Schriftstellerin Mariana Enríquez

Der weibliche Stephen King aus Argentinien

05:55 Minuten
Die Schriftstellerin Mariana Enríquez blickt nachdenklich am Betrachter vorbei.
Düster steht ihr gut: Die argentinische Schriftstellerin Mariana Enríquez. © imago-images / Agencie EFE / Marta Perez
Von Victoria Eglau · 22.03.2022
Audio herunterladen
In Mariana Enríquez' dunklen Texten vermischen sich Realität und Übernatürliches. Für "Unser Teil der Nacht" – eine Gothic Novel über Argentiniens jüngste Vergangenheit - bekam sie den renommierten Premio Herralde. Derzeit ist sie auf Lesereise.
Das Haus von Mariana Enríquez in Buenos Aires ist klein und vollgestopft mit Büchern, CDs und Filmen. Zwischen Coronatest und anderen Reisevorbereitungen nimmt sich die Schriftstellerin Zeit für ein entspanntes Gespräch im Innenhof, wo auch Wäscheständer und Fahrräder stehen. 

Okkultismus und Horror als Obsessionen

Die 48-Jährige trägt ein schwarzes T-Shirt mit dem Logo einer Heavy-Metal-Band und wuschelt sich durch die dunklen Haare, bevor sie über "Unser Teil der Nacht" spricht, ihren jüngsten Roman, in dem – wie sie sagt – alle ihre Obsessionen zusammenfließen.
"Meine Obsession, das ist der Okkultismus im weitesten Sinne: einerseits heidnische Kulte Lateinamerikas, vor allem die Mythologie des argentinischen Nordostens, andererseits der englische Okkultismus und seine Beziehung zur Rockmusik. Und die Politik – ich bin Argentinierin und dies ist ein sehr politisiertes Land, aber ich wollte nicht realistisch über Politik schreiben, sondern bei meinem Genre bleiben. Der Horror ist auch eine meiner Obsessionen."
Mariana Enríquez gilt als die prominenteste Vertreterin der Horrorliteratur Argentiniens, als eine Art weiblicher, südamerikanischer Stephen King. Den US-amerikanischen Schriftsteller bezeichnet sie unumwunden als großes Vorbild. Wie King, sagt Enríquez, interessiere sie Horror immer in Verbindung mit dem Realen, mit der Wirklichkeit.

Ich beschreibe Situationen, die mir oder der Gesellschaft, in der ich lebe, Angst machen – argentinische und lateinamerikanische Situationen.

Schriftstellerin Mariana Enríquez

Metapher für die Diktaturen Lateinamerikas

Am Anfang des Romans "Unser Teil der Nacht" steht eine Reise, Anfang der 1980er-Jahre: Ein Vater fährt mit seinem kleinen Sohn von der Hauptstadt Buenos Aires nach Misiones, eine Provinz im Nordosten Argentiniens. Es sind die letzten Jahre der Militärdiktatur und es herrscht eine beklemmende Atmosphäre. Tausende von Menschen hat das Regime in illegalen Nacht- und Nebelaktionen verschwinden lassen.
Beängstigend ist aber auch die Welt von Juan, dem Vater. Eine Welt voller blutiger Rituale. Juan dient als Medium einem geheimen Orden, der an einen mächtigen, gefräßigen Gott glaubt. "Die Dunkelheit“ nennt ihn Mariana Enríquez. Und auch in der Dunkelheit verschwinden Menschen.
"Ich wollte eine formlose Gottheit. Die Anhänger haben einen blinden Fanatismus, sie denken, dass die Dunkelheit zu ihnen spricht. Dass diese Gottheit Menschen verschwinden lässt, ist eine ziemlich offensichtliche Metapher dessen, was in den lateinamerikanischen Diktaturen geschah."

Den Mythen Argentiniens einen Platz geben

Mariana Enríquez erlebte die rechte Militärdiktatur als Kind. Aus ihrer eigenen Familiengeschichte ist das Thema der Volksreligiosität in den Roman eingeflossen. Die heidnischen Kulte ihrer Heimat faszinieren Enríquez:
"Meine Familie stammt selbst aus dem Nordosten. Dort verehren viele, auch Onkel und Tanten von mir, San La Muerte, den Heiligen des Todes. Ich wollte den Mythen Argentiniens einen Platz in der Literatur geben."

Mariana Enríquez: "Unser Teil der Nacht"
Klett-Cotta, Stuttgart 2022
832 Seiten, 28 Euro

Mariana Enríquez liest am 22. März 2022 live im LCB Berlin.

Schließlich geht es in "Unser Teil der Nacht" auch um das Erbe der Eltern, dem schwer zu entrinnen ist. Juan will mit aller Kraft verhindern, dass auch sein Sohn dem skrupellosen Orden dienen muss. "Ich habe darüber nachgedacht, ob es eine Möglichkeit gibt, der Geschichte zu entfliehen. Das Erbe der Eltern, die Traumata der Eltern, die Manien und der Schmerz der Eltern – kann sich ein Kind davon total befreien oder nicht?"
Auf mehr als achthundert Seiten hat sich Mariana Enríquez mit dieser Frage auseinandergesetzt und einen zum Teil sehr makabren, äußerst elegant konstruierten und fesselnden Roman geschrieben. Ein düsteres und zugleich erhellendes Epos über ihr Land Argentinien mit all seinen gesellschaftlichen Kontrasten, wiederkehrenden Krisen und unverheilten Wunden.

Abonnieren Sie unseren Weekender-Newsletter!

Die wichtigsten Kulturdebatten und Empfehlungen der Woche, jeden Freitag direkt in Ihr E-Mail-Postfach.

Vielen Dank für Ihre Anmeldung!

Wir haben Ihnen eine E-Mail mit einem Bestätigungslink zugeschickt.

Falls Sie keine Bestätigungs-Mail für Ihre Registrierung in Ihrem Posteingang sehen, prüfen Sie bitte Ihren Spam-Ordner.

Willkommen zurück!

Sie sind bereits zu diesem Newsletter angemeldet.

Bitte überprüfen Sie Ihre E-Mail Adresse.
Bitte akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung.
Mehr zum Thema