Maggie O’Farrell: "Judith und Hamnet"

Hamlet als Trauerarbeit

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Buchcover "Judith und Hamnet" von Maggie O'Farrell
Maggie O'Farrell deutet "Hamlet" als Trauerarbeit um den verlorenen Sohn. © Piper Verlag / Deutschlandradio
Von Dorothea Westphal · 23.12.2020
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England im 16. Jahrhundert: Shakespeares Frau Agnes lebt allein mit den drei Kindern in der Provinz. Auch nach dem Pesttod ihres Sohnes Hamnet lässt sich der Dichter nicht blicken. Es kommt zur Ehekrise. Doch ein Theaterstück ändert alles.
Nur wenig ist über das Leben von William Shakespeare bekannt. Aber einige Fakten stellt die nordirische Schriftstellerin Maggie O’Farrell ihrem Roman als historische Anmerkung voran: Sein Sohn starb 1596 im Alter von 11 Jahren vermutlich an der Pest. Vier Jahre später schrieb Shakespeare sein Stück "Hamlet". Ob und inwieweit zwischen beidem ein Zusammenhang besteht, ist in der Literaturwissenschaft umstritten.
Maggie O’Farrell hat entlang dieser Fakten einen poetischen Roman geschrieben, in dem es weniger um Shakespeare als um dessen Frau Anne Hathaway geht. O’Farrell gibt ihr den Namen, der auch im Testament ihres Vaters steht: Agnes.
Von ihr ist der junge Lateinlehrer beeindruckt: Sie besitzt einen gezähmten Falken, eine fast übernatürliche Menschenkenntnis und kennt sich mit Heilkräutern aus. Die beiden heiraten und bekommen drei Kinder, die Tochter Susanna und die Zwillinge Judith und Hamnet.

Hamnet stirbt anstelle seiner Schwester

Shakespeare ergreift nicht den Beruf seines Vaters als Handschuhmacher, sondern geht nach London, um dort eine Theatertruppe zu gründen und Stücke zu schreiben, während Agnes mit den Kindern in der Provinz bleibt. Als die Tochter Judith an der Pest erkrankt, ist sie es, die um das Leben des Kindes ringt.
Doch als Judith die typischen Symptome wie Fieber und Beulen am Hals bekommt, sind die Zwillinge zunächst allein zu Hause und Hamnet macht sich verzweifelt auf die Suche nach einem Arzt. Der erscheint Stunden später mit der typischen Pestmaske und gibt den dubiosen Rat, eine getrocknete Kröte auf den Unterleib des Mädchens zu legen.
Agnes, inzwischen zurückgekehrt, versucht stattdessen, das Kind mit Heilkräutern und all ihrer medizinischen Erfahrung zu retten. Und es stirbt auch nicht Judith, sondern ihr Bruder.
Da sich die Zwillinge extrem ähneln und sich sehr nahestehen, haben sie sich oft als der jeweils andere Zwilling ausgegeben. Hamnet möchte auch dem Tod einen Streich spielen, indem er Judiths Platz einnimmt, und stirbt gewissermaßen an ihrer Stelle.

Hamnet = Hamlet?

Judith wird immer um den Bruder trauern. Sein Tod und die Tatsache, dass der Vater zu spät aus London kommt und bald wieder abreisen muss, weil die Theatertruppe auf ihn wartet, führt das Ehepaar in eine tiefe Krise.
Als ein weiteres Theaterstück Premiere feiert, macht sich Agnes auf den Weg nach London. Das Stück heißt "Hamlet" - Hamlet und Hamnet wurden damals synonym als Namen gebraucht. Sie ist skeptisch und dann überrascht und tief berührt: Was sich auf der Bühne vollzieht, zeigt ihr, auf welche Art und Weise ihr Mann versucht, seine Trauer um den verlorenen Sohn zu verarbeiten.

Sinnliche Erzählweise

Maggie O’Farrell gelingt es meisterlich, sich in die Gefühle von Agnes, einer Frau, die im 16. Jahrhundert lebte, hineinzuversetzen. Auch Shakespeare, der nie mit seinem Namen, sondern immer nur in seiner sozialen Funktion als Ehemann oder Vater bezeichnet wird, wirkt als Liebender und Vater glaubwürdig.
In den Schilderungen des Alltagslebens vermittelt der Roman auf sinnliche Weise zeithistorisches Kolorit - und ist vor allem ein großes Buch über Trauer und die Entstehung von Kunst.

Maggie O’Farrell: "Judith und Hamnet"
übers. von Anne-Kristin Mittag
Piper Verlag, München
416 S., 22 €

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