu entsprechen: Enge und Abgeschlossenheit eines Männergefängnisses führen dazu, dass die Inhaftierten ihre Libido miteinander ausleben. Im Buch wird die manchmal aus der Not geborene Affäre fast schon wie eine Selbstverständlichkeit dargestellt. Es scheint sich um einen sinnenfreudigen Tempel der Lust zu handeln. Gewalt und Vergewaltigungen, die in solchen Gefängnissen an der Tagesordnung waren oder sind, werden teilweise ausgeblendet, zumindest scheinen die Ursachen der Brutalität nicht vor allem in Schwulenhass der Mithäftlinge, sondern in den Haftbedingungen zu liegen.
Das Szenario erinnert an die Werke des französischen Schriftstellers Jean Genet, der in "Notre-Dame-des Fleurs", "Querelle de Brest" oder "Tagebuch eines Diebes" auf ähnliche Weise homosexuellen Erfahrungen im Strafvollzug thematisiert hat. Auch James Baldwins Roman "Giovannis Zimmer", einer der Schlüsseltexte der moderneren schwulen Literatur, klingt hier an.

Wichtiges Zeitdokument

"Der Prinz" ist kein hochgradig ausgefeilter Text, der sich mit diesen Werken auf literarischer Ebene vergleichen ließe. Manches wirkt stereotyp oder vordergründig, die Charaktere besitzen keine allzu große Tiefe. Dennoch ist das Buch als Zeitzeugnis außerordentlich interessant, da es das erste literarische Dokument sein dürfte, das im katholischen Chile der frühen 70er-Jahre ganz offen und selbstbewusst von gleichgeschlechtlichen Beziehungen handelte.
Selbst unter der linken Regierung von Salvador Allende, die damals für eine kurzzeitige Liberalisierung vieler Lebensbereiche sorgte, war Homosexualität ein Tabu. Darauf weist der Herausgeber Florian Borchmeyer hin: Die sozialistischen Revolutionäre in Südamerika waren nicht weniger homophob als die Militärs, die 1973 in dem Land die Macht übernahmen.

Mario Cruz: "Der Prinz"
Aus dem chilenischen Spanisch von JJ Schlegel
Albino Verlag, Berlin 2020
118 Seiten, 18 Euro

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