Luigi Amara: "Die Perücke"

Die Ambivalenz künstlicher Haare

Buchcover Luigi Amara "Die Perücke"
André Agassi trat mit künstlicher Langhaarmähne vor dem internationalen Tennispublikum auf. © Berenberg Verlag/ dpa picture alliance/ Markus C. Hurek
Von Tabea Grzeszyk · 16.05.2017
In "Die Perücke" veranstaltet der Essayist und Verleger Luigi Amara einen grandiosen Ritt durch die Jahrhunderte dieser Haarkunst. Das negative Image lässt er hinter sich. Amara hegt vielmehr eine Leidenschaft für das utopische Versprechen, das in der Künstlichkeit liegt.
Angeblich ist es dem frühzeitigen Haarausfall Ludwigs XIII. geschuldet, dass das Kunsthandwerk der Perückenmacher ab der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts einen kometenhaften Aufstieg nahm: Über zwei Jahrhunderte definierten künstliche Lockenschöpfe als "Wahrzeichen edler Abstammung und raffinierten Geschmacks" das Streben nach gesellschaftlicher Anerkennung und Zugehörigkeit. Zu Hochzeiten des europäischen Perückenfiebers unter Ludwig XIV. soll es über einhundert Modelle gegeben haben, deren oft verheißungsvolle Namen wie "Venus-Perücke" oder "Caracalla-Perücke" eine Idee vom erotisch-identitätsstiftenden Potenzial jener Haarberge vermitteln. Bis heute wirkt die aristokratische Abstammung der Perücke nach, wenn etwa in Großbritannien Richter nach ihr greifen, bevor sie ein Urteil verkünden.
Gespickt mit fantastischen Anekdoten und Wendungen der Geschichte vermisst der Mexikaner Luigi Amara die Karriere der künstlichen Haarbedeckung – vom Gebrauch von Kunsthaar im alten Ägypten bis zur Kunst einer Cindy Sherman. Amaras in losen Essays und (anti-)philosophischen Abhandlungen verfasste Geschichte der Perücke macht deutlich, welche Ambivalenz in den künstlichen Haaren bis heute steckt. Denn seitdem die Französische Revolution die Perücke als Requisit der verhassten Aristokratie brandmarkte und aus dem post-revolutionären Frankreich verbannte, haftet ihr ein negatives Image als niederer Gegenstand an. Natürlichkeit gegen Künstlichkeit, Authentizität gegen Verstellung, ein ganzes Regime an Dualismen rückt sie seither als Königin der Übertreibung in ein schlechtes Licht.

In eine andere Rolle schlüpfen

Es ist dem Essayisten, Dichter und Verleger Luigi Amara zu verdanken, dass er mit seiner kaum verborgenen Leidenschaft für das utopische Versprechen einer sich selbst ermächtigenden Künstlichkeit, wie sie die Perücke verspricht, den Gang der Geschichte in neuem Licht erzählt. Aus nahezu allen Jahrhunderten stammen seine Beispiele, wie sich Menschen der Perücke bedienten, um "in eine andere Rolle" zu schlüpfen, die ihnen ansonsten gesellschaftlich versagt geblieben wäre. Von Messalina, der nymphomanisch veranlagten Gattin von Kaiser Claudius, die nur mit einer safranfarbenen Perücke bekleidet ein Doppelleben als "Wölfin der Nacht" auslebte. Bis zu André Agassi, der dem Autor zufolge, unmöglich sein Image als "draufgängerischer Abweichler" hätte etablieren können, wenn er sich nicht mit seiner vor Virilität strotzenden künstlichen Langhaarmähne vor dem internationalen Tennispublikum präsentiert hätte.
Leser dieses grandiosen Ritts durch die Jahrhunderte der Perückenkunst werden beim Anblick des orangefarbenen Haarschopfs von Donald Trump oder der tiefschwarzen Fülle des chinesischen Präsidenten Xi Jinping längst wissen, wohin der Hase läuft: Folgt man den historischen Betrachtungen Luigi Amaras, folgt auf eine Renaissance des Kunsthaars der Untergang eines Imperiums. Ein Hoch auf die Perücke! Es lebe die Künstlichkeit!

Luigi Amara: Die Perücke
Übersetzt von Peter Kultzen
Berenberg, Berlin 2017
221 Seiten, 24 Euro

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