Margarete Mitscherlich zum 100.

Psychoanalytikerin und streitbare Feministin

Margarete Mitscherlich, fotografiert bei einem Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur (dpa) in ihrer Wohnung im Westend von Frankfurt am Main. Die 1917 geborene Psychoanalytikerin, Medizinerin und Autorin schrieb 1967 zusammen mit ihrem Mann Alexander Mitscherlich das Buch "Die Unfähigkeit zu trauern", das die deutsche Nazi-Vergangenheit und ihrer unzureichende Bewältigung in der Adenauer-Zeit beleuchtet.
Die Psychoanalytikerin, Medizinerin und Autorin Margarete Mitscherlich. © dpa / Frank Rumpenhorst
Von Rolf Wiggershaus · 17.07.2017
Eine "streitbare Intellektuelle" nannten Jürgen und Ute Habermas die Psychoanalytikerin und Feministin Margarete Mitscherlich. Zusammen mit ihrem Mann Alexander hatte sie großen Anteil an der Wiederbelebung der Freudschen Psychoanalyse in Deutschland nach 1945.
"Was mich mit Alexander Mitscherlich von Anfang an auch sehr verbunden hat, war unsere Prägung durch die Zeit des Nationalsozialismus und gedanklich mit ihr fertig zu werden, uns mit unserem Hass auf der einen Seite, aber natürlich auch mit der Identifikation auf der anderen Seite auseinanderzusetzen. Das hat uns immer sehr verbunden, und das hat uns von Anfang an auch die Psychoanalyse."
Zum Dokument solcher Gemeinsamkeit des Psychoanalytiker-Paares Margarete und Alexander Mitscherlich wurde das 1967 erschienene Buch "Die Unfähigkeit zu trauern". Damit begann Margarete Mitscherlich-Nielsen aus dem Schatten ihres älteren und bereits berühmten Mannes herauszutreten. Nachdem sie dann in den USA die dortige Frauenbewegung kennengelernt hatte, profilierte sie sich in den 1970er-Jahren als psychoanalytische Vordenkerin der Frauenemanzipation.
Geboren wurde sie am 17. Juli 1917 in dem an der Flensburger Förde gelegenen Städtchen Graasten als Tochter einer deutschen Schuldirektorin und eines dänischen Landarztes. Sie wollte wie die Mutter zunächst Lehrerin werden. Doch das hätte sie im nationalsozialistischen Deutschland zu ideologischer Anpassung gezwungen.

Mit Tatsachen und mit Menschen beschäftigen

"Daraufhin habe ich dann Medizin studiert als ein naturwissenschaftliches Studium, das sich ganz einfach mit Tatsachen und mit Menschen, so wie sie sind, nämlich krank vielleicht oder sonst was, aber mit realen Dingen beschäftigen musste."
Nach dem Ende des Krieges kam es in der Schweiz zur folgenreichen Begegnung mit Alexander Mitscherlich. Der neun Jahre ältere verheiratete Arzt und Mitbegründer der Zeitschrift "Psyche" lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die Psychoanalyse. Als er Ende der 1940er-Jahre in Heidelberg mit Mitteln der Rockefeller Foundation eine Klinik für psychosomatische Medizin errichten konnte, wurde Margarete Nielsen Mitarbeiterin der Abteilung für Kinder und Jugendliche. Entscheidend für ihre weitere Karriere wurde ein Aufenthalt in London.
"Was Psychoanalyse wirklich zu geben hat, wurde mir dann doch erst klar, als ich in London eine Analyse bei Balint machte und an den dortigen Seminaren teilnahm. Denn was alles in den Beziehungen vor sich geht, sowohl im Patienten wie auch im Analytiker, und wie das dazu beiträgt, sich und den anderen zu verstehen, das wurde mir erst in London klar."

Der Mann Theoretiker, die Frau Klinikerin

Im Laufe der Zeit kam es bei den seit 1955 verheirateten Mitscherlichs zu einer für Psychoanalytiker-Paare charakteristischen Arbeits- und Rollenteilung: der Mann Theoretiker und Organisator, die Frau Klinikerin und Ausbilderin.
"Ich hab sehr viel mehr Patienten gesehen als er, weil er auch gar keine Zeit dazu hatte. Dieses Immer-weiter-Hineingehen in die Seele und die verstehen und dann manchmal die großen Zusammenhänge darüber zu vergessen, das wurde ihm manchmal schwer, bei mir das mitzumachen. Denn es war ja auch immer mit einem gewissen Vorwurf an ihn verbunden. Ich sagte: Ja und du, du siehst die großen Zusammenhänge, aber du siehst nicht tief genug, was das Innerseelische angeht. Du bist zu oberflächlich."
1960 wurde Alexander Mitscherlich Gründungsdirektor des Frankfurter Sigmund-Freud-Instituts. Die Neuetablierung der Psychoanalyse in Deutschland schien gesichert. Doch Margarete Mitscherlich trauerte der kreativen Atmosphäre der Heidelberger Zeit nach mit den häufigen Besuchen einst emigrierter Wissenschaftler. Am Frankfurter Institut war sie die Ehefrau des Chefs und Ausbilderin vieler Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, von denen manche befürchteten, sie könnte etwas ausplaudern.

"Ich bin Feministin"

1977 war sie gleich in der ersten Nummer der von Alice Schwarzer gegründeten Zeitschrift "Emma" mit dem Beitrag "Ich bin Feministin" präsent. Auf für sie charakteristische Weise verband sie Beispiele aus der therapeutischen Praxis mit kritischen Überlegungen zur gesellschaftlichen Situation von Frauen. Sie schloss mit einer Warnung.
"Denn es geht für uns zwar auch, aber nicht nur um die Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen. Von nicht geringerer, vielleicht noch größerer Bedeutung ist die Auseinandersetzung mit den psychischen Zwängen, das heißt, mit der bei den meisten Frauen immer noch ungebrochenen Verinnerlichung ihrer gesellschaftlichen Degradierung."
Als Margarete Mitscherlich 2012 mit 95 Jahren starb, lagen die Hoch-Zeiten von Psychoanalyse und Frauenbewegung weit zurück. Nach wie vor gilt sie als die bedeutendste deutsche Psychoanalytikerin, der es gelang, eine Brücke zu schlagen zwischen Therapie und Gesellschaftskritik im Bewusstsein des problematischen Umgangs der Geschlechter miteinander.
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