Marcel Proust im Selbstversuch

Vom Nutzen der verlorenen Zeit

05:31 Minuten
Eine junge Frau mit Atemschutzmaske überquert eine ansonsten völlig leere Straße in Paris. Sämtliche Geschäfte sind geschlossen.
Statt zu Madeleines im Café lässt sich die Zeit zu Hause gut nutzen, um endlich Prousts Klassiker zu lesen. © Getty Images / Chesnot
Von Jürgen König · 15.04.2020
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Marcel Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" ist einer dieser Klassiker, den die meisten dann doch nicht gelesen haben. Jetzt scheint der perfekte Zeitpunkt zu sein, das zu ändern – dachte sich Frankreich-Korrespondent Jürgen König.
In kaum einer der derzeitigen Literaturempfehlungen fehlt Marcel Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit". Kein Wunder, schließlich ist es in einer Welt, in der Restaurant- oder Konzertbesuche möglich sind, verdammt schwer, Platz für ein 5300-Seiten-Epos zu finden.
Nach einem Selbstversuch kann unser Frankreich-Korrespondent Jürgen König diesen Roman sehr empfehlen.

Proust zwingt einen, langsam zu denken

"Dieses Buch wird dein Leben verändern!", sagte mir ein Freund. Diese Vorhersage fand ich zunächst übertrieben. Doch seit ich nun selber lesend "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" bin, merke ich: Der Freund hatte Recht. Dieses Buch kann ein Leben verändern – schon deshalb, weil man viel Zeit braucht, um es zu lesen.
Die meisten der Proustschen Sätze sind lang und seine Sprache, Gedanken und Bilder so präzise, dass man gezwungen wird, monatelang ebenso genau und dadurch langsam zu lesen, entsprechend langsam zu denken, aber eben auch: Genau zu denken – das hinterlässt Spuren.
Manche seiner Sätze sind aber auch kurz – etwa der berühmte erste Satz des Romans:
"Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen."
Eine alltägliche Situation.
"Manchmal, die Kerze war kaum gelöscht, fielen mir die Augen so rasch zu, dass keine Zeit blieb, mir zu sagen: Ich schlafe ein."
Ein Moment des Einschlafens, wie ihn jeder kennt – vielleicht abgesehen von der Kerze am Bett. Aber dann fängt Proust an die Zeit auszudehnen. Etwa, wenn der Ich-Erzähler für einen Moment erwacht:
"… lang genug, um das organische Knacken der Täfelung zu vernehmen, die Augen zu öffnen und auf das Kaleidoskop der Dunkelheit zu richten…"
Man kann so etwas nicht schnell lesen. Auch wegen der atmosphärischen Dichte, mit der er zum Beispiel den nächtlichen Lichteinfall in einen Raum beschreibt:
"Sommerzimmer, wo wir uns gerne mit der lauen Nacht vereinen, wo das Mondlicht auf den halbgeöffneten Läden liegt und seine Zauberleiter bis ans Fußende des Bettes wirft…"

Abschweifen, aber mit Absicht

Oder beim Verzehr des berühmten Feingebäcks, der Madeleine, die, in Tee getaucht, beim Ich-Erzähler Marcel Großes bewirkt.
"In der Sekunde nun, da dieser mit den Gebäckkrümeln gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog. Ein unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein bestand und dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte mich durchströmt"
Der Geschmack einer in Tee getunkten Madeleine erinnert Marcel an seine Kindheit:
"Und wie in jenem Spiel, bei dem die Japaner in eine mit Wasser gefüllte Porzellanschale kleine Papierstückchen werfen, die sich zunächst nicht voneinander unterscheiden, dann aber, sobald sie sich vollgesogen haben, auseinandergehen, Umriss gewinnen, … zu Blumen, Häusern, echten, erkennbaren Personen werden, ebenso stiegen jetzt alle Blumen unseres Gartens … und die Seerosen auf der Vivonne und all die Leute aus dem Dorf und ihre kleinen Häuser und die Kirche und ganz Combray und seine Umgebung, all das, was nun Form und Festigkeit annahm, Stadt und Gärten, stieg auf aus meiner Tasse Tee."

Ein Roman wie ein verlässlicher Freund

So gut wie ohne Absätze geschrieben, ist der Roman wie ein einziger, gemächlicher Erzählstrom. Keine Haupt- und Nebenhandlung, nur gleichermaßen Wichtiges. Verschiedene Zeit- und Bewusstseinsebenen verschiedener Personen legt Proust übereinander, beschreibt sie, wie auf einem kubistischen Gemälde, aus verschiedenen Perspektiven gleichzeitig.
Moralische Bewertungen fehlen, nur Ästhetisches zählt: Ein verspieltes Labyrinth, in das man eintaucht, stilistisch brillant, üppige Metaphern, ein Netz aus Anspielungen, damit ein Kompendium auch der französischen Politik-, Kultur- und Geistesgeschichte, eine Meditation über das Wesen der Malerei, der Fotografie, der Musik, der Zeit.
Ein Buch wie ein Freund, der einem auch mal auf die Nerven geht, aber doch immer da und verlässlich ist. Im letzten Band wird Marcel durch den plötzlichen Geschmack einer Madeleine, in Tee getaucht, seine Schreibblockade überwinden und anfangen zu erzählen, wie er durch Jahrzehnte hindurch zum Künstler wurde.

Nutzloses Leben, relevante Themen

Ein Leben als Snob, nutzlos, mit tragischen Liebesaffären. Die Salons der Belle Époque lässt Proust lebendig werden, jenes Frankreich vom späten 19. Jahrhundert bis zum 1.Weltkrieg. Seine Figuren sind schillernd, glänzend die Psychologie der Begierden und Leidenschaften.
Themen des Romans sind Nationalismus und Antisemitismus, sind Homosexualität, krankhafte Eifersucht, sind die großen Lebensthemen: Liebe und Tod, die Kunst, das Älterwerden, die Zeit. Genau die Themen, die einem auch in diesen Tagen öfters durch den Kopf gehen.
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