Mahi Binebine: "Der Himmel gibt, der Himmel nimmt"

Kein Trost für geschundene Seelen

Alltag in Marrakesch: Ein Kind spielt in alten Ruinen.
Alltag in Marrakesch: Ein Kind spielt in den Ruinen eines Gebäudes. © imago/ZUMA Press
Von Sigrid Brinkmann · 30.09.2016
Der in Marrakesch geborene Schriftsteller Mahi Binebine beleuchtet in seinem Roman "Der Himmel gibt, der Himmel nimmt" die Situation von in Armut lebenden Kindern in Marokko. Dabei vergisst er nicht zu zeigen: Auch im Alltag der Hölle gibt es glückliche Momente.
Die Welt, in die der vaterlos aufwachsende Ich-Erzähler geboren wurde, ist arm, schmutzig, mitleidlos und obszön. Binebine hat den Lebensbericht eines Mannes geschrieben, der seiner Mutter seit dem Säuglingsalter nur zum Geldverdienen taugte.
In Lumpen gewickelt, vermietete sie das Baby an Bettlerinnen auf der Djemaa El Fna, dem zentralen Platz in der Medina von Marrakech. Jahrelang hinderte sie ihren "Nährengel" durch straffes Bandagieren der Körperglieder am Wachsen. Der Geist des Kindes mit dem grotesk großwirkenden Kopf erwachte aber.
Der Junge begriff, dass die Würde eines Menschen in dessen Blick liegt. Geschickt nutzte er das Spiel seiner Augen, um Mitleid zu erwecken.

Omnipräsente Gewalt im Leben der Deklassierten

Man spürt in Binebines Beschreibungen der Hungerleider, wie großseine Zuneigung für diejenigen ist, die immer am Rand der Gesellschaft leben werden. Im Gedächtnis bleiben die Geschichten eines Korianderbüschel verkaufenden, freigelassenen Sklaven und einer ehemaligen Tänzerin, die vor Schmerz über die mörderische Niedertracht neidischer Frauen den Verstand verlor.
"Noch der geringste Landstreicher, noch der letzte aller Händler", hält der Erzähler fest, "fühlte sich berechtigt, brutal mit uns umzugehen".
Binebine prangert die omnipräsente Gewalt im Leben der Deklassierten ebenso wie die fehlende soziale Empathie der breiten Masse an. Es gibt keinen Trost für geschundene Seelen. Das Urteil, das er in seinem "Roman aus Marokko"über sein Geburtsland fällt, ist hart.
Auch das Fortleben archaischer Bräuche kann er nicht tolerieren. Dass man geköpfte Hähne gegen Mauern rennen lässt oder lebende Ziegen in die Luft wirft, nur um ihnen im Fallen den Bauch aufzuschlitzen, mag man als Tradition kulturell verbrämen, sie bleibt aber eine Roheit.

Alltag in der Hölle nicht immer traurig

Heimliche Ausflüge des heranwachsenden Erzählers in die Neustadt eröffnen Einblicke in eine kultivierte, indes über die Nöte der Unterschicht hinwegsehende Parallelgesellschaft. Mahi Binebine gehört zu den privilegierten Marokkanern, die die Augen nicht vor der Misere der Allerärmsten verschließen.
In einem Zeitraum von fünf Jahren hat er allwöchentlich den größten Slum von Casablanca durchstreift. Die Barackensiedlung, in der etwa hunderttausend Menschen leben, ist der Handlungsort seines 2011 erschienenen Romans "Der Engel von Sidi Moumen". Jugendliche Selbstmordattentäter wurden dort rekrutiert, um im Mai 2002 an fünf Plätzen in Casablanca Bomben zu zünden.
Binebine wollte schlicht verstehen, in welchem Milieu sie aufwuchsen. Dass der Alltag in der Hölle der Armut nicht unbedingt traurig sein muss, dass es Spielfreude und Eros immer und überall geben kann, auch davon weiß er in "Der Himmel gibt, der Himmel nimmt" zu erzählen.
Er tut dies, fokussiert auf den Handlungsstrang, auf konventionelle Weise. Mit Kraft und Schläue hat sich der Protagonist aus körperlicher und geistiger Gefangenschaft befreit. Schlussendlich kehrt er doch in das Dunkel, dem er entflohen war, zurück. Ob sein Protagonist diesen Schritt als Scheitern begreift, lässt der Autor offen.

Mahi Binebine: "Der Himmel gibt, der Himmel nimmt"
Aus dem Französischen von Hilde Fieguth
Lenos Verlag, Basel 2016
216 Seiten, 21,90 Euro

Mehr zum Thema