"Mal gucken, ob ich dann noch sexy bin"

Uta Melle im Gespräch mit Joachim Scholl |
Noch schlimmer als vor 20 Jahren seien die Festlegungen, wie eine schöne Frau auszusehen habe, meint Uta Melle. Die Initiatorin des Amazonen-Projekts findet Angelina Jolies Umgang mit ihrer Brustamputation "großartig".
Joachim Scholl: Wird in unserer Gesellschaft eine Frau nur als Frau, als weiblich, wahrgenommen, wenn sie Brüste hat? Auch diese Frage wirft der Fall der Schauspielerin Angelina Jolieauf, die sich beide Brüste zur Prophylaxe gegen den Krebs amputieren und wiederaufbauen ließ. Eine Frau, die sich diese Frage stellen musste, heißt Uta Melle, sie hat ihre Mutter an den Krebs verloren, erkrankte selbst, und die einzige Rettung war für sie die Amputation.

Das war 2009, und einige Zeit später hat Uta Melle mit dieser Erfahrung ein Buchprojekt initiiert, den Bildband "Amazonen – das Brustkrebsprojekt der Uta Melle",wofür sie sich mit 19 weiteren brustamputierten Frauen fotografieren ließ als Plädoyer für einen offenen und öffentlichen Umgang mit dem Thema. Uta Melle ist jetzt am Telefon. Guten Morgen!

Uta Melle: Guten Morgen!

Scholl: Nach dem, was Sie erlebt haben, Frau Melle, wie festgezurrt, festgelegt, brustfixiert ist das Schönheitsideal in unserer Gesellschaft, wenn es darum geht, was weiblich ist?

Melle: Enorm, und ich würde sogar sagen, noch schlimmer als vor 20 Jahren. Wenn ich jetzt mal vergleiche, als meine Mutter die Diagnose – das war '89 – gekriegt hat, da hat der Professor sich noch zurückgelehnt und zu meinem Vater gesagt: So, und wenn Sie jetzt Ihre Frau verlassen, dann kriegen Sie noch einen Tritt in den Hintern von mir. Und heutzutage habe ich schon oft gehört, dass bei der Diagnosestellung die Ärzte sich dann zum Mann drehen und sagen: So, und was machen wir jetzt mit der Brust ihrer Frau? Das ist zum Beispiel so der gravierende Unterschied, der da ist.

Wenn man sich die Frauen anguckt, Gina-Lisa oder wie sie alle heißen, da ist ja nicht viel Kopfarbeit mehr gefragt. Da haben wir natürlich sicherlich als Frauen vielleicht auch ein bisschen selber Schuld, wenn die 16-jährigen Mädchen denken, sie könnten sich Selbstbewusstsein mit Brustoperationen anoperieren quasi, und da frage ich mich auch, wo hört das auf. Ich selber kann das nicht gutheißen, das ist völlig klar, so habe ich aber auch meine Entscheidung natürlich getroffen.

Scholl: Sie haben in Interviews gesagt, Frau Melle, dass Sie sich Ihre Weiblichkeit nach der Amputation erst wieder erarbeiten mussten. Wie haben Sie das gemacht oder geschafft?

Melle: Das habe ich durch Fotos gemacht. Meine Diagnosestellung war ganz kurz vor meinem 40. Geburtstag, und zu diesem 40. Geburtstag habe ich ein Shooting geschenkt bekommen, das haben wir noch schnell mit Brüsten gemacht, und dann habe ich gesagt: So, jetzt machen wir das alles in zwei Monaten noch mal, ohne Brüste, auch lasziv, sexy, und mal gucken, ob ich dann noch sexy bin. Und nach zwei Monaten sah ich dann das Ergebnis, und das war großartig. Und da habe ich halt gesehen, dass ich schön bin eigentlich und dass die Brüste da nicht gefehlt haben.

"Ohne Haare, ohne Brüste - "doch, es ist schön!""
Scholl: Und wie war das mit der Außenwahrnehmung, also wenn andere damit konfrontiert wurden?

Melle: Ganz genau so, also zum Beispiel, es geht da ganz speziell um ein Foto, was ich jetzt vor Augen habe, da bin ich als Engel – das war in der Chemotherapie, ohne Haare, ohne Brüste –, und das hatte ich auch in meiner Ausstellung, da waren so … da war so eine Schulklasse, 17-jährige Mädchen, die kamen rein, und die Spontanreaktion war: Iiih! Dann habe ich die erst mal vor dieses Foto gestellt und gesagt: So, und jetzt überleg mal, ist das schön oder ist das nicht schön? Und dann kam die einhellige Meinung plötzlich: Doch, es ist schön! Das heißt, wenn man sich damit auseinandersetzt, dann ist es plötzlich eine andere Wahrnehmung, aber die Spontanwahrnehmung ist meistens eine Abwehrhaltung.

Scholl: Ging es denn in diesem Prozess, Frau Melle, jetzt mehr um gesellschaftliche Zuschreibung oder um Ihr persönliches Bild von sich als Frau? Haben Sie sich weniger weiblich gefühlt, oder wurden Sie nur so wahrgenommen?

Melle: Mit den Fotos wollte ich erst mal selber gucken, wie weiblich ich bin. Und mit dem ersten Shooting hat das schon für mich den Dreh gekriegt. Ich habe gleich beim ersten Fotoshooting ohne Brüste verstanden, dass ich noch sehr, sehr weiblich bin. Es ist ja eine Zeit, in der man immer nur Schwächen gewinnt. Und das bedeutet ja, wenn man nur Schwächen gewinnt, dass man sie umdrehen muss und mal gucken muss, wo sind denn die Stärken? Und die Kamera hat mir in diesem Moment diese Stärke wieder neu gezeigt, und das fand ich unheimlich interessant.

Scholl: Sie sind ja sehr offensiv und weiter öffentlich damit umgegangen. "Amazonen – das Brustkrebsprojekt von Uta Melle" heißt ein Fotoband, den Sie initiiert haben mit 19 Frauen, denen ebenfalls die Brust abgenommen wurde, und Sie zeigen in diesen Bildern, da zeigen Sie sich ja in stolzen ästhetischen Posen, halbnackt, also deutlich sichtbar ohne Brust. Wie schwer war es denn, diese Frauen zu überzeugen mitzumachen?

Melle: Eigentlich gar nicht schwer, ich habe einen Aufruf gestartet. Ich hatte eigentlich gedacht, dass sich mehr Frauen melden, aber ich hatte dann die 19 Frauen gefunden, und die waren aus ganz Deutschland, in allen Altersklassen. Interessant fand ich, die 19 Frauen, die kamen rein, waren sehr zögerlich, haben gesagt, ja, aber wir ziehen uns nicht aus und so. Und nach 20 Minuten liefen die alle nackt rum, haben sich ausprobiert, haben gesehen, wie geht denn eine andere Frau mit so einer Narbe um, und haben eben ihre Narben das erste mal auch bei einer anderen Frau gesehen.

Also ich weiß noch von einer, die am Anfang wirklich gesagt hat, nein, aber ich möchte mich echt nicht ausziehen, die dann aber zwei Stunden später vor einer Kamera gesagt hat, ja, das ist hier meine Narbe, und die hat sie dann auch gezeigt und so, also das ging wirklich innerhalb von zwei Stunden. Wir hatten zwei Tage Shooting, und in den zwei Tagen ist in den Frauen so viel passiert, dass danach eigentlich die meisten ihr Leben noch mal neu angefangen haben.

Scholl: Wird in unserer Gesellschaft eine Frau nur als weiblich wahrgenommen, wenn sie Brüste hat? Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit Uta Melle. Diese drastische prophylaktische Maßnahme, Frau Melle, die Angelina Jolie nun vollzogen hat und dieser Schritt, der neben den Medien auch viele Menschen, und darunter auch viele betroffene Frauen doch bewegt, wie beurteilen Sie das, wie finden Sie diesen Schritt?

Melle: Großartig! Ich bin gestern aufgewacht, und seitdem grinse ich eigentlich nur noch. Ich meine, nicht dass ich jemandem diese Krankheit wünsche, das ist völlig klar. Aber die Art und Weise, wie sie das gemacht hat, mit der Ruhe, in der gesettelten familiären Situation, in der Klarheit, in der Klarheit der Begründung auch – also der Artikel, den sie geschrieben hat, ist unglaublich schön, und der Satz, zu sagen: "Ich kann vor meine Kinder treten und sagen: Ich werde nicht an Brustkrebs sterben. Ich habe alles dafür gemacht." Das ist genau meine Überlegung.

Scholl: Die Schauspielerin, sie trägt nun Implantate. Das ist eine Entscheidung, die betroffene Frauen auch treffen müssen, die Brust solcherart wieder aufzubauen. Sie, Frau Melle, haben sich dagegen entschieden. Warum?

Melle: Das ist richtig, da muss man aber auch differenzieren. Ich habe die Diagnose gehabt und musste dann natürlich auch entsprechend eine Chemotherapie machen. Ein Brustaufbau in der Form, das sind schon mehrere schwere Operationen. Und dann im Vergleich, eine Brustamputation ist eine leichte Operation, ein Brustaufbau schwer. Das möchte ich meinem Körper nicht zumuten. Ich bin auch keine Schauspielerin, ich muss ja auch nicht damit arbeiten, das ist nicht mein Werkzeug. Der einzige Punkt wäre jetzt – also für mich brauche ich es nicht –, der einzige Punkt wäre die Gesellschaft, aber ich werde doch nicht irgendwie mich vier Mal auf den OP-Tisch setzen, weil die Gesellschaft meint, ich müsste jetzt zwei Brüste haben.

Scholl: Ja, aber wenn Sie das gerade ansprechen, Frau Melle, macht das einen Unterschied in der Wahrnehmung, also eine Frau mit künstlicher Brust, die das Fehlen ja dann auch kaschiert gewissermaßen, oder eine Frau, die sagt, die Brust ist weg, und das bleibt so?

Um eine Krebserkrankung zu verhindern, hat sich die US-Schaupielerin Angelina Jolie vorsorglich beide Brüste amputieren lassen.
Angelina Jolie© picture alliance / dpa - Facundo Arrizabalaga
"Die wollen nicht damit konfrontiert werden"
Melle: Nach außen macht es das bestimmt. Ich werde angeguckt, auf jeden Fall, ich habe Situationen, wo Frauen aus der Sauna rausgehen, die gerade reingekommen sind, oder aus Gemeinschaftsduschen, die wollen nicht damit konfrontiert werden, das ist dann deren Pech. Ich bin früher ohne Oberteil schwimmen gegangen, das mache ich jetzt auch noch, und es gibt auch Frauen, die ihre Kinder dann da wegholen, und die wollen nicht damit konfrontiert werden oder so. Ich bin relativ stark in solchen Situationen – manchmal macht mich das auch traurig, aber ich kann damit ganz gut umgehen, muss ich sagen.

Scholl: Wie hat man denn, Frau Melle, als das Buch dann erschien, auf dieses "Amazonen"-Projekt reagiert? War das noch eine Art Tabubruch? Eigentlich denkt man ja, dass die Zeiten, als Frauen rein auf ihren Körper in dieser Weise reduziert wurden, vorbei sein müssten.

Melle: Das war ein … ja, das war sogar einmal, da war die schöne Zeile, ein gelungener Tabubruch. Das fand ich sehr, sehr schön. Ja, es war sehr überraschend, ein toller Zuspruch in der Kunst- und in der medizinischen Szene, also das war diese Verknüpfung zwischen beidem, das hat auch sehr gut funktioniert.

Scholl: Wie würden Sie denn, Frau Melle, diese Ästhetik, die in diesem Makel sozusagen entgegenzutreten, beschreiben, was wäre denn die Botschaft des "Amazonen"-Projekts?

Melle: Ja, wollen wir es nicht mal umdrehen? Wer hat denn keinen Makel?

Scholl: Sehr gut. Touché!

Melle: Ja. Also da muss ich, glaube ich, nicht viel zu sagen, das sind einfach starke, tolle Frauen, die dargestellt sind, und wie gesagt, jeder hat irgendwo was.

Scholl: Uta Melle, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.

Melle: Ich danke Ihnen, Herr Scholl.

Scholl: Und das Buch "Amazonen – das Brustkrebsprojekt der Uta Melle" ist im Kehrer Verlag erschienen zum Preis von 30 Euro. Uta Melle, alles Gute für Sie.

Melle: Danke schön.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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