„Man darf beim Bauen kein Märchen erzählen“

Daniel Libeskind im Gespräch mit Ulrike Timm |
Der Entwurf für die Leuphana-Universität in Lüneburg trage eine demokratische Form, die das Gebäude für jedermann zugänglich machen solle, erklärt Architekt Daniel Libeskind. Seine Gebäude hätten immer eine Spannung, das Teil ihrer Botschaft sei: „ein Mikrokosmos der ganzen Stadt“.
Ulrike Timm: Jetzt habe ich die Freude, mit einem der renommiertesten Architekten dieser Welt zu sprechen, mit Daniel Libeskind. Er steht für eine erzählende Architektur. Er hat viele öffentliche Gebäude und Museen gebaut, und zwar so, dass es immer einen Bezug gibt dazu, was in einem Gebäude geschieht.

So formte Daniel Libeskind zum Beispiel das Jüdische Museum in Berlin wie einen einschlagenden Blitz – als Symbol für die immerwährende Gefährdung und Vernichtung in 2000 Jahren jüdischer Geschichte. Innen wie außen gestaltet die Architektur also bei ihm immer das Erzählen drinnen mit.

Eine seiner letzten Arbeiten in Deutschland ist die Umgestaltung des militärhistorischen Museums in Dresden, und auch hier gab es viel Bewunderung dafür, wie gut Architektur und Ausstellung und Aussage miteinander arbeiten. Jetzt geht es um etwas ganz anderes: Derzeit bekommt nämlich die Leuphana-Universität in Lüneburg ein neues zentrales Gebäude nach einem Entwurf von Daniel Libeskind, derzeit große Baustelle, 2014 soll aber alles fertig sein.

Daniel Libeskind, ich freue mich, dass Sie da sind!

Daniel Libeskind: It's a pleasure!

Timm: Welche Idee soll denn dieses neue Gebäude vermitteln, was soll es erzählen?

Libeskind: Es ist vor allem die Geschichte von Bildung, von Ausbildung, und es geht um die Bedeutung der Kreativität, sowohl für die Studenten als auch für die Forschenden, und für alle Bürger, die mit diesem Gebäude zu tun haben werden. Es ist ein Komplex verschiedener öffentlicher Orte, und es geht um die Geschichte der Kreativität: Wir wollen diese hiermit zeigen. Wenn man mal zurückblickt ins 19., 20. Jahrhundert: Da ging es auch immer wieder um industrielle Bauten, Krankenhäuser und so weiter – das war eine autoritäre Bauweise, Baracken im Stil von militärischen Einrichtungen und so weiter.

Darum geht es nicht. Es geht jetzt darum, eine demokratische Form von Gebäuden zu schaffen und für jedermann zugänglich zu machen. Das ist die Herausforderung, um die es beim neuen Gebäude der Leuphana geht.

Timm: Ganz simpel gefragt: Wie sieht man einem Gebäude an, einem Universitätsgebäude, dass da drin junge Menschen sind, die denken?

Libeskind: Das Gebäude ist sozusagen ein Mikrokosmos der ganzen Stadt. Es steht für etwas ganz Großes. Es gibt viele verschiedene interaktive Orte in diesem Gebäude, verschiedene Räume, die die Leute zusammenbringen, die es den Leuten ermöglichen, zusammen zu arbeiten. Es ist eine Bühne sozusagen für das Zusammenarbeiten, und diese verschiedenen Räume ...

Da gibt es ja alles Mögliche: Es gibt Konferenzräume, es gibt ruhigere Räume, es gibt intimere Plätze, es gibt Räume für Lehrende, es gibt Räume für Studierende, es gibt Konferenzräume zum Unterhalten, zum Essen, zum Kaffeetrinken, zum Lernen – alles soll da vorhanden sein.

Timm: Nun ist die Leuphana in Lüneburg eine sehr ambitionierte, aber eher eine kleine Uni auf dem platten norddeutschen Land. Warum bauen Sie ausgerechnet da?

Libeskind: Das war einfach eine sehr gute kreative Gelegenheit für mich, auch Teil dieser Universität zu sein und dort zu unterrichten. So ging es nämlich los: Es ging um den Bedarf der Studenten eines guten Universitätsgebäudes. Und dafür gab es verschiedenartigste Workshops, um so etwas auch zu entwickeln, mit ganz verschiedenen Studenten, nicht nur denen der Architektur, und diese haben ihre Ideen mit eingebracht.

Und das, was es bedeutet, ein Gebäude zu haben, in dem man gut lernen kann, ein Gebäude zu schaffen, das sozial zugänglich ist, das etwas ganz Besonderes darstellt, ... und ich denke, auf einem Campus gab es so etwas vorher noch nicht in dieser Art, und das war natürlich eine großartige Gelegenheit.

Timm: Deutschlandradio Kultur, das „Radiofeuilleton“ – wir haben den Architekten Daniel Libeskind zu Gast. Mr. Libeskind, ich kenne kein einziges Gebäude von Ihnen, dass nicht irgendwo schiefe Wände hat, an dem nicht an irgendeiner Stelle fürs menschliche Auge etwas kippt. Warum mögen Sie es so gerne schief?

Libeskind: Ich kenne keine Arbeit von Franz Kafka, in der nicht bestimmte Sätze vorkommen, ich kenne kein Gemälde von Vermeer, in dem nicht ein bestimmtes Blau vorkommt, ich kenne keine Architekten, die nicht einen eigenen Charakter hätten. Natürlich gibt es Gebäude, die von Komitees errichtet wurden – das sind dann neutrale Gebäude, die von einer Gruppe entworfen worden sind, die nur zu einem einzelnen Teil sagen, ja oder Nein.

Aber das ist ein kulturelles Gebäude mit einer eigenen Botschaft. Und meine Gebäude haben eben einen bestimmten Charakter, eine bestimmte Spannung, und das ist auch Teil ihrer Botschaft.

Timm: Als Laie, als architektonischer Laie sogar mal gedacht: Vielleicht ist das sogar eine Charaktereigenschaft von Daniel Libeskind, dass sein Auge gerne auf Flächen weilt, die zu kippen scheinen und die dann doch nicht kippen.

Libeskind: Wissen Sie, der berühmte deutsche Dichter Rilke sagte immer: Wenn wir auf der Erde stehen und nicht fühlen, dass wir in den Abgrund fallen können, wissen wir eigentlich gar nicht, wo wir uns befinden. Es muss dieses Organische haben, es muss diese Spannung geben. Ein Gebäude muss auch inspirieren, es muss lebendig sein. Wenn man aus dem Fenster auf die Landschaft guckt, muss man etwas spüren können. In architektonischen Räumen geht es nicht nur um Räume, es geht auch um Licht, um die Materie, um alles, um das Interaktive mit der Natur, und das ist wichtig.

Timm: Wie ist das eigentlich bei Ihnen: Wie und auch wo entsteht so die erste innere Idee für eine Architektur für ein Gebäude? Ist das am Computer, beim Zeichnen oder gehen Sie joggen und dann trifft Sie ein Geistesblitz? Wie ist das?

Libeskind: Ich denke, dass man zunächst einmal verstehen muss, wofür ein Gebäude steht. Was soll es sein, was soll es darstellen? Dann, zweitens, muss man wissenschaftlich analysieren, was dann ein Gebäude repräsentieren soll, was damit geschehen soll. Darüber hinaus geht es darum, die Idee mit dem Gefühl zu verbinden, denn eine Idee alleine oder ein Gefühl alleine wird nicht funktionieren.

Man muss die spirituelle Ebene und die technische Infrastruktur zusammenbringen, man muss das beides verbinden. Und so sieht man auch den Unterschied zwischen Architektur und einem Gebäude.

Timm: Sie haben, bevor Sie ein Architekt wurden, Musik studiert, sind ein sehr musikalischer Mensch, haben auch öffentlich gespielt. Gibt es eigentlich Verbindungslinien zwischen musikalischem Tun und architektonischer Arbeit?

Libeskind: Die Architektur ist besonders in der Stadt auch immer eine musikalische Arbeit. Es ist wie eine große Komposition, die von vielen Spielern ausgeführt wird, von vielen Musikern oder vielen Teilnehmern ausgeführt wird. Und sie teilt das Physikalische der Musik, auch wenn es einmal um das Ohr und einmal um das Auge geht.

Aber die Tatsache ist ja auch, dass die Musik sehr präzise und mathematisch aufgebaut ist und dass wir sie dennoch emotional wahrnehmen, dass es darum geht, sie emotional und nicht intellektuell aufzunehmen. Wenn wir zum Beispiel Schubert hören, analysieren wir ja nicht als erstes, wie das Werk aufgebaut ist, wie es strukturiert ist. Und das, denke ich, ist sehr ähnlich: wenn die Emotion und die Idee zusammenkommen, wenn alles integriert wird – auf holistische, umfassende Weise.

Timm: Das heißt, wenn ich das weiterdenke, Mr. Libeskind, dann entwerfen Sie zum Beispiel beim Ground Zero, wo Sie in die Stadtplanung involviert sind, oder auch in Lüneburg, wo Sie das Gebäude machen, aber auch den Campus neu mitgestalten, dann entwerfen Sie die Partitur eines Platzes, einer Gegend?

Libeskind: Das ist eine gute Art, es auszudrücken. Die Architektur erzeugt ja erst mal auch eine Serie von Zeichnungen, von Dokumenten, und diese werden ja erst lebendig durch die Aufführung, durch das Erbauen, durch das Errichten. Und das ist ja auch wie in der Musik: Man kann sie zwar in einer Schublade archivieren, aber sie wird erst richtig lebendig, wenn ein Orchester sie aufführt, dann erst erreicht sie ihr eigentliches Wesen.

Und das ist wie mit der Kraft einer Zeichnung, die auch erst dann ihre Kreativität entfalten kann, wenn das Gesamtwerk entsteht, wenn es erbaut wird, wenn es errichtet wird.

Timm: Derzeit gibt es in Lüneburg bei der Leuphana eine Riesenbaustelle, viel, viel Sand, viele Bagger. Einen visionären Bau sieht man da wirklich noch überhaupt gar nicht. Gibt es eigentlich in so einem Großprojekt einen Punkt, Mr. Libeskind, wo einem auch ein bisschen bange wird, ob wirklich dabei rauskommt, was man sich erhofft, oder ist das schlicht die Professionalität von Architekten, dass er hinter jedem Bagger und in jeder verschlammten Grube sofort seine Pläne sieht, wie weit auch immer sie noch entfernt sein mögen?

Libeskind: Ich glaube, dass ein großes Gebäude ... Wenn man so etwas entwirft, wenn man so etwas zeichnet, muss man genau wissen, was man tut. Man hat das ja schon im Kopf. Natürlich trotzdem: Erst, wenn es fertig ist, kann man die Auswirkungen spüren, die es hat. All das, was dieses Gebäude bedeutet, merkt man erst, wenn es fertig gebaut ist. Das ist also sozusagen gleichzeitig präzise und vorhersagbar, und auf eine andere Art und Weise noch nie da gewesen und ein Wunderwerk, wenn es einmal erbaut ist.

Die Welt ändert sich allerdings permanent, und diese Veränderung der Welt, diesen Aspekt muss man mit in die Arbeit aufnehmen. Man darf beim Bauen kein Märchen erzählen. Man muss die Welt widerspiegeln, wie sie ist, und die Realität der Welt ist nun einmal radikal. Und das Gebäude muss diese Wahrheit widerspiegeln.

Timm: Daniel Libeskind über die Kunst des Bauens und die Vision von architektonischen Schöpfungen. Herr Libeskind, ich danke Ihnen sehr für dieses Gespräch, thank you for joining us and good luck for everything you will do and you will build!

Libeskind: Thank you so much, danke sehr!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Das Jüdische Museum in Berlin
Das Jüdische Museum in Berlin© Jüdisches Museum Berlin, Jens Ziehe
Ein Bundeswehrangehöriger geht in Dresden an der Front des Militärhistorischen Museums der Bundeswehr mit dem "Libeskind-Keil" vorbei.
Das militärhistorische Museums in Dresden© AP – Norbert Millauer
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