Kindesmissbrauch

Lügendetektoren im Einsatz vor Familiengerichten

29:54 Minuten
Ein Polygraf, auch Lügendetektor genannt, in einem Verhandlungssaal eines Amtsgerichts
Ein fast schon antiquierter Polygraph in einem Amtsgericht: Heute werden meist Apps benutzt. © picture alliance / dpa-Zentralbild / Sebastian Kahnert
Von Tom Noga · 19.09.2022
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Wird eine Mutter oder ein Vater des Kindesmissbrauchs beschuldigt, muss ein Familiengericht die Schuldfrage klären. Auch in Deutschland werden dazu immer häufiger Polygraphen, also Lügendetektoren, eingesetzt. Doch wie verlässlich sind diese Geräte?
Ein Einfamilienhaus im sauerländischen Sundern. Ein großes weißes Schild mit der Aufschrift „Forensik“ und ein Pfeil weisen Jonas und mir den Weg zu einem Nebeneingang im Souterrain. Hier will Jonas einen Test am Polygraphen machen, am Lügendetektor.
Wir betreten einen wohnzimmergroßen quadratischen Raum. Es riecht muffig, nach Keller. An einer Wand ein Schreibtisch mit Laptop und PC. Vorm Fenster mit Blick in den Garten ein weiterer Tisch. Darauf ein Gerät mit einem Dutzend Drehknöpfen und einer Papierrolle. Eine Mischung aus Schreibmaschine, Nadeldrucker, Mischpult und medizinischem Monitor. Ein Lügendetektor, wie man ihn aus amerikanischen Filmen der 50er- und 60er-Jahre kennt. Jonas setzt sich auf ein verschlissenes Ledersofa. Holger Leutz, ein kleiner quirliger Mann, auf einen Bürostuhl gegenüber.
Leutz: „Was kann ich für Sie tun?“
Jonas: „Es geht um einen Sorgerechtsstreit. Meine Ex-Partnerin wirft mir sexuellen Missbrauch vor. Und ich möchte gerne klären, dass da nichts dran ist, das möchte ich feststellen.“
Leutz: „Welches Ziel?“
Jonas: „Also das Ziel ist, das zu entkräften. Es ist nie etwas passiert. Es wird mir vorgeworfen, seit zweieinhalb Jahren, dass ich meine Tochter missbraucht hätte. Das möchte ich entkräften.“
Jonas heißt in Wirklichkeit anders. Anonymität war und ist die Bedingung, dass er mit mir spricht.
Leutz: „Welche relevanten Fragen soll ich Ihnen denn stellen?“
Jonas: „Also, dass ich nie etwas mit meiner Tochter gemacht habe, nie etwas Unsittliches.“
Leutz: „Wir sollten die Fragen konkret formulieren. Dann würde ich Ihnen vorschlagen zu fragen: Gab es jemals sexuelle Übergriffe durch Sie an ihrer Tochter? Ja, damit wir da strafrechtlich sauber sind. Das bedeutet: Sie haben Ihre Tochter niemals in irgendeiner Weise sexuell missbraucht.“
Jonas: „Ja. Ja.“

Hoffnung auf Entlastung vor Gericht

Jonas und seine Ex-Freundin teilen sich das Sorgerecht für die 5-jährige Tochter. Nachdem die Mutter Jonas sexuellen Missbrauch des Kindes vorgeworfen hatte, ordnete das Familiengericht an: Der Vater darf es nur noch einmal pro Woche sehen, dreieinhalb Stunden in Begleitung einer Sozialarbeiterin. Eineinhalb Jahre lang ging das so. Seit einem halben Jahr sehen die beiden sich wieder öfter und allein - nachdem eine ärztliche und psychologische Untersuchung des Kindes keine Hinweise auf Missbrauch ergeben hat. Übernachten darf das Mädchen immer noch nicht wieder beim Vater. Weil Jonas sich mehrtägige Besuche und Normalität für die Vater-Tochter-Beziehung wünscht, macht er heute einen Polygraphentest – zu seiner Entlastung vor Gericht.
Holger Leutz platziert Jonas auf einem Stuhl. Er legt ihm eine Blutdruckmanschette an, steckt ihm eine Fingerklemme auf und spannt Gurte mit Sensoren über seine Brust. Gemessen und aufgezeichnet werden Atemfrequenz, Puls, etwaiges Zittern, Änderungen des Hautwiderstandes zum Beispiel durch Schwitzen und der Blutdruck. Auf der Sitzfläche ein verkabeltes Kissen. Es registriert jede Bewegung. Alle Kabel laufen in eine Art Modem, das mit einem Laptop verbunden ist.
Das Polygraphie-Gerät auf dem Tisch vorm Fenster „ist von gestern“, sagt Leutz, „heute arbeiten die meisten mit einer App. Polygraph heißt nichts anderes als Vielfach-Messgerät oder Mehrkanal-Messgerät, wobei das vegetative Nervensystem eingemessen wird, während eine eng strukturierte Befragung durchgeführt wird, in der man sich nur mit Ja oder Nein äußern kann. Sinn und Zweck der Sache ist es, zu evaluieren, inwiefern eine Person Fragen wahrheitsgemäß beantwortet oder lügt. Deswegen sagen wir auch Lügendetektor dazu. Ich finde diesen Begriff unangemessen, ich würde eher sagen Tatdetektor.“
Nahaufnahme eines Polygraphen, auch Lügendetektor genannt.
"Polygraph heißt nichts anderes als Vielfach-Messgerät oder Mehrkanal-Messgerät, wobei das vegetative Nervensystem eingemessen wird, während eine eng strukturierte Befragung durchgeführt wird", erklärt der Privatdetektiv Holger Leutz.© imago / Sven Simon
Leutz ist Privatdetektiv. Seine Zusatzausbildung zum Polygraph Examiner, zum Polygraphenprüfer, hat er in Israel gemacht. Voraussetzung dafür: ein akademischer Grad und ein Abschluss in Psychologie. Auch in den USA und in Japan werden solche Kurse angeboten. Dort und auch in einigen osteuropäischen Staaten verwenden Ermittlungsbehörden häufig Polygraphentests.

Zwei gängige Testverfahren

Es gibt zwei gängige Testverfahren: Beim Tatwissenstest fragt der Prüfer nach Einzelheiten eines Tatgeschehens, die nur der Täter kennen kann. Das andere Verfahren, den Kontroll- oder Vergleichsfragentest, wendet Leutz bei Jonas an.
Er erklärt: „Da gibts dann irrelevante Fragen, Kontrollfragen und relevante Fragen. Irrelevante Fragen sind solche, die mit dem Test nichts zu tun haben. Die sollen den Körper an die Testgegebenheiten gewöhnen. Zum Beispiel: Sitzen Sie auf einem Stuhl? Die werden also so formuliert, dass sie grundsätzlich mit Ja zu beantworten sind. Die Testperson kann also nicht lügen. Daher kriegt das Messinstrument schonmal Referenz-Messwerte, um zu vergleichen, wie sieht es aus, wenn die Testperson unter Prüfungsbedingungen die Wahrheit sagt. Das wechselt sich ab mit diesen sogenannten Kontroll- oder Vergleichsfragen, in denen der Polygraph Examiner eine Lüge forciert“, so Leutz.
„Somit haben wir dann Messwerte, die aufzeigen, wie sieht es aus, wenn in derselben Situation gelogen wird. Diese Messwerte vergleicht dann das System mit den relevanten Fragen. Und das sind, in denen wir die Wahrheit nicht kennen.“
Leutz: „So, jetzt bitte nicht mehr bewegen, den Körper geradeaus die Wand angucken, die Augen bleiben geöffnet.“
Leutz: „Werden Sie mir im Test alle Fragen wahrheitsgemäß beantworten?“
Jonas: „Ja.“
Leutz: „Sind Sie ein geschickter Lügner und Betrüger?“
Jonas: „Nein.“
Leutz: „Gab es jemals sexuelle Übergriffe durch Sie an ihrer Tochter?“
Jonas: „Nein.“
Leutz: „Haben Sie manchmal Gewaltfantasien und drohen die Kontrolle zu verlieren?“
Jonas: „Nein.“
Jonas sitzt mit dem Rücken zu mir. So kann ich nicht sehen, wie er auf die Fragen des Prüfers reagiert. Ohne beteiligt zu sein, macht mich das Tempo nervös, in dem Leutz fragt. Auf seinem Laptop erscheinen Kurven-Diagramme, mal grün, mal rot, mal mit Ausschlägen nach oben, mal nach unten. Alle Fragen hat Leutz vorher mit Jonas besprochen. Das ist Standard. Würde die Testperson durch eine unerwartete Frage überrascht, hätte das Auswirkungen aufs Ergebnis.
Leutz: „Haben Sie sich jemals gegenüber ihrer Tochter in unsittlichen Posen gezeigt?“
Jonas: „Nein.“
Leutz: „Sind wir hier in der Forensik?“
Jonas. Ja."
Leutz: „Erinnern Sie sich jetzt daran, dass Sie doch ausgezeichnet lügen können?“
Jonas: Nein.“

Situation in den USA

1935 kommt der Polygraph in den USA erstmals vor Gericht zum Einsatz: Zwei Männer bestehen den Test nicht und werden des Raubüberfalls auf eine Apotheke in Portage, Wisconsin schuldig gesprochen.

1966 wird die amerikanische Berufsvereinigung der Polygraphen-Prüfer gegründet. Sie legt Ausbildungsstandards fest und macht Öffentlichkeitsarbeit. Heute hat sie rund 2800 Mitglieder.

2018 berichtet das US-amerikanische Magazin „Wired“, dass in den USA jährlich rund zweieinhalb Millionen Polygraphentests durchgeführt werden.

Morrisson Bonpasse, Autor und Geschäftsführer der NGO „BonPasse Exoneration Services“, die sich für unschuldig Inhaftierte einsetzt, hält den Einsatz von Polygraphen vor Gerichten für unbedingt notwendig. In einem 2013 veröffentlichten Aufsatz fasst er die Bedeutung von Polygraphentests in den USA seit 1939 zusammen: 215 Entlastungen gehen demnach auf das „Konto der Lügendetektoren“.

Wie die meisten Polygraphenprüfer hat Leutz hauptsächlich mit vermeintlich untreuen Frauen und Männern zu tun, die ihre partnerschaftliche Ehrlichkeit beweisen wollen. Zunehmend häufig kommen aber auch Männer, seltener Frauen, zu ihm, die in familiengerichtlichen Verfahren des Missbrauchs an ihren Kindern beschuldigt werden.

Gericht ordnet Begutachtung der Familie an

Auch Markus war vor einem Vierteljahr deshalb zum Test bei Holger Leutz. Auch er besteht auf Anonymität und heißt eigentlich anders. Wie Jonas leben er und die Mutter seiner Kinder getrennt. Seine beiden Söhne hat er seit zwei Jahren nicht mehr gesehen. Die Mutter wirft Markus vor, den älteren Sohn missbraucht zu haben. Das Familiengericht hat die Begutachtung der Familie angeordnet. Der Sachverständige, ein Psychologe, soll unter anderem herausfinden, ob Markus eine Gefahr für seine Kinder darstellt.
„Mein Sohn ist zum Tatzeitpunkt vier gewesen, zum angeblichen Tatzeitpunkt. Heute ist er inzwischen sechs Jahre alt und wurde erst mit sechs Jahren das erste Mal vernommen von der Polizei. Da hat er keinerlei Aussagen gemacht, weil es gab ja auch nichts zu erzählen. Bei der zweiten Befragung saß mein Sohn zwischen einem Anwalt und der Mutter, und daraufhin hat er alles zum Besten gegeben, was die Mutter scheinbar wissen wollte oder ihm vorher gesagt hatte. Und beim Rausgehen hat die Polizeibeamtin in ihrem Bericht vermerkt, dass auf dem Flur der Sohn zur Mutter gesagt hat: 'Mama, bist du jetzt stolz auf mich?' "

Die Untersuchung mit einem Polygraphen ist im Sorge- und Umgangsrechtsverfahren ein geeignetes Mittel, einen Unschuldigen zu entlasten.

Oberlandesgericht Dresden, 2013

Mit dem Missbrauchsvorwurf hat die Mutter erreicht, dass die Staatsanwaltschaft gegen Markus ermittelt. Solange die Ermittlungen andauern, ruhen das familiengerichtliche Verfahren und die Begutachtung der Familie. Markus hat die Zeit für einen Polygraphentest genutzt, mit dem er sich vor dem Familiengericht entlasten will. Die Kosten in Höhe von 650 Euro trägt er selbst. Er zeigt mir das Testergebnis.
„R5, haben Sie Ihren Sohn jemals geschlagen oder anders körperlich verletzt? Nein. Glaubhaft bestanden. R7, haben Sie sich jemals in irgendeiner Art und Weise an Ihren beiden Söhnen sexuell vergangen? Nein, habe ich auch bestanden. R10, haben Sie oder andere Personen bildliches Material in irgendeiner Art und Weise mit sexuellem Inhalt von den Söhnen angefertigt? Nein, glaubhaft bestanden. Am Ende des Tests hat er gesagt, Sie sind unschuldig. Mir sind die Tränen aus den Augen geflossen. Ich habe geweint, ich war fix und fertig. Ich habe so geweint.“

Tests auch aus eigener Initiative

Jonas und Markus sind keine Einzelfälle. 2013 entscheidet das Oberlandesgericht Dresden in einem familiengerichtlichen Verfahren: „Die Untersuchung mit einem Polygraphen ist im Sorge- und Umgangsrechtsverfahren ein geeignetes Mittel, einen Unschuldigen zu entlasten."
Seitdem unterziehen sich des Missbrauchs beschuldige Mütter und Väter zunehmend häufig polygraphischen Tests: teils aus eigener Initiative, teils auf Anregung der Gerichte. Die Tests flankieren dabei meist psychologische Gutachten. Vor allem in Sachsen setzen Gerichte auf die Methode.
Den bislang spektakulärsten Fall in Deutschland hat aber 2021 das Amtsgericht Schwäbisch Hall entschieden. Eine Mutter hatte dem Vater Missbrauch ihrer jüngsten Tochter vorgeworfen; später rituelle, also planmäßige und fortgesetzte Gewalt. Außerdem Mord ihrer Tochter aus erster Ehe. Tatsächlich hatte das Mädchen sich selbst getötet. Der Vater konnte sich in dem familiengerichtlichen Verfahren unter anderem mit einem Polygraphentest entlasten. Die gemeinsame jüngere Tochter lebt nun bei ihm.

Ein Beweismittel unter vielen

Ich telefoniere mit einer Familienrichterin, die Polygraphentests für ein geeignetes Werkzeug in Verfahren hält. Ich darf ihren Namen nicht nennen und das Telefonat nicht aufzeichnen. Würde bekannt, dass sie an die Öffentlichkeit geht, drohten ihr in künftigen Verfahren Befangenheitsanträge. Die Richterin spricht aus Erfahrung und rechnet hoch: In einem Drittel aller Verfahren ums Sorgerecht werde Missbrauch behauptet; überwiegend, sie spricht von 95 Prozent, zu Unrecht.
Das stürze sie regelmäßig in ein Dilemma: Denn Kind und Elternteil zu trennen ist nur dann zum Wohle des Kindes, wenn die Behauptung wahr ist. Deshalb setzt sie verstärkt auf Polygraphentests - als ein Beweismittel unter vielen.
„Es gibt eine ganz klare Grenze des Einsatzes eines Polygraphen: nämlich, wenn es darum geht, jemanden zu überführen. Das ist unzulässig nach der deutschen Rechtsordnung. Den Polygraphen einzusetzen, um die Schuld zu beweisen, das geht nicht“, erklärt Holm Putzke, unter anderem Professor für Strafrecht an der Universität Passau.
Diese Grenze – also den Polygraphentest zur Überführung eines Täters zu nutzen - gilt in den allermeisten Staaten weltweit. Die USA sind eine Ausnahme: Dort nutzen einige Bundesstaaten den Polygraphentest als Schuldnachweis; allerdings nur, wenn sich der Angeklagte freiwillig dem Test unterzieht.

Zwei BGH-Urteile zur Polygraphie

In Deutschland definieren zwei Urteile des Bundesgerichtshofs den rechtlichen Rahmen der Polygraphie. 2010 hat der BGH die „Untersuchung mittels eines Polygraphen (Lügendetektor) als ungeeignetes Beweismittel“ eingestuft; unter Verweis auf ein Urteil von 1998: „Nach einhelliger wissenschaftlicher Auffassung ist es nicht möglich, eindeutige Zusammenhänge zwischen emotionalen Zuständen eines Menschen und hierfür spezifischen Reaktionsmustern im vegetativen Nervensystem zu erkennen.“
Strafrechtler Putzke widerspricht. In einem Fachartikel zitiert er den inzwischen emeritierten Psychologieprofessor Harry Dettenborn, der lange Jahre als psychologischer Sachverständiger im Familien- und Strafrecht tätig war. Dettenborn hat einschlägige Fachbücher zum Thema verfasst und meint ebenfalls: Der BGH ist 1998 einer falschen Darstellung der Forschungslage gefolgt.
„Wir haben eine Entscheidung, die schon damals nach meiner Überzeugung auch hätte anders ausfallen können. Inzwischen hat sich aber auch einiges getan. Wir haben zum einen weitere Studien, die die Zuverlässigkeit der Methode wieder belegen, also Indizien dafür liefern. Wir haben aber auch eine Fortentwicklung der Methode. Wir sind ja inzwischen bei KI, der künstlichen Intelligenz. Es gibt weiterführende Methoden, um auch herauszufinden, ob die Wahrheit gesprochen wird oder nicht. Also was zum Beispiel eine Stimmenanalyse oder auch eine Gesichtsscan-Analyse angeht, da gibt es Software und die wertet das dann aus.“

Zweiter Testdurchlauf beginnt

Vor etwa einer Viertelstunde hat Jonas auf dem Stuhl mit verkabeltem Kissen platzgenommen. Den ersten Testdurchlauf bei Detektiv Holger Leutz hat er hinter sich gebracht. Gleich beginnt der zweite. Ob Jonas nervös ist, kann ich nicht erkennen. Er sitzt vollkommen ruhig und starrt die weiße Wand an.
Leutz: „Bleiben Sie weiterhin still sitzen, während ich ein neues Chart anlege, um den Test zu wiederholen. Bis zu fünf Runden können wir fahren. Drei sind die Regel, drei, vier Runden, um die Daten zu validieren, um zu sehen, passiert diese Reaktion immer gleich beziehungsweise so in etwa mit denselben Ergebnissen?“
Mit einem Mouseklick startet Leutz den zweiten Durchlauf. Auf seinem Laptop öffnen sich vier Fenster; darin gezackte Linien, die bei Jonas‘ Antworten nach oben oder unten ausschlagen.
Leutz: „Ich starte jetzt erneut den Test. Ist heute Montag?“
Jonas: „Ja.“
Leutz: „Sitzen Sie auf einem Stuhl?“
Jonas: „Ja.“
Leutz: „Haben Sie sich jemals gegenüber ihrer Tochter unsittlichen Posen gezeigt?“
Jonas: „Nein.“
Ein Messgerät piept, und auf dem Bildschirm des Prüfers blinkt ein rotes Signal. Jonas hat sich bewegt, ganz leicht nur. Ich habe es gar nicht bemerkt.

Tricksen ausgeschlossen?

Online-Foren über Polygraphentests liefern Tipps zum Tricksen: Eine Reißzwecke in den Schuh und bei den relevanten Fragen drauftreten. Oder die Pobacken zusammenkneifen.
Holger Leutz schüttelt den Kopf: „Wenn Sie einen Muskel anspannen während des Tests und nicht komplett entspannt dasitzen, dann sehe ich das an der ganz, ganz bedeutsamen Änderung des kardiovaskulären Systems, also Puls und Blutdruck. Es gibt natürlich noch mehrere Versuche, ich fahre mich so runter, das heißt mental. Sie gucken die kahle Wand an. In den Ermittlungsfragen stellen Sie sich etwas ganz Schönes vor, wie Sie irgendwo am Meer mit Ihrer Familie baden gehen und sind ganz entspannt. Dann verzögert sich von der Zeit her Ihre Antwort, Sie antworten etwas verspätet. Das sehe ich, und das System sieht das auch. Sie könnten sagen, ich nehme mal Beruhigungsmittel, was ganz Starkes, irgendwelche Tranquilizer. Das sind Pegelmedikamente, Sie müssen die wochenlang nehmen, dann bauen Sie erst mal einen Pegel auf. Dann können Sie schon wieder kein Auto fahren. Auch Murks.“
Es gibt Studien zur Zuverlässigkeit von Polygraphen, vor allem aus den USA. Je nach Setting liegt sie zwischen 70 und 98 Prozent. Kritiker bemängeln allerdings, dass diese Studien unter Laborbedingungen entstanden, die Ergebnisse also nur bedingt aussagekräftig sind.
Für Strafrechtler Holm Putzke sprechen die Studien trotzdem für den Einsatz des Polygraphen in Gerichtsverfahren: „Wenn wir einen Umstand haben jenseits des Würfels und jenseits des Zufalls, also jenseits von 50 Prozent, dass jemand unschuldig sein könnte, dann darf man doch diesen Beweis nicht aus dem Feld schlagen und sagen: Das sind jetzt nur 60 Prozent und 40 Prozent Unsicherheit bleiben, wir akzeptieren das nicht. - Alles, was besser ist als der Zufall, muss man doch in bestimmten Beweissituationen nutzen können.“
„Nehmen wir doch einmal andere Methoden, die angewandt werden, zum Beispiel die aussagepsychologische Begutachtung. Wenn wir eine Aussage haben, dann gibt es Sachverständige, und die bewerten die Glaubhaftigkeit der Aussage. Und diese Unsicherheit, die da besteht, ist viel, viel größer, als wenn wir einen Polygraphen haben, der am Ende noch fünf oder zehn Prozent Unsicherheit zurücklässt.“

Kontroverse Diskussion über Vergleichsfragentest

Psychologinnen und Psychologen streiten über den Polygraphen, vor allem über den Vergleichsfragentest. Antworten auf Vergleichs- oder Kontrollfragen zeigen dem Prüfer körperliche Reaktionen der Testperson beim Lügen an.
Klaus-Peter Dahle, Professor für Rechtspsychologie an der Universität Hildesheim, erklärt: „Die Idee besteht darin, Vergleichsfragen zu generieren, die für den Betreffenden als vermeintlich relevante Frage identifiziert sind. Das heißt, ich muss genau das Gleiche thematisieren. Und die Idee besteht jetzt darin, dass ich diese Frage so unscharf formuliere, dass eine zu Unrecht beschuldigte Person nicht sicher sein kann, diese Frage wahrheitsgemäß verneinen zu können. Das sind eine Reihe von Voraussetzungen, vor allen Dingen, dass es mir gelingt, vernünftige Vergleichsfragen zu generieren. Und das Dumme ist: Ich kann nicht kontrollieren, ob mir das gelungen ist.“
Für Dahle ist die Polygraphie also ein Stochern im Nebel: Ob die Vergleichsfragen funktionieren, könne der Polygraphenprüfer nicht wissen. Und bei behauptetem Kindesmissbrauch schwinge im Tatvorwurf vieles mit: Scham, elterliches Versagen, Angst vor sozialer Ächtung, auch sexuelle Unzulänglichkeit. Das in Vergleichsfragen zu bündeln, hält Dahle für nahezu unmöglich.
Nadelausschlag auf Papier eines Polygraphen.
"Ein Stochern im Nebel"? - Nicht alle vertrauen auf die Ergebnisse der Befragung mithilfe eines Polygraphen.© imago images / CSP_artbyallyson
„Das Umgekehrte ist der Fall. Das, was emotionsbesetzt ist, wird besonders gut behalten“, sagt Gisela Klein. Sie arbeitet seit 30 Jahren hauptberuflich als gerichtliche Sachverständige in Straf- und Familiensachen. Sie hat weit mehr als eintausend polygraphische Begutachtungen durchgeführt und sagt. In den letzten Jahren beobachtet sie eine steigende Nachfrage: seit rund fünf Jahren etwa ein Drittel mehr Tests als vorher. Gemeinsam mit Udo Undeutsch, einem entschiedenen Verfechter der Methode, hat sie 1998 beim BGH versucht, die Zuverlässigkeit von Polygraphentests zu belegen.

Undeutsch, Udo und Klein, Gisela: BGH-Gutachten „Psychophysiologische Aussagebeurteilung“ in Praxis der Rechtspsychologie, 9. Jahrgang, Sonderheft Juli 1999.

"Wenn jemand eine Sexualstraftat begangen hat, dann ist das eine Handlung, die sich von Alltagshandlungen deutlich unterscheidet. Wenn dann noch das Gefühl kommt, das zum Beispiel eine sexuelle Erregung oder Machtgefühl gegeben ist, dann ist das ein Erlebnis, was besonders nachhaltig im Gedächtnis verankert wird. Das heißt, da entsteht eine Gedächtnisspur. Und diese Gedächtnisspur wird durch die tatbezogenen Fragen in der Untersuchung wachgerufen. Das ist so, als wenn man einen Fußabdruck hat und dann den passenden Schuh dazu findet. Das eine ist die Gedächtnisspur, das andere die tatbezogene Frage, die unweigerlich als akustischer Reiz die Erinnerung an diese Tat wachruft.“

Aussagepsychologische Verfahren sinnvoller?

Kriminalpsychologe Klaus-Peter Dahle hält dagegen aussagepsychologisches Vorgehen für sinnvoller: „Wenn es eine hinreichend konkrete Aussage gibt, könnte man versuchen, mit aussagepsychologischen Mitteln weiterzukommen. Eine solche Aussage hinsichtlich ihrer Aussage-Qualität zu beurteilen und abzugleichen mit den verbalen, mit den kognitiven Fähigkeiten der aussagenden Person. Das kann man so lange machen, wie man eine relativ frische Aussage hat, die möglichst unkontaminiert ist von suggestiven Einflüssen. Also wenn ich, das ist keine ganz seltene Konstellation, eine Aussage habe, die bei der Erstaussage sehr dünn war, heraus gefragt worden ist - 'Warum bist du so komisch, könnte es nicht sein, dass…' - die Aussage dann immer bombiger wird, dann bestehen doch relativ starke Verdachtsmomente, dass da suggestive Einflüsse waren. Und dann sind wir tatsächlich ziemlich am Ende mit unseren Möglichkeiten.“
Für die Polygraphie-Verfechterin Gisela Klein ist das ein unbefriedigendes Fazit. Weil sie auch Aussagepsycholgin ist, kennt sie die Grenzen der Methode.
„Die Genauigkeit von aussagepsychologischen Gutachten liegt deutlich unter derjenigen der polygraphischen Begutachtung. Das Problem bei der aussagepsychologischen Begutachtung besteht darin, dass es in Einzelfällen sehr schwer sein kann, die entsprechenden relevanten Hypothesen zu erfassen, die für diesen Fall ausschlaggebend sind. Und wenn jemand die nicht erkennt, dann kann er sie ja auch nicht prüfen. Zum Beispiel, wenn Jugendliche ihre Mutter beschuldigen, sie hätte sich sexuell an ihnen vergangen, und nicht erkannt wird, dass es für einen jungen Heranwachsenden wichtig gewesen sein kann, dass die Mutter ihm die Pornohefte weggenommen hat. Dann wäre natürlich eine Hypothese, ob das, was nachher an belastenden Aussagen von diesem Jungen gegen die Mutter vorgebracht worden ist, nicht einfach daher stammen kann, dass er Dinge in einem Pornoheft gesehen hat.“

Dem Kind unnötige Befragungen ersparen

Ich telefoniere noch einmal mit der Familienrichterin, deren Namen ich nicht nennen darf. Sie verweist darauf, dass es keine empirischen Studien zur Zuverlässigkeit der aussagepsychologischen Begutachtung gebe. Und dass man aus der Forschung wisse, dass bei Kindern schon eine Nachfrage suggestiv wirken könne. Außerdem: In der Praxis seien polygraphische Tests ein Beweismittel unter vielen. Strittige Verfahren vorm Familiengericht dauern oft Jahre. Mit der Polygraphie ließen sich die Verfahren mitunter verkürzen und dem Kind unnötige Befragungen ersparen, meint sie.
Auch deshalb hält Holm Putzke es für richtig, Polygraphentests künftig als Beweismittel vor deutschen Gerichten zuzulassen. Noch, erklärt der Professor für Strafrecht, stehen dem Einsatz der Methode allerdings die BGH-Entscheidungen von 1998 und 2010 im Wege.
„Auflösen kann man diese entgegenstehende höchstrichterliche Rechtsprechung dadurch, dass es einmal wieder eine Korrektur bei der höchstrichterlichen Rechtsprechung gibt. Aber dazu muss ein solcher Fall natürlich zum Bundesgerichtshof kommen. Und das ist gar nicht so einfach. Wenn es beim Amtsgericht in einem Strafprozess beginnt, kann man in der Regel nicht bis zum Bundesgerichtshof kommen. Und bei den Familiengerichten ist es sowieso noch einmal anders. Da haben die Oberlandesgerichte relativ freie Hand, und die sind teilweise dem polygraphischen Untersuchungsobjekt sehr aufgeschlossen gegenüber. Das Oberlandesgericht Dresden und das Oberlandesgericht Koblenz in Familiensachen, die haben wiederholt diese Methode akzeptiert.“

Der Fall Harry Wörz

Das Landgericht Karlsruhe verurteilt Harry Wörz 1998 wegen versuchten Totschlags zu elf Jahren Haft. Wörz unterzieht sich einem Polygraphentest, der ihn entlastet. Gravierende Ermittlungsfehler werden festgestellt. Wiederaufnahme des Verfahrens. Nach viereinhalb Jahren Haft wird Harry Wörz entlassen und Jahre später freigesprochen.

Polygraphenprüfer Holger Leutz und sein Klient Jonas haben den Lügendetektortest nach einer guten Stunde und drei Durchläufen abgeschlossen.
Leutz erklärt: „Dass Sie in den relevanten Fragen die Wahrheit sagen, sieht man, wenn wir uns das hier als mathematische Funktionen ansehen. Da haben wir hier Y-Achse, da die X-Achse, null ist der Kalibrationspunkt. Und wir sehen, die roten Balken gehen grundsätzlich in den negativen Bereich. Also reagierte der Körper in den relevanten Fragen schwach. Hingegen in den Kontrollfragen, da reagiert der Körper aber kräftig, da fühlt er sich also bedroht. Bei jedem Kanal, den ich aufschalte, gibt es einen Gegenkanal, der überprüft, ob der Proband versucht zu betrügen durch vorherige Einnahme von Drogen, sedierenden Medikamenten, durch geistig angestrengte Arbeit und dergleichen mehr. Da sehen wir hier in allen Kanälen ‚no countermeasures indicated‘, also keine Gegenmaßnahmen.“

Angst vor Messfehlern beim Polygraphentest

Eine halbe Stunde später sitze ich mit Jonas in einem Café. Er ist erleichtert.
„Meine größte Sorge war, dass es eine gewisse Gefahr gibt, dass man da aus irgendwelchen Gründen als schuldig erkannt wird, obwohl man unschuldig ist. Du kämpfst die ganze Zeit dafür, dass deine Tochter dich noch sehen darf, und dann kommt durch irgendwelche Fehler, irgendwelche Berechnungen heraus, dass man lügen würde. Davor hatte ich Angst.“
Den Polygraphentest wird Jonas dem Gericht vorlegen zu seiner Entlastung. Damit will er erreichen, dass seine Tochter künftig wieder bei ihm übernachten darf.
„Im Nachhinein hätte ich mir auch gewünscht, dass ich das früher gemacht hätte. Ich habe am Anfang nicht verstanden, dass wenn die Mutter sexuellen Missbrauch erfindet, dass es dann heißt, dass dieses Kind seinen Vater auf lange Zeit nicht mehr sieht oder vielleicht ganz verliert.“
Markus, dem seine Ex-Freundin Missbrauch des Sohnes vorwirft, hat gute Nachrichten. Das Kind hat zu seinen Gunsten ausgesagt und ihn entlastet. Der zweifache Vater zeigt mir einen Brief: „Ich habe Post bekommen von meinem Anwalt. Am 4. Juli ist das Ermittlungsverfahren gegen mich eingestellt worden nach Paragraph 170 Absatz 2 der Strafprozessordnung.“
Die Staatsanwaltschaft ermittelt also nicht mehr gegen ihn. Das Verfahren vorm Familiengericht kann fortgesetzt werden. Im Rahmen einer Familien-Begutachtung wird Markus seine Kinder bald wiedersehen. Er freut sich; nur: „Das erste Mal soll ich meine Kinder wiedersehen im Beisein von einem fremden Gutachter, der danach schriftlich sein Gutachten verfasst. Die Kinder kommen in einen Raum, den sie vorher nicht kannten. Ich komme dahin in eine Situation, die ich so auch noch nicht erlebt habe. Gleichzeitig habe ich den Druck, keine Fehler zu machen. Womöglich sind meine Kinder dann auch total gestresst, weil eine ungewöhnliche Situation da ist, ein ungewöhnlicher Ort und dann noch fremde Leute da sind. “
Das polygraphische Ergebnis will der Vater nutzen, um sich zusätzlich zu entlasten und seine Kinder bald wieder unter normalen Umständen treffen zu dürfen. Ein Polygraphentest früher im Verfahren hätte die lange Zeit der Trennung von Markus und seinen Kindern verkürzen können. Einzelne deutsche Gerichte in erster Instanz sehen in der Polygraphie bereits einen praktischen Nutzen. Ist es eine Frage der Zeit bis auch der Bundesgerichtshof die Methode in klaren Grenzen gutheißt?

Autor: Tom Noga
Regie: Roman Neumann
Technik: Christoph Richter und Sonja Maronde
Erzähler: Max Urlacher
Zitatorin: Ilka Teichmüller
Redaktion: Franziska Rattei

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