Louise Erdrich: "Ein Lied für die Geister"

Wie Umgehen mit der Tötung eines Kindes?

Lakota-Indianer
Louise Erdrichs Lebensthema sind die schwierigen Lebensumstände der First Americans. Deren Geschichte thematisiert sie auch in "Ein Lied für die Geister". © dpa / picture alliance / Mike Nelson
Von Sigrid Brinkmann · 09.01.2017
Landreaux Iron hat große Schuld auf sich geladen: Aus Versehen hat er den fünfjährigen Sohn einer befreundeten Familie erschossen. Wie er und alle anderen mit diesem Schicksal umgehen, schildert Louise Erdrich in ihrem Roman "Ein Lied für die Geister" ohne Wehleidigkeit, dafür mit viel subtiler Ironie.
Louise Erdrich kreiert in jedem ihrer Romane tragische Konflikte und existenzielle Prüfungen. Die schwierigen Lebensformen der First Americans und die Ungleichheit vor dem Recht, die diese mehr als 170 Jahren lang erdulden mussten, sind ihr Lebensthema. Sie selbst ist Mitglied des Stammes der Turtle Mountain in North Dakota.
An der Reservatsgrenze, die ein Dickicht aus Traubenkirschen, Pappeln und Krüppeleichen teilte, machte der Altenpfleger Landreaux Iron Jagd auf einen Hirsch. Mit einer befreundeten Familie, die eine "aus ehemaligen Indianer-Parzellen zusammengeflickte Farm" bewirtschaftete, wollte er die Beute teilen. Als Landreaux den Abzug drückte, sprang der Hirsch davon. Zu Boden ging der fünfjährige Sohn der Familie Ravich.
Wie überlebt ein Elternpaar die Tötung seines Kindes? Wie schwer fällt es den Angehörigen des Todesschützen, zu ihm zu stehen? Wie verändert der Zweifel an der Unfallhypothese das Leben der Nahestehenden? War Landreaux' tödlicher Schuss möglicherweise ein Versuch, den Kindsvater, mit dem er in jüngeren Jahren "bis aufs Messer gekämpft"hatte", endgültig zu erledigen?

Landreaux Iron bringt ein großes Opfer

Der Protagonist Landreaux Iron wurde nicht wegen vorsätzlichen Mordes verurteilt. Er will sühnen und überzeugt seine widerstrebende Frau, einer alten indianischen Tradition zu folgen: Das Paar gibt den eigenen fünf Jahre alten Sohn in die Familie des getöteten Kindes, um die Wunde zu heilen und weiteres Unglück aufzuhalten. Der Junge begreift schnell, welche Opferrolle ihm zugewiesen wird. Er fügt sich, auch weil er glaubt, hilfreiche Geister rufen zu können. Der deutsche Romantitel stellt eben diese Gabe heraus. Im Amerikanischen heißt das Buch "LaRose", nach dem Namen des Ersatzsohnes. Er hat ihn von mutigen, leidgeprüften und mit heilenden Kräften gesegneten Frauen seiner Familie geerbt.
Louise Erdrich durchbricht die Chronologie der Ereignisse durch Rückblenden in die Vergangenheit der Protagonisten und indem sie die Gegenwart der Jahre zwischen 1999 und 2003 mit Geschehnissen aus dem 19. Jahrhundert kontrastiert. Sie erzählt von Tötungen aus Notwehr und von übersinnlichen Phänomenen. Von Geistern, die man nicht mehr los wird, und von der Verflüchtigung indianischer Seelen, deren körperliche Hüllen die Pathologie beschlagnahmte. Erdrich ehrt mit der ersten LaRose stellvertretend all jene Indianerinnen, die ihre Kinder das physische Überleben lehrten, aber auch "wie man einen Traum lenkt oder bei Lebensgefahr in der Traumwelt bleibt".

Erdrich liebt subtile Ironie

Erdrichs Roman birgt eine unglaubliche Fülle an Wissen. Mit jedem einzelnen Satz trifft sie den angemessenen Ton, um die Panik, die Not und den Hass von Menschen zu erfassen, deren Leben auseinander reißt. Sie kann schnöde sein und mit einem Halbsatz Verhalten bloßstellen. Sie widersteht jeder Wehleidigkeit, liebt hingegen die subtile Ironie. Selbst Mutter von sieben Kindern, ist es ein Leichtes für sie, mit den Augen Heranwachsender auf das verwüstete Leben der Erwachsenen zu schauen. Ihre Jugendlichen besitzen Sprachwitz, Schlagkraft, starke Intuitionen und einen sicheren Überlebensinstinkt. Von ihnen geht keiner mehr auf die Jagd. Und die Mädchen schaffen es, Jungen zur Lösung längst geschlossener Verträge mit der Nationalgarde zu überreden. Die junge Generation der First Americans verlangt andere Aufgaben als den Umgang mit Waffen.

Louise Erdrich: "Ein Lied für die Geister"
Aus dem Amerikanischen von Gesine Schröder
Aufbau Verlag, Berlin 2017
444 Seiten, 21,95 Euro

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