Lyrik ohne Attitüde

17.06.2013
Sämtliche Gedichte von Thomas Brasch liegen in "Die nennen das Schrei" werkchronologisch vor - darunter 188 bisher unveröffentlichte. Der Band ist eine Einladung, den 2011 verstorbenen Autor wieder zu lesen, und erweist sich als unverzichtbare Arbeitsgrundlage für alle Brasch-Forscher.
Thomas Brasch hat als Lyriker ("Der schöne 27. September"), Prosaautor ("Vor den Vätern sterben die Söhne"), Dramatiker ("Rotter"), Übersetzer (Tschechow und immer wieder Shakespeare) die deutsche Literatur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entscheidend geprägt. Als Filmregisseur ("Engel aus Eisen") hat er dem deutschen Nachkriegsfilm entscheidende Impulse verliehen.

Der 1945 geborene Thomas Brasch konnte unnachgiebig, gar schroff sein. Seine hart anmutende Schale aber war nur Schutz, eine Art Maske, denn ihm ging buchstäblich alles unter die Haut. Dem zarten, melancholischen, am Lauf der Geschichte Verzweifelnden, dem Liebenden, der andere verletzte, dem Traurigen, der den Schmerz nie zur Pose werden ließ, begegnet man unverstellt in seinen Gedichten.

"Die schweigen wollen, müssen reden / Keiner für sich Jeder für jeden",

heißt es in seinem Gedicht "Schlimmer Traum". Nichts ist in Braschs lyrischen Texten Attitüde.

Thomas Braschs Gedichte liegen nun in einem werkchronologisch gegliederten Band gesammelt vor. Er erweist sich als eine Einladung, Brasch wieder zu lesen.Wobei man bislang unbekannten Seiten im lyrischen Schaffen des 2001 verstorbenen Autors kennenlernen kann, denn die Ausgabe enthält auch 188 bisher unveröffentlichte Gedichte.

Von Braunkohle- nach Steinkohledeutschland
Eröffnet wird der Band mit Braschs in der Lyrik-Reihe "Poesiealbum" erschienener Sammlung aus dem Jahr 1975. Dabei handelt es sich um Braschs einzigen in der DDR erschienenen Gedichtband. Ein Jahr später wechselte Brasch – er gehörte zu den Erstunterzeichnern der Biermann-Petition – von Braunkohledeutschland nach Steinkohledeutschland.

In der Bundesrepublik veröffentlichte er 1977 den Gedichtband "Kargo. 32. Versuch auf einem untergehenden Schiff aus der eigenen Haut zu kommen" dem 1980 der Band "Der schöne 27. September" folgte. Selbstkritisch heißt es im Titelgedicht: "Ich habe keinen Stein ins Rollen gebracht." Diesen Gedanken greift Brasch in dem Gedicht "Der schöne 27. November" wieder auf, in dem die Einführung eines neuen Telefonfreizeichens als Signal angesehen wird: "Wer sagt noch, hier ändere sich nichts."

Brasch hat nicht das Mögliche, sondern das scheinbar Unmögliche gereizt, auch wenn er ahnte/wusste, es würde wohl Utopie bleiben. Um dem Hoffen, an dem der Fluch des Misslingens haftete, Ausdruck zu verleihen, genügten ihm zwei Zeilen, wie in dem Gedicht "Asche und Diamant":

"Der blaue Himmel im Kino und die Welt die nicht / mehr ist, wie sie nie war."

Die vorzüglich edierte und sorgsam von Martina Hanf und Kristin Schulz kommentierte Ausgabe enthält einen 170 Seiten umfassenden Anmerkungsteil. Was darin akribisch zusammengetragen wurde, adelt diese Ausgabe, die sich als eine unverzichtbare Arbeitsgrundlage für alle Brasch-Forscher erweist. Freude aber werden an ihr auch all jene haben, die zu den Brasch-Interessierten gehören. Sie werden einen Autor entdecken, der zu den wichtigsten deutschsprachigen Lyrikern der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gehört.

Besprochen von Michael Opitz

Thomas Brasch: Die nennen das Schrei. Gesammelte Gedichte
Herausgegeben von Martina Hanf und Kristin Schulz
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013
1029 Seiten, 49,95 Euro
Mehr zum Thema