Machtwechsel in Israel?

Schicksalswahl für Netanjahu

26:51 Minuten
Eine Frau mit Regenschirm läuf an einem großen, blauweißen Wahlplakat vorbei, das Benjamin Netanjahu in selbstbewusster Pose zeigt.
Insgesamt 13 Jahre Ministerpräsident Israels: Benjamin Netanjahu strebt die fünfte Amtszeit an. © imago/UPI Photo/Debbie Hill
Von Tim Aßmann · 04.04.2019
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Die Mehrheit in der Knesset sind 61 Sitze. Die wollen die Mitte-Links-Parteien in Israel am 9. April erstmals wieder erobern. Die Chancen standen gut - jetzt drehen die Umfragen. Ministerpräsident Netanjahu hat einen Trumpf, aller Vorwürfe zum Trotz.
Am 28. Februar haben die Abendnachrichten aller israelischen Fernsehkanäle nur ein Topthema: Israels Generalstaatsanwalt hat sich entschieden. Premierminister Benjamin Netanjahu soll angeklagt werden – wegen Bestechlichkeit, Untreue und Betrug. Ein amtierender Regierungschef, der mit einem Korruptionsprozess rechnen muss. So etwas hat es in Israels Geschichte noch nicht gegeben.

Im Podcast der Weltzeit erklärt Anita Haviv die Eigenarten von Wahlen in Israel. Sie stammt aus Wien, lebt seit 1979 in Israel und arbeitet als Publizistin und in der politischen Bildungsarbeit im deutsch-israelischen Dialog. Ihr aktuelles Buch heißt "In Europa nichts Neues? Israelische Blicke auf Antisemitismus heute" und erscheint bei der Bundeszentrale für politische Bildung.

Anita Haviv-Horiner in der Sendung "Im Gespräch" im Deutschlandradio Kultur
© Matthias Horn
Monatelang hatte Avichai Mandelblit, der Generalstaatsanwalt, die Anklagempfehlungen der Polizei in drei unterschiedlichen Fällen geprüft. Die Öffentlichkeit wartete gespannt und Benjamin Netanjahu, Spitzname Bibi, stritt alles ab. Immer. Die jahrelangen Ermittlungen gegen ihn, stellte er als Verschwörung dar – von politischen Gegnern, linken Medien und willfährigen Marionetten bei Polizei und Staatsanwaltschaft. Bei dieser, seiner Version bleibt Netanjahu auch, als Mandelblits Entscheidung ihn anklagen zu wollen, offiziell bekannt gegeben wird.
"Die Linken wissen, dass sie uns nicht in den Wahllokalen besiegen können. Deshalb verfolgen sie uns seit drei Jahren in einer Hexenjagd, die nur ein Ziel hat: Die rechte Regierung mit mir an der Spitze zu stürzen und die linke Regierung von Lapid und Gantz an die Macht zu bringen."

Positive Berichte über Netanjahu gegen Gefälligkeiten?

Der liberale Oppositionspolitiker Jair Lapid, ein Ex-TV-Moderator, und der ehemalige Armeechef Benny Gantz haben eine Allianz gebildet, um Netanjahu in den anstehenden Parlamentswahlen zu schlagen. Die politische Auseinandersetzung und die Korruptionsvorwürfe gegen ihn – für Netanjahu hängt das alles zusammen. Doch diese Verbindung wirkt konstruiert und drängt sich nicht auf, wenn man die teils rund drei Jahre laufenden Ermittlungen gegen Netanjahu beobachtet hat.
Jair Lapid in Nahaufnahme mit ernstem Gesichtsausdruck, umringt von Menschen.
Der frühere Fernsehmoderator Jair Lapid spricht mit Farmern des Kibbuz Kfar Aza.© imago/ZUMA Press/Nir Alon
Die Anti-Korruptionsexperten der israelischen Polizei haben mehr als 100 Zeugen befragt, gleich drei ehemalige enge Vertraute Netanjahus wurden zu Kronzeugen der Justiz. Netanjahu soll dem Bezeq-Konzern, dem größten Telekommunikations-Unternehmen des Landes, wettbewerbsrechtliche Vorteile verschafft haben, damit eine Nachrichten-Website, die dem Bezeq-Haupteigner gehört, positiv über den Regierungschef und seine Familie berichtet. Ähnliche Absprachen traf Netanjahu, nach Ansicht der Ermittler, auch mit einem Zeitungsverleger und schließlich geht es noch um die illegale Annahme von Luxusgeschenken.
Die Anklageanhörung, die darüber entscheidet, ob sich Netanjahu vor Gericht verantworten muss, wird erst nach den Wahlen stattfinden. Dennoch könnte jener 28. Februar rückblickend als ein entscheidender Moment im Wahlkampf gewertet werden – zusammen mit einem Ereignis einen Monat zuvor.

Netanjahus Herausforderer

In einer Messehalle in Tel Aviv tritt ein schlanker, großgewachsener Mann mit grauem Haar und markanten Gesichtszügen auf die Bühne. Auftritt: Benny Gantz. Der 59-Jährige war bis 2015 Generalstabschef der Armee. Nun will er Regierungschef werden. Aus Sorge um Israel, sagt er.
"Der Kampf zwischen rechts und links reißt uns auseinander. Die Auseinandersetzungen zwischen Streng-Religiösen und Säkularen spalten uns. Die Spannungen zwischen Juden und Nichtjuden besorgen uns und der gesellschaftliche Frieden ist gefährdet. Die Politik ist hässlich geworden und vergiftet. Ich kenne unsere aktuelle Führung, die nur mit sich selbst beschäftigt ist und sich für Euch nicht interessiert."
Benny Gantz (2.v.l.) und Yair Lapid (3.v.l.) formen eine Allianz gegen Ministerpräsident Netanjahu.
Benny Gantz (2.v.l.) und Jair Lapid (3.v.l.) formen eine Allianz gegen Ministerpräsident Netanjahu.© imago stock&people/ UPI Photo
Benny Gantz zeichnet das Bild einer zerrissenen Gesellschaft, die er einen möchte. Er spricht über hohe Lebenshaltungskosten, über Probleme im Bildungs- und Gesundheitssystem. Und der ehemalige Armeechef verspricht den Israelis, dass ihre Sicherheit auch für ihn oberste Priorität hat. Im Konflikt mit den Palästinensern spricht Gantz an diesem Abend nicht von einem Politikwechsel. Den Begriff Zweistaatenlösung nimmt er nicht in den Mund.
"Wir werden die Siedlungsblöcke stärken und uns von den Golan-Höhen nie zurückziehen. Das Jordantal wird unsere östliche Grenze bleiben und das Vereinte Jerusalem wachsen und für immer die Hauptstadt des jüdischen Volkes und des Staates Israel sein."
Für Benjamin Netanjahu hat Benny Gantz an jenem Abend eine klare Botschaft: Danke bis hierher. Jetzt übernehmen wir. Wenige Wochen nach seinem offiziellen Einstieg in die Politik bilden Benny Gantz und seine "Partei für Erneuerung" eine Allianz mit dem liberalen Oppositionspolitiker und ehemaligen TV-Journalisten Jair Lapid und dessen Zukunftspartei. Inspiriert von den israelischen Landesfarben nennen sie ihre gemeinsame Wahlliste "Blau-Weiß".
Mit auf dieser Liste kandidieren auch der ehemalige Armeechef Gabi Ashkenazi, der eher dem linksliberalen Lager zuzuordnen ist und Moshe Yaalon. Auch er war Generalstabschef und sogar Verteidigungsminister. Im Streit mit Benjamin Netanjahu verließ er dessen Kabinett und die konservative Likud-Partei.

Die Sicherheitsfrage hat für die Wähler Priorität

Drei Ex-Generäle und ein ehemaliger Fernsehmoderator sind zusammen die größte politische Gefahr für Netanjahu und den Likud, sagt die Politikwissenschaftlerin Yael Shomer von der Universität Tel Aviv.
"Das wichtigste Thema für israelische Wähler ist nach wie vor die Sicherheit, nicht die Wirtschaft wie in vielen anderen Ländern. Wenn Ex-Generäle in die Politik gehen, haben sie die Aura, dass sie sich um die Sicherheit kümmern werden, dass sie genau wissen, was sie tun und so weiter. So war es mit Barak und auch mit Rabin. Das ist kein neues Phänomen in Israel."
In den rund 71 Jahren seiner Geschichte sah sich Israel immer wieder Bedrohungen ausgesetzt. In den ersten Kriegen gegen die arabischen Nachbarn ging es vor allem um die eigene Existenzsicherung, dann folgten der bis heute andauernde Konflikt mit den Palästinensern, zwei Libanon-Kriege, Terrorwellen, die beständige Auseinandersetzung mit der Hamas im Gaza-Streifen und die Bedrohung durch den Iran und die Hisbollah-Miliz im Libanon.
Teile eines Hauses sind zerstört. Davor liegen Trümmer und Reste einer Kinderschaukel.
Durch den Raketeneinschlag in der zentralisraelischen Stadt Mishmeret im März wurden ein Haus zerstört und mehrere Bewohner verletzt.© AFP/Jack GUEZ
Die Frage, wer ihre Sicherheit garantieren kann, ist für Israelis an der Wahlurne entscheidend, und Kompetenz in diesem Feld war lange Benjamin Netanjahus politisches Alleinstellungsmerkmal, sein Markenkern, sein Erfolgsgeheimnis. Gerade deshalb, glaubt Politikwissenschaftlerin Shomer, ist der Ex-General Benny Gantz in einem personalisierten Wahlkampf der gefährlichste politische Gegner für Netanjahu seit vielen Jahren.
"Die Umfragen sagten Gantz schon 20 Sitze voraus, bevor er überhaupt den Mund aufmachte und sagte, wie seine Partei heißen und wofür sie stehen soll oder welche Personen sie bilden werden. Das ist die Quintessenz von Personalisierung. Du folgst einfach dem Anführer."

Es geht nur um Pro- oder Anti-Netanjahu

Anführer statt Programm. So lässt sich die politische Auseinandersetzung zwischen den Lagern auch im israelischen Wahlkampf zusammenfassen. Inhaltlich gibt es zwischen der eher im politischen Zentrum verorteten Wahlliste "Blau-Weiß" von Benny Gantz und Benjamin Netanjahus national-konservativer Likud-Partei durchaus Schnittmengen, aber es gehe eben weniger um Programme und mehr um Personen, erklärt Politologin Yael Shomer.
"In den ersten Jahrzehnten der israelischen Geschichte war das anders. Die Parteien formierten sich nicht grundsätzlich um eine einzige Person herum. Heutzutage sehen wir einen Hang zur Personalisierung. Das begann 1992 mit Rabin. Er wurde, damals zum ersten Mal in der Geschichte der Arbeitspartei, durch Vorwahlen ausgewählt und der Slogan 1992 war dann: "Israel wartet auf Rabin". Nicht auf die Arbeitspartei. Auf Rabin. Sie hoben den Anführer hervor. Das machen seitdem viele Parteien so. Sie werben mit dem Anführer und nicht mit ihrer Ideologie, die sie zum Teil sogar verstecken."
In Umfragen lag die Wahlliste "Blau-Weiß" von Benny Gantz konstant vor Benjamin Netanjahus konservativer Likud-Partei. Doch der Block aus national-religiösen, streng-religiösen, konservativen und rechtspopulistischen Gruppierungen, der auch jetzt das Regierungslager bildet, kam bei den Demoskopen meist auf eine Parlamentsmehrheit seit März. Dann könnte – allen Korruptionsvorwürfen zum Trotz – erneut Netanjahu eine Regierung bilden. Seine Strategie ist den Herausforderer Gantz und dessen Verbündete als politisch links darzustellen. Nachdem Benny Gantz seine Wahlliste vorgestellt hatte, reagierte Netanjahu so:
"In weniger als zwei Monaten könnte hier eine linke Regierung von Lapid und Gantz entstehen, die mit Duldung der arabischen Parteien regiert. Eine solche Regierung wird die Wirtschaft Israels zerstören und sie wird früher oder später – obwohl bei ihnen wird es sehr früh dazu kommen - einen palästinensischen Staat gründen."
"Bei den Wahlen geht’s dann jetzt um Pro-Netanjahu oder Anti-Netanjahu und die verschiedenen Milieus konzentrieren sich dann auch auf diese Frage. Das geht gar nicht mehr um Ideologie oder um irgendwelche politischen oder wirtschaftlichen oder sozialen Fragen. Das spielt überhaupt keine Rolle mehr."

Die Frage nach der sozialen Gleichheit

In einem Cafe in Tel Aviv treffe ich Natan Sznaider, um über den israelischen Wahlkampf zu sprechen. Sznaider ist Soziologe. Eines seiner Bücher handelt von der Zusammensetzung der israelischen Gesellschaft – also dieser vielschichtigen Mischung aus Juden und Nichtjuden, aus Einwanderern aus der ganzen Welt und ihren Nachkommen, die nun ein neues Parlament wählt. Auch der Soziologe Sznaider sieht die Personalisierung des Wahlkampfes, sieht die Lagerbildung und wie Netanjahus Korruptionsaffären und die Sicherheitspolitik alle anderen Themen überlagern – zum Beispiel die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit.
"Wenn Sie Gleichheit meinen, ist Israel kein Land, das man als gleich bezeichnen kann. Die sozialen Unterschiede hier sind wahnsinnig groß. Auf der anderen Seite natürlich wahnsinnige Prosperität. Sie wissen, wie teuer hier alles ist und sie wissen, wie egal das vielen Leuten ist, wie teuer es hier ist. Die Leute verdienen hier nicht übel. Es gibt hier ein bürgerliches Milieu, dem es wirklich gut geht. Und auf der anderen Seite natürlich ist das Gefälle hier viel, viel größer, als man das von Mitteleuropa oder Westeuropa gewohnt ist. Der Unterschied zwischen denen, die viel haben und denen, die wenig haben, ist hier größer, als, sagen wir mal, in Deutschland. Das ist ganz klar."
Die Zusammensetzung der Gesellschaft spiegele sich in der politischen Landschaft, erklärt Sznaider. Die jüdischen Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion, die in den neunziger Jahren nach Israel kamen, wählen traditionell eher national-konservativ und die zwei Parteien der streng-religiösen Juden, der sogenannten Ultra-Orthodoxen, sind zu wichtigen Mehrheitsbeschaffern geworden. Im Schnitt haben ultra-orthodoxe Familien sieben Kinder. Als Israel 1948 gegründet wurde, machten die Streng-Religiösen ein Prozent der Bevölkerung aus, sagt Soziologe Sznaider.
"Ben Gurion glaubte und er war nicht der einzige, der das glaubte, dass dieses Phänomen der Ultra-Orthodoxen durch die Souveränität und durch den Staat und durch die Modernität in zwei Generationen vorbei sein wird. Irrtum. War nicht vorbei. Die Orthodoxen wurde immer stärker und wurde immer mehr d.h. also von einem Prozent, wie wir sagten, zu 13, 14 Prozent."

Israels Ausgaben für Soziales unter westlichem Durchschnitt

Smadar Hermon lässt uns in ihr Zuhause in einem Wohnblock in Petah Tikva, im Großraum Tel Aviv. Smadar ist eine streng-religiöse Jüdin. Die 55-Jährige hat zehn Kinder und mittlerweile sechs Enkelkinder. Smadar war früher Lehrerin für Mathematik und Religion, mittlerweile arbeitet sie in einer Schuldnerberatung. Anders als in vielen anderen Ultra-Orthodoxen Familien, in denen die Männer nicht arbeiten, sondern sich komplett ihrer Religion verschrieben haben, ist Smadars Mann berufstätig und er war es auch immer. Sonst wären wir nicht über die Runden gekommen, erzählt sie. Familien ohne zwei Einkommen, seien in Israel schnell im Minus.
"Es ist teuer. Das sind die Preise. Alles kostet so viel. Ein Karton Milch beispielsweise kostet 1,30 Euro. Eine Familie in unserer Größenordnung verbraucht vier bis fünf Liter am Tag. Und das ist nur die Milch, ich rede hier nicht von hochwertigen Produkten wie Fleisch oder so. Rechne Dir aus, wieviel Geld wir allein für Milch im Monat ausgeben. Wenn man jetzt Brot hinzurechnet und ab und zu mal Fleisch geben möchte, summiert sich das auf viel Geld. Wir hatten eine lange Phase, in der ich den Kindern z.B. nicht einmal Joghurts kaufen konnte: es gab lediglich Käse, Humus, Brot und Milch. Sonst wären wir mit dem Geld nicht hingekommen."
Israels Wirtschaft boomt. Von Smadars trist wirkendem Wohnblock in Petah Tikva ist es nicht weit zu den Wolkenkratzern aus Glas und Stahl, die sich an Tel Avivs Stadtautobahn in die Höhe schrauben und in denen vor allem die innovative IT-Branche des Landes zuhause ist. Gleichzeitig liegen die staatlichen Ausgaben für soziale Unterstützung aber deutlich unter dem Durchschnitt westeuropäischer Staaten. Sozial gerecht gehe es in Israel nicht zu, sagt Smadar.
"Ich glaube nicht, dass eine Gerechtigkeit erreicht werden kann. Die Kluft zwischen Armen und sehr Reichen ist groß. Bei solchen Unterschieden kann man nicht von Gleichheit reden. Aber im Schnitt sind die Menschen glücklich. Wenn ich mir meine Familie angucke, dann sind wir trotz aller Schwierigkeiten glücklich."
Soziale Themen sind für Smadar bei ihrer Wahlentscheidung nachrangig. An erster Stelle steht für sie die Sicherheit des Landes.
"Es geht um Fragen wie: 'ein palästinensischer Staat - ja oder nein?', oder das Thema 'Terror'. Die Menschen haben Angst. Das alles sind Dinge, die man im Alltag wirklich spürt, denn wir reden hier von Angst. Noch ein Gaza-Krieg? Raketen? Das ist auf der Tagesordnung, denn so etwas versetzt einen in Angst. Und für diese Probleme müssen Lösungen gefunden werden."

Ein Fünftel der israelischen Familien sind arm

Nur ein paar Kilometer von Smadars Wohnung entfernt, liegt ihr Arbeitsplatz. Die Schuldnerberatung "Paamonim" betreut landesweit rund 30.000 Menschen, deren Ausgaben ihre Einkommen übersteigen. Den staatlichen Statistiken zufolge gilt knapp ein Fünftel der israelischen Familien als arm. David Kochmeister ist Direktor von "Paamonim" und er rechnet anders.
"Ich gehe davon aus, dass es mehr Arme gibt. Es ist nur so, dass viele Menschen sich selbst falsch einschätzen. Betrachtet man die Daten der Banken in Israel, dann überzieht mindestens ein Drittel, also 33 Prozent der Bevölkerung während der meisten Zeit des Jahres das Bankkonto. Das bedeutet, dass bei all denen die Ausgaben höher sind als die Einnahmen. Wie sie leben? Sie gehen an ihre Ersparnisse oder an die Ersparnisse ihrer Eltern. Manchmal verpfänden sie ihre Zukunft."
Seine Organisation berate Schuldner aus verschiedensten gesellschaftlichen Gruppen, erzählt David Kochmeister. Um die ganz Armen kümmere sich der Staat. "Paamonim" betreue vor Allem Israels Mittelschicht.
"Die Angaben des nationalen Versicherungsinstituts oder der offiziellen Veröffentlichungen zeigen, dass das Ausmaß der Armut kleiner wird, d.h. die Anzahl der Armen im Staat verringert sich in Prozent betrachtet. Andererseits ist ein weiteres Phänomen zu beobachten: die Armut derjenigen, die als arm gelten, wird größer."

Frieden und Palästinenser spielen im Wahlkampf keine Rolle

Zu Besuch bei Familie Rechnitz im Norden von Tel Aviv. Statistisch gesehen stehen Tali und Guy Rechnitz mit ihren drei Kindern für die durchschnittliche jüdisch-säkulare Familie. Der 46-Jährige Guy ist im Marketing der Luftfahrtgesellschaft El Al tätig. Seine Frau Tali ist Heilpraktikerin und 43 Jahre alt. Sie sind Durchschnittsverdiener und kommen im teuren Tel Aviv finanziell zu Recht. Viel zurücklegen, können wir aber nicht, erzählt Guy. Den Wahlkampf in Israel findet er eher langweilig. Es geht doch nur um Persönlichkeiten, sagt Guy. Unser Problem mit den Palästinensern ist im Wahlkampf zweitrangig.
"Ob das ein Thema bei den Wahlen ist? Nein! Den Punkt, wie Frieden erreicht werden soll, habe ich noch nicht gehört. Alle wollen, aber es ist in der Ferne und die Situation ist derart kompliziert, dass nicht mal sicher ist, mit wem Frieden geschlossen werden soll: ob mit den Palästinensern, oder mit dem Libanon, oder Syrien? Seit dem arabischen Frühling haben sich die Dinge hier grundlegend verändert."
Guy wünscht sich Frieden in der Region und für seine Kinder eine Zukunft, in der Sicherheitspolitik nicht mehr alles überlagert.
"Uns wird immer das Gefühl vermittelt, dass wir uns in einer Situation befinden, in der wir mit dem Schlimmsten rechnen müssen. Das ist eine raue Umgebung. Unsere Nachbarn sind nicht einfach und soziale Themen werden aufgeschoben. Die Verteidigung steht auf der Agenda immer ganz oben. Das ist schade. Ich würde mir wünschen, dass etwas anderes da drüber steht. Oder, dass wir uns mit Freizeitthemen beschäftigen können. Dass die Nachrichten mal über eine Katze auf einem Baum berichten."
Guys Frau Tali sieht eine zunehmende Spaltung in der israelischen Gesellschaft. Zwischen rechts und links, streng-religiös und säkular, arm und reich.
"Ich möchte eine Repräsentanz sowohl für mich, die ich in Tel Aviv wohne, als auch für jemanden, der in Netivot oder in Herzeliya lebt. Was ich damit meine ist, dass alle repräsentiert werden sollen. Denn momentan fühlt es sich nicht so an. Es fühlt sich eher so an, dass das Eine gesagt aber das Andere getan wird und kein Zusammenhang zwischen beidem besteht."

Keine der jüdischen Parteien will mit arabischen koalieren

Mohamad Zidan sitzt vor einem Cafe in der Altstadt von Nazareth. Mohamad ist arabischer Israeli und einer von rund 550 000 Wahlberechtigten aus dieser Bevölkerungsgruppe. An Wahlen für das israelische Parlament hat der 52-Jährige noch nie teilgenommen. Trotzdem wird er am Tag des Urnenganges in der Nähe von Wahllokalen sein.
"Am 9. April werde ich vor Allem in meinem Dorf unterwegs sein und versuchen die Leute zu überzeugen, dass sie nicht wählen. Es geht hauptsächlich darum, Leute, die normalerweise an den israelischen Parlamentswahlen teilnehmen, zu überzeugen, dass sie diesmal nicht wählen."
Während in den ersten Jahrzehnten nach der Staatsgründung die arabischen Israelis in großer Zahl wählten, nimmt die Wahlbeteiligung mittlerweile beständig ab. Viele arabische Israelis fühlen sich als Bürger zweiter Klasse, diskriminiert von einem Staat und einem politischen System, die sie zwar wählen, aber de facto nicht mitbestimmen lassen. Das sieht nur von außen aus wie Demokratie, sagt Mohamad Zidan.
"Keine der jüdisch-israelischen zionistischen Parteien ist bereit, mit arabischen Abgeordneten zu koalieren. Keine. Nicht mal die Meretz-Partei, die ganz links außen steht, sagt, dass die Araber Teil einer Koalition beziehungsweise des Entscheidungs-Prozesses sein können."
Abgeordnete der Knesset stimmen über das israelische Nationalstaatsgesetz ab.
Abgeordnete der Knesset stimmen am 19. Juli 2018 über das israelische Nationalstaatsgesetz ab.© AFP / MARC ISRAEL SELLEM
Das Nationalstaatsgesetz, das im vergangenen Jahr verabschiedet wurde, empfinden die arabischen Israelis mehrheitlich als diskriminierend. Das Gesetz schreibt einzig dem jüdischen Volk ein Selbstbestimmungsrecht in Israel zu und stuft Arabisch von einer Amtssprache herab zu einer sogenannten Sprache mit speziellem Status. Premier Netanjahu fasste das Gesetz so zusammen, dass Israel nicht der Staat aller seiner Bürger sei. Dem Nationalstaatsgesetz zufolge, sagte Netanjahu, sei Israel der Staat der Juden und von niemandem sonst.

Zwei Sitze mehr für arabische Parteien machen Unterschied

Das Nationalstaatsgesetz ist für den arabischen Israeli Mohamad Zidan ein Beleg mehr, dass sein Wahlboykott richtig ist. Für Sondos Saleh ist das Gesetz ein Grund mehr, sich politisch zu engagieren. Die 32-Jahre alte Lehrerin aus der Nähe von Nazareth kandidiert für eine der arabischen Parteien und hat einen aussichtsreichen Listenplatz.
"Ich fühle mich als Araberin von dieser Regierung diskriminiert – in der Wirtschaft, der Politik und kulturell. Das muss sich ändern und die Politik ist die Plattform dafür – auch um Gesetze zu ändern, die ich als rassistisch empfinde. Es gibt eine Kluft, die überbrückt werden muss – auf internationaler Ebene – aber auch von der arabischen Gesellschaft hier in Israel."
Sondos kennt viele israelische Araber, die diese Parlamentswahlen boykottieren wollen.
"Wir reden hier von zwei Gruppen. Zum einen von Menschen, die das israelische Parlament und eine Beteiligung der Araber daran grundsätzlich und aus ideologischen Gründen ablehnen. Wir respektieren das und versuchen nicht, diese Leute zu überzeugen. Die andere Gruppe sind Menschen, die glauben, dass arabische Parteien in der Knesset nichts ausrichten und den Alltag der arabischen Minderheit nicht verbessern können. Diese Leute versuchen wir gezielt in den Dörfern und Städten anzusprechen und sie davon zu überzeugen, dass sie wählen. Wenn die arabischen Parteien im letzten Parlament nur zwei Sitze mehr gehabt hätten, wäre das Nationalstaatsgesetz nicht verabschiedet worden. Das zeigt wie wichtig es ist, zu wählen."

Mit 68 Jahren arbeiten, um Kindern zu helfen

Früher Vormittag im Gan Hair-Einkaufszentrum im Zentrum von Tel Aviv. Die 68-Jährige Shulamit hat es eigentlich eilig, aber dann platzt es förmlich aus Ihr heraus. Shulamit ist jüdische Israeli. Über viele Jahre hatte sie ein kleines Geschäft in Jaffa. Von der aktuellen Regierung hat sie die Nase voll.
"Ich muss mit meinen 68 Jahren arbeiten gehen, um meine Kinder finanziell zu unterstützen, da sie mit ihren vier Kindern und obwohl sie beide berufstätig sind, es nicht bis zum Ende des Monats schaffen. Wenn ich ihnen nicht helfe, können sie nicht leben. Heutzutage ist es nicht mehr möglich vier Kinder in Israel aufzuziehen. Also muss ich mit meinen 68 Jahren arbeiten gehen, um meinen Kindern zu helfen."
Das Gesundheitssystem sei eine Schande schimpft Shulamit. Sie müsse monatelang auf einen Arzttermin warten, aber der Staat investiere nur in die Armee und die Siedlungen in den besetzten palästinensischen Gebieten. Wenn man Shulamit aber auf den Kandidaten Benny Gantz anspricht, gerät sie ins Schwärmen.
"Wir kennen ihn noch nicht richtig. Wir wissen nicht viel über ihn. Aber er strahlt für mich den 'Offizier und Gentleman' aus und dafür wird er meine Stimme bekommen und die Stimmen meines Mannes und meiner Kinder und meiner Enkeltochter, die das erste Mal wählen darf. Wir alle werden ihm unsere Stimme geben, denn wir sehen, was wir jetzt haben. … Ich hab genug davon. Wir wollen etwas anderes."

Trumps Wahlkampfgeschenke

Doch Benjamin Netanjahu hat an diesem Morgen im Einkaufszentrum auch etliche Fans, so wie diesen älteren Herrn, der Netanjahu beim Spitznamen nennt.
"Bibi Netanjahu hat sich als ein Politiker bewiesen, der für Israel sowohl im Bereich der Wirtschaft als auch in der Außenpolitik und der Sicherheit Dinge erreichte, deren Umsetzung keinem Politiker vor ihm gelungen sind. Und die jüngste Anerkennung der Golanhöhen ist auch Bibi gutzuschreiben."
Dass US-Präsident Trump die Golan-Höhen, die Israel 1967 von Syrien eroberte, als israelisches Staatsgebiet anerkannte, wird in Israel von den Anhängern und den Gegnern Netanjahus als Wahlkampfgeschenk für den Amtsinhaber empfunden.
Für Bibi Netanjahu, der bereits von 1996 bis 1999 Israel regierte und nun seit 2009 im Amt ist, geht es in diesem Wahlkampf ums politische Überleben. Aber selbst wenn er die Wahlen gewinnt und ihm eine Regierungsbildung gelingen sollte, sind die Korruptionsvorwürfe immer noch da.
Falls Israels nächster Regierungschef Benny Gantz heißen sollte, ist überhaupt nicht erkennbar, was das politisch für die Zukunft des Landes bedeutet. Angesichts der unsicheren Gesamtlage in der Region und des ungelösten Konflikts mit den Palästinensern scheint nur eines klar: Sicherheitspolitik wird in Israel auch künftig wahlentscheidend sein.
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