Literaturdebüt

Die Open-Mike-Gewinner 2016

Die Gewinner des Open Mike 2016: Thilo Dierkes, Sandra Burkhardt, Benjamin Quaderer und Rudi Nuss (Preis der "taz"-Publikumsjury) (v.l.)
Die Gewinner des Open Mike 2016: Thilo Dierkes, Sandra Burkhardt, Benjamin Quaderer und Rudi Nuss (Preis der "taz"-Publikumsjury) (v.l.) © Juliane Henrich
14.11.2016
Der Freiburger Thilo Dierkes, der Berliner Benjamin Quaderer, die Leipziger Literaturstudentin Sandra Burkhardt und der Berliner Rudi Nuss sind die diesjährigen Gewinner des Internationalen Wettbewerbs junger deutschsprachiger Prosa und Lyrik in Berlin.
Der "Open Mike" genannte Wettbewerb gilt als Sprungbrett für eine Karriere als Schriftsteller und ist ein wichtiger Termin im Kalender der Talentscouts der Verlage. Er wird vom Haus der Poesie in Berlin veranstaltet. Bekannte Schriftstellerinnen und Schriftsteller wie Karen Duve, Julia Franck, Tilman Rammstedt, Tim Krohn und Terezia Mora betraten als Open-Mike-Preisträger die literarische Bühne.
Unter den 22 konkurrierenden jungen Autorinnen und Autoren erhielt Thilo Dierkes für seinen Text "Von Ajaccio her" am Sonntagabend den ersten Preis von der Jury zugesprochen. Der zweite Preis ging an Benjamin Quaderer für "Für immer die Alpen". Den Preis für Lyrik erhielt Sandra Burkhardt, die derzeit Literarisches Schreiben in Leipzig studiert.

Von "krass verwirrt" bis "total panisch"

"Man wurde ständig von allen Seiten umarmt, bis man selbst zu einer riesengroßen Umarmung wurde", beschreibt Benjamin Quaderer im Deutschlandradio Kultur die Atmosphäre beim Wettbewerb. Er sei über das Lesen zum Schreiben gekommen. Als "krass verwirrt und total panisch" charakterisiert Rudi Nuss seine Reaktion, als er erfuhr, dass er den Preis der "taz"-Publikumsjury zugesprochen bekam. Mit ihnen im Studio saß Isabelle Lehn. Die frühere Open-Mike-Finalistin (2011) war in diesem Jahr Teilnehmerin beim Bachmann-Preis in Klagenfurt. Sie berichtet über ihre Erlebnisse nach dem Open Mike, den sie als "Startschuss" beschreibt. Ihr Debütroman "Binde zwei Vögel zusammen" erschien in diesem Jahr im Eichborn-Verlag.
Die Veranstaltung fand im Heimathafen Neukölln statt. "Der Saal hat eine schöne Atmosphäre, es war richtig was los, zwei Tage volles Haus", so Jutta Büchter vom Haus für Poesie. In der Jury zum Open Mike entschieden die Schriftsteller Lutz Seiler, Sasa Stanisic sowie Inger-Maria Mahlke, Gewinnerin des Wettbewerbs 2009, über die diesjährigen Preisträger.

Auszüge aus den Texten

Aus: "Von Ajaccio her"
Von Thilo Dierkes, geboren 1995
"Wenn ich doch nur sagen könnte: Ich spüre die Dekaden. Aber vor mir die Lombardei und Böhmen, Joséphine, vor mir liegen erst Mantua und Austerlitz. Du, lass uns die Tage mit trockenem Parterre begehen oder einem fruchtigen Souterrain. Es mangelt nicht am süßen Leben, sieh, von der Beletage tropft es herunter, also schenke dir ein. Manchmal komme ich nicht umhin, mir zu wünschen, da wäre Gift in der Fischsuppe, oder eine Gräte, an der ich ersticken möge. Dann tut es weh, dir zu schreiben. Liebste.
Bisweilen ist mir jedoch, als lernte ich nun erst zu sprechen. Als sei da so viel Unerwähntes, das um Ausdruck flehte, das ich bis eben noch gar nicht bemerkt hatte. Als sei ich tagelang gerannt und komme nun zu Atem. Wenn ich den Stunden und Ortschaften nur sagen könnte: Ich nehme Notiz. Aber vor mir das Mittelmeer. Und erst dahinter, ganz dahinter, ein Ausruf, ein Satz schon vielleicht. Bis dahin das Schweigen und die Vorbereitung.
Weißt du, Talent werde ich mindestens gehabt haben. Wer eines hat, ein musikalisches zum Beispiel, und auf den Hafenpromenaden an gut situierte Pärchen verschwendet, an Pudelmischungen und pastellfarbene Kleiderkollektionen, der verdient, unbetrauert hinzuscheiden. Ich für meinen Teil, ich denke nicht im Traum daran. Nein, ich werde hier sitzen, den Wein schwenken und ihn auf ein stummes Signal, nur auf eine Vorahnung hin, hinunterstürzen. Ach, was schwafele ich da. Zum Schwenken braucht es Gläser. Den hiesigen Snobs ist der Sinn für das Nützliche abhandengekommen. Wozu benötigt denn einer diese ganze ästhetische Scheiße, lederne Segelschuhe und gezupfte Augenbrauen?"
Aus: "Für immer die Alpen"
Von Benjamin Quaderer, geboren 1989
Benjamin Quaderer
Benjamin Quaderer zu Gast im Deutschlandradio Kultur© Deutschlandradio / Jana Demnitz
"Wie kalt die Welt war. Wie ungemütlich und trist. Das Licht im Kreißsaal war schwach, Regentropfen schlugen gegen die Fenster. Alfred saß am Bett und hielt sich das Bein. In einem Anflug schwerwiegenden Ärgers hatte er gegen den Kaffeeautomaten im Flur des Landesspitals getreten, weil dieser sein Geldstück verschluckt hatte, ohne eine Gegenleistung zu erbringen. Im Versuch, mich zum Lachen zu bringen, beugte er sich über mich und schnitt eine Grimasse. Vor lauter Entsetzen, dass ich mit diesem Menschen den Rest meines Lebens verbringen würde, stieß ich einen Schrei aus, der die Scheiben in den Fensterrahmen zum Schwingen brachte. Mein Schrei echote sich aus dem Gebäude hinaus, umschwirrte die Spitze des Kirchturms und rang der Glocke darin zwölf Schläge ab. Durch den Türschlitz drang er in das Regierungsgebäude – das Gute an Vaduz ist seine Kompaktheit, alles liegt unmittelbar nebeneinander –, fegte durch den Landtagssaal und verschaffte sich Zutritt zum Büro von Regierungschef Dr. Gerard Batliner, der mit der Stirn auf der Tischplatte schlief. Als mehrere Aktenordner aus dem Regal fielen, erwachte Dr. Batliner und wusste nicht, wer er war. Der Schrei johlte hinaus in die Hauptstadt, ließ die Scheiben des Juweliers Huber zu Bruch gehen und raste den Hang hoch, bis er das auf einer Felsterrasse thronende Schloss erreichte. Er drang durch die schweren Gemäuer, jaulte im Keller an den Schätzen der Fürstenfamilie, den Picassos und Rembrandts, den Cranachs und Botticellis vorbei. In einem der Zimmer fand er das träumende Fürstenpaar von und zu Liechtenstein in einem Himmelbett liegen. Seine Durchlaucht Fürst Franz Josef II. umarmte Ihre königliche Hoheit Fürstin Gina im Schlaf, sie war das kleine Löffelchen, er das große, dann fegte der Schrei an den schlafenden Prinzen und Prinzessinnen vorbei ins Zimmer des ältesten Sohnes und Thronfolgers Hans Adam II. Dieser erwachte, hörte den Schrei rumoren und zog die Bettdecke bibbernd bis über den Nasenrücken hoch. Der Schrei entschwand hinaus in die Nacht, zog bis an den höchsten Punkt des Kleinstaats, 2599 Meter lag der Gipfel des Grauspitz über dem Meer, ehe er in tosender Lautstärke explodierte. Sein Echo hörte man noch lang in den Tälern: Der Datendieb, der Datendieb ist geboren."

Aus: Gedicht
Von Sandra Burkhardt, geboren 1992
"Hört in ausgestreuten Reimen den Klang dieser Seufzer, mit denen ich mein Herz nährte" – Francesco Petrarca
1
Es gibt Tiere auf der Welt, die sich unterscheiden
im Hinblick zum Licht, und es geht um den Umgang damit.
Ich nenne 3 Typen: Typ A, der sich,
wenn die Sonne ihn trifft, stets verteidigt,
bis der Widerstand sich wandelt zum ständigen Kampf.
Typ B, den zu großes Licht beleidigt, der nicht
berührt sein will und nie herauskommt außer zum Abend hin.
Zuletzt Typ C, der wie Typ A dem Licht entgegentritt,
doch sich dabei weit aufspannt in dem irren Wunsch,
am Feuer sich über sein Leuchten zu freuen.
All diese Tiere kennen keine Sonnencreme, was also
sagt dies über mich und andere Menschen aus?
Mein Standpunkt liegt irgendwo bei C, kehrt sich nach innen.
Mit schlaffem Lasso in der Hand bin ich nicht stark genug,
das Licht zu erwarten, und ich habe meinen Sonnenschirm
zu Hause liegen gelassen. Mit geschlossenen Augen also
entwickle ich folgenden Trick: Man muss ganz einfach
rückwärts zu dem gehen, was brennt."
Aus: "kurze Szenerie mit Loch"
Von Rudi Nuss, geboren 1994
Rudi Nuss 
Rudi Nuss zu Gast im Deutschlandradio Kultur © Deutschlandradio / Jana Demnitz
"2.
Nur um es zu klären. Nur um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Alles, was folgt, wird in diesem Scheißloch verrecken. Die ganze Stadt, der ganze Staat, die ganze Welt, ins Loch gerissen schmilzt sie, wird zum Schaumbad, das verrinnt im Abfluss der Zeit, warm, ohne Widerstand, blubbernd und doch absolut geräuschlos.
1.
Teil 1 von 1.
Dunkler Wind weht durch Douglastannen. Basinski und Falls stehen an diesem riesigen Loch, das eines Nachts in den Wäldern vor Ahrensburg plötzlich einfach erschien, circa 280 Meter im Durchmesser, ohne Grund im borealen Boden der Wälder. In einem Umkreis von einem Kilometer fehlen jegliche Bäume, die tatsächlich vorher da waren. Nur zaghaftes Gras umkreist das Loch noch.
»Ohne Zweifel… das ist ein perfekter Kreis«, sagt Basinski und nimmt einen Schluck Kaffee aus seiner Thermoskanne. »Wie Malevičs Schwarzes Quadrat. Nur rund …« Ein Tropfen Urin rollt ihm das Bein hinunter und obwohl es ihn leicht erschreckt, tut er so, als sei nichts, er war doch eigentlich beim Urologen deswegen, und schlürft den Kaffee weiter. Alva Falls kniet am Rand und versucht, hinunterzublicken."
Quelle der Texte: Haus für Poesie, Berlin
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