Esther Kinsky: "Rombo"

Das Seufzen der Materie

05:20 Minuten
Das Cover des Romans "Rombo" von Esther Kinsky.
© Suhrkamp

Esther Kinsky

RomboSuhrkamp, Berlin 2022

264 Seiten

24,00 Euro

Von Helmut Böttiger · 11.02.2022
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Ein Dorf in Norditalien wird von einem Erdbeben erschüttert. Esther Kinsky beschreibt das historische Ereignis aus der Perspektive von Mensch-, Tier- und Pflanzenwelt in einer hochpoetischen, verdichteten Prosa.
„Rombo“ ist ein altes italienisches Wort für das charakteristische Geräusch, das einem Erdbeben vorangeht. Es scheint aus einem furchterregenden Innern unterhalb der Erdoberfläche zu kommen. Dieses Geräusch ist fremd, unerhört und bedrohlich.

Erdbeben in Val Canale

Esther Kinsky wählt für ihr ungewöhnliches, abseits jeglicher konventioneller Handlung und Spannungsdramaturgie agierendes Prosabuch diesen Titel, um anzudeuten, dass es nicht nur um die konkreten Erdbeben geht, die sie beschreibt. Doch lebt „Rombo“ stark von den Geschehnissen am 6. Mai 1976 im nordostitalienischen Friaul, im Dreiländereck zwischen Italien, Österreich und Slowenien, und einem Nachfolgebeben im September.
Die Autorin konzentriert sich auf ein konkretes Dorf im Val Canale, das stark betroffen war. Sie entwickelt daraus ein großes soziales und existenzielles Panorama.

Keine liebliche Landschaft

Es ist eine höchst konzentrierte, verdichtete und poetische Prosa. Detailliert werden die Eigenheiten dieses spezifischen Terrains beschworen, ein Tal zwischen den Karnischen und Julischen Alpen sowie den Karawanken, mit einem Dialekt, der zwischen dem Italienischen und dem Slowenischen changiert.
Die Lieblichkeit dieser Landschaft wird aber an keiner Stelle romantisiert, sondern durch die exakten geologischen Gegebenheiten und die Materialverschiebungen erklärt. Das vermeintlich Paradiesische hat auch immer das Potenzial für ein Erdbeben, dieser Zusammenhang stellt sich unweigerlich her.

Perspektive von Menschen und Pflanzen

Formal wechseln sich in ästhetisch raffiniert zugespitzter Weise einzelne Kurzkapitel ab: aus der Perspektive einzelner Protagonisten des Dorfes, aber auch objektivierende Passagen über die spezifische Tier- und Pflanzenwelt. Im ersten Teil entsteht dadurch ein vielfach gebrochenes Bild von den Stunden vor dem Erdbeben.
Ein besonderes Motiv ist die hier ansässige schwarze Carbon-Schlange, die von den Bewohnern mit vielen Zuschreibungen versehen wird. Das Erdbeben selbst, gegen 21 Uhr, wird aus der Sicht einiger Bewohner beschrieben.
Im weiteren Verlauf des Textes treten die familiären Verhältnisse der einzelnen Protagonisten, ihr Beziehungsgeflecht und ihre soziale Situation immer deutlicher zutage. Die Armut, das Ausgeliefertsein sowie das Schicksalhafte zeigen sich in vielen konkreten, sinnlich aufgeladenen Motiven, auch in den Alltags- und Festritualen.

Gemeinschaft in umkämpfter Region

Besonders eindrucksvoll sind die Sage von der „Riba Faronika“, der Meerjungfrau mit den zwei Fischschwänzen, oder die Lieder, die „weder traurig noch fröhlich“ sind, „eher klagend und trotzdem irgendwie gleichmütig“. Eine archaische, fatalistisch grundierte Gemeinschaft, die von der Autorin in ungemein vibrierenden und oft lyrischen Bildern dargestellt wird, trifft auf Gegebenheiten der Natur, die vom Menschen nicht geändert werden können: „das Seufzen der Materie“.
Der Kalkstein, bestimmte Vögel, bestimmte Farben der Landschaft und des Himmels verbinden sich in diesem Text mit großen Fragen nach Menschlichkeit und Gemeinschaft. Das Politische in dieser umkämpften Grenzregion – „die Partisanen kamen von zwei Seiten“ – schwingt dabei immer mit. Ein überragendes und hochpoetisches Buch.

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