Zehn Tage Bücherfrühling in Wales

Dieses Festival ist geadelt: Der frühere US-Präsident Bill Clinton nannte es einmal "das Woodstock des Geistes". Jedes Jahr im Mai holt das "Hay Literature Festival" Schriftsteller, Intellektuelle und andere Büchermenschen in ein Städtchen in Wales. Was ist dran an dem Mythos?
Was klingt wie Applaus sind hunderte enttäuscht klappende Stühle. Marlon James, Booker-Preisträger und Autor von "A Brief History of Seven Killings", fällt aus. Der Grund: eine Lebensmittelvergiftung. Da half auch kein Adrenalin.
Moderator: "The paramedics thought, the adrenaline would bring him through this. But he is in no state to do the conversation today."
Seit fünf Jahren hängt an meiner Pinnwand ein Zettel, auf dem steht: "Hay Literature Festival besuchen". Und nun das: Meine erste Veranstaltung an diesem Tag fällt aus. Stattdessen: Carrot Cake und Small Talk mit Festival-Veteranen.
"Why are you coming back?"
"It’s mainly because I come with a group of very old friends and we stay together. It’s really a social occasion.
Er komme nicht wegen der großartigen Veranstaltungen, sondern um Zeit mit seinen Freunden zu verbringen, sagt dieser ältere Mann.
"The talks are okay, but not brilliant.”
Eine konservative Tageszeitung als Sponsor
Die Vorträge sind also oft gar nicht so gut? Egal: Für mich ist das Hay Literature Festival längst ein Mythos. Einer, den man angeblich am besten mit Gummistiefeln betreten sollte. Doch dieses Jahr ist im sonst so regnerischen Wales alles anders. Das Hay-Publikum sitzt und liegt in der Sonne auf der Wiese im Zentrum der Festival-Zeltstadt.
"What kind of people come here?"
"We have the feeling, we’re from a different social class than the majority of the people here. It is quite left-wing, middle-, upper-middle class.”
Die meisten hier seien Mittel- bis obere Mittelschicht, sagt diese junge Frau.
"The Telegraph is sponsoring it. That tells you a bit about the target market.”
Die konservative Tageszeitungen "The Telegraph" ist derzeit einer der Festival-Sponsoren. Meine nächste Veranstaltung findet dann auch auf der sogenannten "Telegraph Stage" statt. Die Aktivistin und Anwältin Shami Chakrabarti spricht über ihr Buch "On Liberty". Es geht um Datenschutz und Menschenrechte in Zeiten des Terrors.
"Later in life, the Sun newspaper, sorry to mention a rival publication, once called me the most dangerous woman in Britain."
Das Boulevard-Blatt The Sun kürte Chakrabarti einmal zu gefährlichsten Frau Großbritanniens.
"We think, having cameras everywhere is fine. In Germany for example, they are much more concerned about cameras."
Ihr Plädoyer für mehr Privatsphäre reißt niemanden vom Hocker. Die so genannte Flüchtlingskrise fällt in Hay eher auf fruchtbaren Boden. Was immer man von der Krise halte, so Chakrabarti, man solle die Menschen doch bitte nicht wie David Cameron als einen "Haufen Migranten" beschimpfen.
"Whatever you think the answer is to this crisis that leads to people drowning in the Mediterranean, where people used to go for there package-holidays. Please don’t denigrate those people as a bunch of migrants."
Schauspieler lesen Briefe
Weil ich Hay-Anfänger bin, habe ich erst kurz vor der Anreise ins Festival-Programm geschaut. Viele Vorträge waren da schon ausverkauft. Nicht jedoch die kinderfreundliche Family Show von Letters Live.
Das Konzept: Schauspieler lesen unterhaltsame Briefe von berühmten und weniger berühmten Personen.
"Please welcome to the stage: Benedict Cumberbatch."
Benedict Cumberbatch stand nicht im Programm. Der Überraschungsgast liest einen Brief des Schriftstellers John Cheever an eine Freundin, die ihm eine menschenfeindliche Katze anvertraute:
"The first sign of his vividness came, when he dumped a load in a Kleenex box, while I was suffering from a cold."
Andere britische Filmgrößen lesen Briefe des Kinderbuchautors Roald Dahl oder der Harry-Potter-Schöpferin J.K. Rowling. Und wegen eines ganz und gar nicht kindertauglichen Versprechers endet die Show in unhaltbarem Gelächter.
"Here’s an assignment for you and I hope Misses Lockwood won’t ... Oh, I almost read: won’t fuck you. (GELÄCHTER) NO, Misses Lockwood will flunk you."
"Hay Literature Festival besuchen" - Der Zettel bleibt an meiner Pinwand hängen.