Lyrik

Welt in Verwandlung

Von Michael Opitz · 10.02.2014
Mit Witz und einem Gefühl für Bedeutungsspiele ist Uljana Wolf in ihren Gedichten dem Verstehen auf der Spur. Dabei zitiert die Lyrikerin Märchen - und auch andere Sprachakrobaten.
Mit dem Motto, das die 1979 in Berlin geborene Lyrikerin Uljana Wolf ihrem jüngst erschienenen Lyrikband "meine schönste lengevitch" vorangestellt hat, bezieht sie sich auf die Sprache. Es handelt sich um ein Zitat aus Édouard Glissants "Die Kunst des Übersetzens":
"Eine Spur in die Sprache legen heißt, eine Spur ins Unvorhersehbare unserer nun gemeinsamen Lebensbedingungen zu legen."
Rätselhaft bleibt das darunter stehende zweite Zitat:
"Wo aber ist die Ziege hingekommen, die Schuld war, dass der Schneider seine drei Söhne fortjagte?"
Gemeint ist die Ziege aus Grimms Märchen "Tischlein deck dich". Die wird stets satt, behauptet aber dennoch das Gegenteil.
In diesem Märchen tritt auch ein Esel auf, der aus Maul und Hinterteil Golddukaten fallen lässt, wenn das Zauberwort "Bricklebrit" gesagt wird. Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet so das erste Kapitel von Wolfs Lyrikband heißt, der sich in insgesamt sechs Kapitel gliedert. Im ersten Gedicht "abschied von bricklebrit" wird der in die Jahre gekommene Esel erwähnt, der keine Golddukaten mehr gibt und der auch keine Lasten mehr tragen will. Stumm ist er, und dicht stehen seine Zähne, die das lyrische Ich an Gedichtzeilen erinnern, beieinander.
Das lyrische Ich muss den Esel erst mit einem Zauberwort dazu bewegen, das Maul aufzumachen. Auf einen solchen Weckruf ist auch das Gedicht angewiesen, denn erst dann gibt es seine im Verborgenen liegenden Bedeutungen preis. Verstehen ist in Uljana Wolfs neuen Gedichten ein Schlüsselbegriff.
Zauberhaft und schwebend
Was für eine zauberhafte und den Leser verzaubernde Eselei ist der Lyrikerin, die auch als Übersetzerin arbeitet, da gelungen. Mit Witz und mit einem außerordentlichen Gefühl für Sprach- und Bedeutungsspiele tastet sie sich in jene Bereiche der Sprache vor, in denen die Wörter ihren Bedeutungsreichtum entfalten. "sist zappenduster im gedicht", lautet die erste Zeile des Gedichts "kleine sternmullrede", in dem es weiter heißt: "welche sprache es wohl spricht". Sicher scheint, dass es eine andere als die der im Märchen so frech lügenden Ziege ist. Aber wer weiß das schon genau, denn in jedem Gedicht wacht ein Grenzhund über das Gesagte.
In welcher Sprache ist man zu Hause? Diese Frage beschäftigt die in Berlin und in New York lebende Uljana Wolf. Sie weiß sich der Lyrikerin Nelly Sachs verbunden, die in Schweden lebte und aus dem Schwedischen ins Deutsche übersetzte, aber nur in ihrer Muttersprache dichtete. Wolf zitiert sie mit den Zeilen: "Anstelle von Heimat / halte ich die Verwandlungen der Welt."
Die sich verwandelnde Welt ruft Uljana Wolf in ihren schwebend daherkommenden Gedichten auf. Geschrieben sind sie in ihrer "schönsten lengevitch" (engl. language = Sprache), wobei sie einen Gedanken von Kurt M. Stein aufgreift, der 1925 ein Gedicht mit dem Titel „Die schönste lengevitch“ veröffentlichte.

Uljana Wolf: meine schönste lengevitch
Gedichte
Kookbooks, Berlin 2013
84 Seiten, 19,90 Euro

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