"Mein Körper passte nicht zu meinen inneren Gefühlen"
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Über 50 Jahre lang lebte Livia Prüll als Mann, war Ehemann und Vater zweier Kinder. Und wusste doch: Ich bin eine Frau. 2014 ließ sie ihr Geschlecht offiziell angleichen. Seither fühlt sich die Medizinhistorikerin als „Trans* im Glück“.
Mit dem Thema Transidentität beschäftigt sich Livia Prüll schon lange – und das auf unterschiedlichen Ebenen. Aus medizinhistorischer Sicht sei es ein relativ junges Forschungsgebiet, sagt die 59-Jährige. Denn bis etwa zum 19. Jahrhundert sei es eher darum gegangen, eine bestimmte Rolle in der Gesellschaft zu erfüllen. "Es gab Männer, die in Frauenkleidern gelebt haben, es gab Frauen, die auf Schlachtfeldern gekämpft haben – als Mann."
Erst danach, im Zuge der wissenschaftlich-anatomischen Erforschung des Körpers, habe die Medizin "den abenteuerlichen Schritt" gemacht, "das Körperliche und Soziale zu koppeln".
Wer nicht ins System passt, fliegt raus
"Das duale Geschlechtersystem in dieser strikten Ordnung ist ein Produkt des 19. Jahrhunderts", fasst es die Medizinhistorikerin zusammen. Alle, die sich nicht ohne Weiteres in dieses starre System einsortieren ließen, hätten fortan als "degeneriert" gegolten.
Umso wichtiger ist es Livia Prüll, das binäre Geschlechtersystem als "soziales Konstrukt" zu begreifen – und es auch in der Öffentlichkeit so zu beschreiben. Erst der offene Austausch über Transidentität mache es möglich, Verständnis für die Situation von trans Menschen zu schaffen.
Sie selbst erklärt "wie ein Papagei" wieder und wieder in Vorträgen, was es mit Transidentität auf sich hat. Über ihre eigene Geschichte hat sie ein Buch geschrieben, "Trans* im Glück".
"Ich wollte ein Kerl sein"
Denn schon als Kind spürt Livia Prüll, die als Sohn mit zwei jüngeren Geschwistern aufgezogen wird, "dass etwas nicht passt". In der Pubertät spitzt sich die Situation zu: Sie habe "die Vermännlichung meines Körpers" nicht ertragen können.
Da sie keine Möglichkeit sieht, in dem konservativen Elternhaus über ihre Gefühle zu sprechen, steuert sie unbewusst dagegen – und versucht, besonders männlich zu sein. Sie sammelt Militaria und bastelt Schlachtschiffe und Jagdflieger im Modellbau. Nach dem Abitur meldet sie sich freiwillig zur Bundeswehr. "Ich wollte ein Kerl sein", sagt sie heute.
"Es war eine männliche Karriere"
Später erfährt sie, dass trans Frauen in ihrer Kindheit und Jugend häufig, "mit enormer Kraft" eine besonders männliche Rolle zu kultivieren versuchten. Und sie kann einen weiteren Versuch rekonstruieren, ihre unterdrückten Empfindungen zu kompensieren: dass sie nicht nur Medizin studiert, sondern parallel auch Geschichte und Philosophie. Es sei ein Phänomen, das Berater und Psychotherapeutinnen immer wieder feststellten: "Wenn man den Körper nicht umsetzen kann, dass man sich auf den Geist konzentriert."
Livia Prüll verbindet ihre Studienfächer, forscht an den Universitäten in Freiburg und Mainz im Bereich Medizingeschichte und -ethik. Die Veröffentlichungsliste unter ihrem Geburtsnamen ist lang, mit Ende 30 ist sie habilitiert. Es sei "eine männliche Karriere" gewesen, in der Attribute wie Durchsetzungsvermögen und Führungsqualitäten gefordert waren.
Erst 2010 wird ihr völlig klar, "dass ich transident bin." Diese Erkenntnis sei "innerhalb von wenigen Minuten" gekommen. "Ich habe vorher nie an Offenbarung geglaubt, aber das geht."
Frauenkleider zu tragen sei für sie in diesem Stadium einerseits ein gutes Gefühl gewesen, andererseits "mit Schamgefühlen und schlechtem Gewissen" verbunden. Seit 2014 lebt Livia Prüll auch offen als Frau.
"Das ist kein einseitiger Prozess"
Sie habe die Frau, die sie immer war, ins Freie gelassen: Diese Frau habe jetzt das erste Wort. "Aber der Junge, der junge Mann, der Mann existiert in mir weiter und gehört zu meinem Leben dazu. Er gehört zu meiner Sozialisation dazu".
Für ihre beiden Kinder sei die Situation zunächst nicht ganz einfach gewesen. Aber am Ende gehe es darum, ihnen weiterhin Elternteil zu sein. Zu Beginn habe sie sich vor den Kindern geschminkt, um ihnen zu zeigen, "dass ich derselbe bleibe, dass ich kein anderer Mensch werde."
In ihrem Umfeld geht Livia Prüll offensiv mit ihrer Transidentität um. Sie schreibt Briefe an die anderen Kita-Eltern, an Freunde und Kolleginnen. "Das ist kein einseitiger Prozess", sagt sie. Man müsse auch Geduld mit der Umwelt haben. Versprecher – etwa, wenn sie versehentlich als Mann angesprochen werde – seien erlaubt. "Die Leute machen das nicht absichtlich, sondern weil sie sich daran gewöhnen müssen."
(era)