Literaturbetrieb

Sprachvergessene Romanversessenheit

Eine Frau steht vor Bücherregalen in einer Bibliothek und betrachtet die Buchrücken.
Es gibt so viele literarische Gattungen, doch Romane scheinen auf dem Markt alle anderen zu verdrängen. © imago images / Andia / Delmarty / Alpaca / Andia.fr
Ein Einwurf von Alexander Estis · 22.06.2023
Lyrik und Kurzprosa sind ja schön und gut, aber haben Sie mal daran gedacht, ein richtiges Buch zu schreiben? Eine oft gestellte Frage, doch "richtiges Buch" heißt für die meisten: ein Roman. Eine Fehlentwicklung, findet unser Autor.
Stellen Sie sich vor, die Konzertsäle des Landes würden plötzlich nur noch Symphonien ins Programm nehmen und die großen Labels ausschließlich Einspielungen von Symphonien produzieren. Alle übrigen Genres der klassischen Musik, einschließlich gattungssprengender Experimentalformen, wären plötzlich zu sekundären, inferioren Nischenphänomenen degradiert und zu einem randständigen Schattendasein auf Nebenbühnen und in Hinterhöfen verurteilt.
So absurd eine derartige Vorstellung angesichts der faktischen Vielfalt aufgeführter musikalischer Formen anmutet, so natürlich erscheint sie zunehmend in der rapide und radikal verarmenden Literaturlandschaft: Was nicht Roman heißt, hat kaum eine Chance auf Veröffentlichung in einem größeren Verlag – und falls trotzdem publiziert, bleibt der Nichtroman in der Regel unbeachtet, sowohl von Literaturhäusern als auch vom einschlägigen Feuilleton.

Unkritische Kritiker

Denn auch die Kritik sieht sich seit geraumer Zeit jeglicher Verantwortung enthoben, die Leserschaft darüber aufzuklären, was jenseits der Massenware Roman an Formenreichtum vorzufinden wäre. Mehr noch: Sie reflektiert nicht einmal diejenige Kapitulation, die sie längst vor dem monopolistischen Primat des Romans angetreten hat. In vorauseilendem Gehorsam fügt sie sich einer antizipierten Marktlogik, zu deren willfähriger Vollstreckerin sie allerdings selbst zunehmend verkommt: Die Kritiker meinen, niemand lese Kritiken, die keine Romane zum Gegenstand haben, die Leserschaft aber kauft nur noch Romane, weil die Kritiken nichts anderes zum Gegenstand haben.
Die von solcher unkritischen Kritik gemeinhin bevorzugten Romane kommen überdies in einer stilistisch belanglosen Diktion daher; sie zielen auf die reibungslose Rezeption einer Handlung und eines Themas, die für gewöhnlich durch biografische Authentizität und den Gestus der Betroffenheit affirmiert sind. Demgemäß bespricht auch Feuilleton diese Romane vorwiegend nach sachlich-inhaltlichen Kriterien – ganz, als würden im Literaturteil die Leitartikel der vorangehenden Zeitungsseiten rezensiert und nicht Sprachkunstwerke sui generis.

Relevanz und "Sprachgewalt"

Eine eigentliche Stilkritik dagegen findet in deutschsprachigen Feuilletons nicht mehr statt. Zwar fällt in Romanrezensionen nahezu obligatorisch das Attribut "sprachgewaltig"; sich jedoch damit aufzuhalten, jene angebliche Sprachgewalt dem Leser näher auseinanderzusetzen, fehlt den Rezensenten offenbar regelmäßig die Muße. Und so reiht sich diese alibimäßige Stilfloskel umstandslos ein ins inhaltsbezogene literaturkritische Buzzwordbingo – neben die "Verhandlung relevanter Themen", die "Tiefenbohrungen in Wirklichkeitsräumen" oder, nicht zu vergessen, die "Auslotung gesellschaftlicher Wandlungsprozesse".
Im Ergebnis etabliert sich allenthalben eine skandalöse Liaison von Romanversessenheit und Stilvergessenheit. "Aber es gibt doch so viele großartige Romane! Wie kann man da das Romangenre angreifen?", so höre ich es von allen Seiten rufen. Nun geht es hier keinesfalls darum, ein Genre als solches in Verruf zu bringen. Das Romanmonopol hingegen bewirkt genau dies: nämlich, dass alle anderen Literaturgattungen bestenfalls noch als Vorstufen zum Roman wahrgenommen werden. Keine Lyrikerin und kein Kurzprosaist, die nicht schon zigmal gefragt worden wären: "Haben Sie denn auch schon ein richtiges Buch geschrieben?"
Es sei daher dringend aufgerufen zur Rettung – wie auch zur Ehrenrettung – der staunenswerten Vielfalt von Formen und Stilen, die innerhalb mehrerer Jahrtausende Literaturgeschichte entstanden sind und die nun von der sprachvergessenen Romanversessenheit bedroht erscheinen. Wäre es nicht aufregend, in den Regalen der Buchhandlungen neben all den Romanen auch nur halb so viele Bände vorzufinden mit Langgedichten oder Kurzgeschichten, Dramoletten oder Novellen, Aphorismen oder Palindromen, Satiren oder Parodien?
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