Luke Dittrich: "Der Patient H.M."

Ein Versuchskaninchen der Gedächtnisforschung

Buchcover im Vordergrund, im Hintergrund schwarzes Profil eines Kopfes, aus dessen Hinterkopf Vögel fliegen.
Der Neurochirurg William Scovill entfernte einem Epilepsie-Patienten große Teile des Gehirns, was zu großen Folgeschäden führte. © Herbig Verlag / Ikon Images, Imago
Von Susanne Billig · 09.01.2019
"Gedächtnisverlust" lautet die Diagnose für Henry Gustav Molaison im Jahr 1953. Als „Patient H.M.“ avancierte er zum Versuchskaninchen. Dessen Geschichte erzählt Luke Dittrich teils fiktiv – und persönlich. Der behandelnde Arzt war Dittrichs Großvater.
Als junger Mann litt Henry Gustav Molaison schwer unter Epilepsie. Eine Gehirnoperation sollte sein Leiden lindern, doch die Folge war ein fataler Gedächtnisverlust. Wie aus ihm "Der Patient H.M." wurde, der meist untersuchte Mensch der Gedächtnisforschung, beschreibt Luke Dittrich aus einer ganz besonderen Perspektive: Der Arzt, der am 1. September 1953 Molaisons Kopf aufschnitt, war Dittrichs Großvater, William Scoville.
Beklemmend schildert sein Enkel das Treiben der frühen Neurochirurgen, wie sie die Köpfe hunderter Menschen aufsägten, anbohrten oder testweise auch mal mit einem Eispickel durch die Augenhöhle zum Gehirn vordrangen, daraus Strukturen schnitten oder saugten, von deren Bedeutung sie keine Ahnung hatten, und sich gegenseitig mit vollmundigen Heilungsversprechungen übertrumpften.
Viele Opfer verstarben oder blieben mit massiven Beeinträchtigungen zurück. Besonders bedrückend: Vor allem Psychiatrieinsassinnen wurden Opfer solcher Prozeduren. Nach ihrer Zustimmung musste damals niemand fragen. Ärzte wie Angehörige hofften auf brave, anpassungswillige Ehefrauen und Töchter.

Molaison nahm an abertausenden Studien teil

In einer dramatischen Szene schildert Luke Dittrich, wie Henry Molaison sein Gedächtnis verlor: Scoville entfernte bei ihm mehr Gewebe als je zuvor – weite Teile der Großhirnlappen, des Hippocampus und der Amygdala, wichtigen Schaltstationen der Emotionsverarbeitung. Molaison, von nun an außerstande, neue Ereignisse in seinem Langzeitgedächtnis zu speichern, wurde zum wichtigsten Versuchskaninchen der Gedächtnisforschung und nahm an abertausenden von Studien teil – ohne jeden Überdruss, denn mangels Gedächtnis schien ihm jede Frage neu und überraschend.
Wo und auf welche Weise bringt das Gehirn geistige Leistungen hervor? Wie lässt sich das geheimnisvollste aller Organe erforschen und wie weit dürfen Wissenschaftler gehen? Wo endet medizinische Fürsorge, wo beginnt der Missbrauch von Menschen zu Karriere- und Forschungszwecken? Lassen sich Verbindungslinien von der frühen Neurochirurgie zu den dunkelsten Kapiteln der medizinische Forschung ziehen, zu den an Brutalität kaum zu überbietenden Experimenten von Ärzten in Konzentrationslagern?
Gekonnt hält Luke Dittrich diese Fragen in der Schwebe und reichert seine Geschichte gleichzeitig mit vielen persönlichen Interviews, privaten Verwicklungen und Hintergründen an.

Weite Strecken frei erfunden

Doch sein eleganter und packender Stil birgt auch das größte Problem dieses Buches: Über weite Strecken verwandelt Luke Dittrich das Sachthema um den Patienten H.M. in lebhafte, allerdings frei erfundene Szenen. Er ersinnt Situationen, Begegnungen und Dialoge, kriecht in Köpfe, scheint durch Türen schauen und in Familiengeheimnisse blicken zu können.
Doch hat sich das alles wirklich genau so zugetragen? Der Autor macht nicht kenntlich, wo er sichere Fakten liefert und wo er bloße Vermutungen anstellt. So muss man sich, ob man möchte oder nicht, lesend mitreißen lassen – das ist bei einem Buch, das für den mündigen Menschen plädiert, dann doch ein wenig schade.

Luke Dittrich: Der Patient H.M.
Eine wahre Geschichte von Erinnerung und Wahnsinn
Aus dem Amerikanischen von Pascale Mayer
Herbig Verlag, Stuttgart 2018
464 Seiten, 24 Euro

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