Margaret MacMillan: "Krieg. Wie Konflikte die Menschheit prägten"

Fortschrittstreiber und Chaosstifter

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Buchcover "Krieg. Wie Konflikte die Menschheit prägten" von Margaret MacMillan.
Dass Krieg nicht nur zerstörerisch wirkt, sondern auch Entwicklungen vorantreibt, zeigt Margaret MacMillan in ihrem Buch "Krieg. Wie Konflikte die Menschheit prägten". © Deutschlandradio / Propyläen Verlag
Von Wolfgang Schneider · 16.09.2021
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Kriege sind Chaos und Gewalt, aber auch organisatorische und logistische Meisterleistungen. Sie treiben technologische und manchmal auch gesellschaftliche Entwicklungen voran, so die Historikerin Margaret MacMillan in ihrem lesenswerten Buch.
Die kanadisch-britische Historikerin Margaret MacMillan ist der Auffassung, dass wir bedenklich wenig wissen vom Krieg. Er gilt uns friedensverwöhnten Menschen des Jahres 2021 als das Unausdenkliche, als Abweichung von der Normalität, als Ausnahmezustand.
Darüber vergessen wir, dass Krieg über alle Kulturen und Epochen eine Konstante in der Menschheitsgeschichte gewesen ist und wie eng Gesellschaft und Zivilisation mit dem Krieg verflochten sind.

Logistische Meisterleistungen

Deshalb hat MacMillan, Verfasserin eines Standardwerks über die Friedenskonferenz von Versailles, nun ein gut lesbares essayistisches Buch geschrieben, in dem sie in neun Kapiteln grundsätzliche Fragen in Bezug auf die Weltgeschichte des Krieges erörtert.
Da geht es unter anderem um die verschiedenen – oft vorgeschobenen oder erschreckend banalen – Gründe für die Entfesselung von Kriegen, um die Methoden zur Formung todesbereiter Kämpfer und um die Evolution von Strategien und Waffensystemen. Von der Kriegserfahrung der Soldaten und Zivilisten handelt das Buch und von der Rolle der Literatur und Kunst für die Propaganda und Erinnerungskultur des Krieges.
Am spannendsten sind jene Partien, in denen MacMillan die Ambivalenzen des Krieges herausarbeitet. Neben der Destruktion sieht sie auch die andere, produktive Seite: "Der Krieg ist vermutlich die am besten organisierte aller menschlichen Tätigkeiten, und er hat seinerseits die Organisation der Gesellschaft vorangetrieben."
Ganze Nationen mit vielen Millionen Menschen koordinieren ihre Anstrengungen hin auf ein gemeinsames Ziel. Mehr als von der Kampfkraft werden Kriege deshalb oft von der Logistik entschieden: von den zahllosen Arbeitern und Bürokraten, die für Ausrüstung, Infrastruktur und zuverlässige Nachschubwege sorgen.

Wie Entwicklung und Krieg zusammenhängen

Das Steuer- und Finanzwesen entwickelte sich mit den Bedürfnissen der Kriegsfinanzierung. Die "Bank of England" etwa wurde im siebzehnten Jahrhundert gegründet, um für den Krieg gegen Frankreich Kredite zur Verfügung zu stellen.
Verblüfft nimmt man bei der Lektüre zur Kenntnis, wie viele Entwicklungen in Verwaltung, Technik, Medizin, Rechtswesen und Politik auf solche Weise mit Kriegen zusammenhängen.
Das heutige, friedliche Konzert von ausdifferenzierten Nationalstaaten in Europa: Es ist eine Ordnung, die Jahrhunderte der erbitterten Kriege zur Grundlage hat. Auch der Wirtschaft kann ein großer Krieg als gigantische Arbeitsbeschaffungsmaßnahme aufhelfen.
Sogar die Frauenemanzipation bekam Schub durch die Weltkriege, weil Frauen die Positionen von Männern einnehmen mussten, die zum Kriegsdienst eingezogen waren. Krieg ist Männersache? Durchaus nicht.

Und trotz allem: das Chaos

Bei aller hochkomplexen Organisiertheit produziert der Krieg aber vor allem eins: Chaos. Damit sind nicht nur Tod und Zerstörung gemeint, sondern die prinzipielle Unzulänglichkeit der Pläne und Regeln angesichts der vom Krieg selbst geschaffenen Wirklichkeit.
Kriegsziele bleiben oft unscharf; vieles läuft anders als erwartet. Der Krieg neigt dazu, Murphys Gesetz zu folgen: Was schiefgehen kann, geht schief.
MacMillans Buch ist stets anschaulich geschrieben und bildet eine einzige lange Kette von Beispielen. Fast auf jeder Seite wechseln die Kriegsschauplätze und Epochen, mit denen die Ausführungen illustriert werden. Mitunter wirkt das ein wenig additiv, wie eine wohlsortierte Materialsammlung.
Und heute? Die üblichen Motivationen für Kriege – Habgier, Furcht und Ideologie – seien so existent wie eh und je. Die Militärausgaben der Großmächte steigen – wie eh und je. Gerade deshalb sollten wir, wozu dieses Buch eine Grundlage bietet, sehr genau über den Krieg nachdenken. Um nicht ahnungslos in ihn hinein zu schliddern, wie eh und je.

Margaret MacMillan: "Krieg. Wie Konflikte die Menschheit prägten"
Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt
Propyläen Verlag, Berlin 2021
384 Seiten, 30 Euro

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