Sarah Bakewell: "Das Café der Existenzialisten"

Lebenskunst ist kein Zeitgeist-Phänomen

Links: Buchcover von Sarah Bakewells "Das Café der Existenzialisten, rechts: Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre im Jahr 1960.
Links: Buchcover von Sarah Bakewells "Das Café der Existenzialisten, rechts: Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre im Jahr 1960. © C.H.Beck / dpa / picture-alliance / AFP
08.12.2016
Mitreißend und packend wie in einem Roman erzählt "Das Café der Existenzialisten" die Geschichte der Bewegung um Jean-Paul Sarte und Martin Heidegger. Am Anfang von allem stand ein Aprikosencocktail.
Der Existenzialismus und seine Protagonisten Jean-Paul Sarte und Simone de Beauvoir sowie deren Vordenker Edmund Husserl, Martin Heidegger und Karl Jaspers scheinen seit längerem irgendwo in die hinteren, leicht angestaubten Kapitel der Philosophiegeschichte gerutscht zu sein.
Überholt von den französischen Strukturalisten, Postmodernisten und Dekonstruktivisten, die in den 70er- und 80er-Jahren mit Zeichen und Bedeutungen jonglierten und uns vergessen ließen, dass "der Gegenstand der Philosophie alles sein kann, was man erlebt" – also das Leben selbst. Wie lebensnah und lebendig der Existenzialismus tatsächlich ist, zeigt nun die britische Schriftstellerin Sarah Bakewell in ihrem famosen Buch "Das Café der Existenzialisten".
Bescheiden erklärt sie, "die erneute Lektüre der Existentialisten könnte uns frische Perspektiven eröffnen", und führt dann auf vierhundert Seiten derart überzeugend die Strahlkraft dieser Lebensphilosophie vor, dass man gleich selbst zum Existentialisten werden möchte.

Simone de Beauvoir: "Das hat mich umgehauen"

Am Anfang steht eine Szene im Pariser Café Bec de Gaz, wo die damals 25-jährige Simone de Beauvoir mit ihrem Freund Jean-Paul Sartre und dessen Studienfreund Raymond Aron um die Jahreswende 1932/33 zusammensitzen und Aprikosencocktails trinken. Aron, der in Berlin studiert, erzählt von einer neuen philosophischen Richtung, der Phänomenologie, die sich nicht mit abstrakten Theorien und Interpretationen befasst, sondern mit dem, was ist und mit seiner möglichst präzisen Beschreibung.
Aron zeigt auf das vor ihm stehende Glas und sagt zu seinem Freund: "Wenn du Phänomenologe bist, kannst du auch über diesen Cocktail sprechen, und das ist dann Philosophie!" Sartre sei blass geworden und wirkte wie elektrisiert, erzählte Beauvoir später und er selbst erklärte viele Jahre danach in einem Interview: "Das hat mich umgehauen, und ich habe mir gesagt: Das ist Philosophie."
Welche Folgen dieses Erweckungserlebnis für Sartre und seine Gefährtin Simone de Beauvoir hatte, veranschaulicht Sarah Bakewell mitreißend und packend wie in einem Roman. Ob sie einzelne Werke und deren Bedeutung vorstellt oder von den Kriegsjahren in Paris erzählt, und den Leser in eine kalte Wohnung mitnimmt, in der Simone de Beauvoir ein Stück madiges Schweinefleisch zerkocht, während Sartre in Kriegsgefangenschaft sitzt und erstaunlicherweise die Beschränkungen, die seine Situation mit sich bringt, produktiv für sich nutzen kann.
Ausführlich zeigt Bakewell auch die Voraussetzungen des Existenzialismus, indem sie von Edmund Husserl und seinem Schüler Martin Heidegger erzählt, und ihr damit wie nebenbei auch noch ein Lehrstück über den universitären Philosophiebetrieb im Nationalsozialismus gelingt.

"Wie soll ich leben?"

Überhaupt ist das Großartige an diesem Buch, wie elegant und leicht Sarah Bakewell Biografisches, Philosphisches und Gesellschaftliches miteinander in Verbindung setzt und noch die komplexesten Theorien anschaulich macht. Ihre Definition von Existenzialismus als einer Denk- und Lebensart, die sich mit der "individuellen, konkreten, menschlichen Existenz" befasst, ist auch das Stilprinzip ihres Buches, das die Ideen der Philosophen stets mit biografischen Momenten verknüpft.
Auch Sarah Bakewell selbst erinnert sich an eine solche Initialzündung: Auf einem Foto ist sie als 16-jährige mit Rollkragenpullover und einem Buch von Sartre in der Hand zu sehen. Das war ihr Aprikosencocktail, der das Denken in eine andere Richtung lenkte.
Schon in ihrem vor vier Jahren erschienen Buch "Wie soll ich leben?" über Michel de Montaigne hat Sarah Bakwell gezeigt, wie leicht und lebendig man komplexe Gegenstände vergegenwärtigen kann. Noch prägnanter als bei Montaigne (für den die antike Lebenskunst auch eine große Rolle spielte) zeigt sie in ihrem Streifzug durch das facettenreiche Leben und Werk der Existentialisten, dass echte Lebenskunst kein Zeitgeist-Phänomen aus dem Ratgeber-Regal ist, sondern eine Tradition hat, deren Wiederbelebung sich lohnen würde.

Sarah Bakewell: "Das Café der Existenzialisten. Freiheit, Sein & Aprikosencocktails"
C.H.Beck
448 Seiten mit Abbildungen, 24,95 Euro

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