Literatur

Warten auf das Ende

Burkhard Spinnen
Der Schriftsteller Burkhard Spinnen sucht beim Schreiben nach dem richtigen Ende © picture alliance/dpa/Foto: Uwe Zucchi
Burkhard Spinnen im Gespräch mit Ute Welty  · 31.12.2016
Wenn dem Anfang ein Zauber innewohnt, was macht dann das Ende aus? Zum Jahresende 2016 betont der Schriftsteller Burkhard Spinnen, dass ihn das Nachdenken über das Ende beim Schreiben anspornt.
Im vergangenen Jahr erschienen die gesammelten Erzählungen von Burkhard Spinnen unter dem Titel "Hauptgewinn". Und in der Tat gäbe es Schriftsteller, die zuerst das Ende einer Geschichte verfassen. Er gehöre aber nicht dazu, sagte Burkhard Spinnen im Deutschlandradio Kultur. So habe er in der Werkschau keine einzige Geschichte damit angefangen, dass er das Ende zuerst geschrieben habe. "Ganz im Gegenteil. Es ist eigentlich die große Herausforderung für mich beim Schreiben, mir ein Ende auszudenken, dass zum Anfang passt." Es halte ihn bei der Arbeit und stifte Energie, dass er nicht wisse, wie die Erzählung ausgehe, wenn er anfange.

Wie beim Schachspiel

Das richtige Ende zu finden, sei ein wenig wie beim Schachspiel. "Man bringt die Figuren in eine bestimmte Konstellation und dann reduziert sich auch die Zahl dessen, was noch passieren kann." Es müsse sich etwas aus einer bestimmten Konstellation heraus ergeben. Ein gutes Ende sei ein Ende, dass den Leser überrasche und gleichzeitig davon überzeuge, dass es nur so habe enden können.

Das Interview im Wortlaut:

Ute Welty: "Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft zu leben", schreibt Hermann Hesse für den Band "Lebensstufen", der 1986 erscheint und eine ganze Reihe von autobiografischen Texten vereint, die sich mit den Phasen des Lebens beschäftigen, aber wenn dem Anfang ein Zauber innewohnt, was macht dann das Ende aus, das Ende eines Gedichtes, eine Romans, eines Films. Ob das Happy End immer auch ein gutes Ende ist, das bespreche ich heute Morgen am Ende des Jahres 2016 mit dem Schriftsteller Burkhard Spinnen. Guten Morgen!
Burkhard Spinnen: Guten Morgen!
Welty: Im zurückliegenden Jahr sind ja unter anderem Ihre gesammelten Erzählungen unter dem Titel "Hauptgewinn" erschienen. Wenn Sie sich diese Werkschau noch mal ins Gedächtnis rufen, haben Sie jemals eine Geschichte damit angefangen, dass Sie das Ende als erstes geschrieben haben?
Spinnen: Das soll es geben. Bei mir ist das nicht der Fall. Ganz im Gegenteil, das ist eigentlich die große Herausforderung für mich beim Schreiben, mir ein Ende auszudenken, das zum Anfang passt, und es ist das, was bei der Arbeit hält, was selber die Energie stiftet, nicht zu wissen, wie es ausgeht, wenn man anfängt.
Welty: Wie entwickelt sich das dann? Wann wissen Sie, wie es ausgeht – tatsächlich auf der letzten Seite oder schon so 100 Seiten vorher?
Spinnen: Also bestimmt nicht 100 Seiten vorher, aber ich glaube, etwas vor der letzten Seite. Das ist ein Prozess, das baut sich auf. Mein Bestreben zumindest ist es, ein Ende zu finden, nicht zu erfinden, sondern ein Ende zu finden, das zu dem passt, was bis dahin entwickelt worden ist. Das ist so ein bisschen wie bei einem Schachspiel: Man bringt die Figuren in eine bestimmte Position, und dann reduziert sich auch die Zahl dessen, was noch passieren kann. Man kann die Figuren fliegen lassen oder unterirdisch sich bewegen, sondern aus einer bestimmten Konstellation muss sich etwas ergeben, was dazugehört.
Welty: Im Zweifel kann man sie sterben lassen.
Spinnen: Ja, das heißt dann Krimi und ist für mich eine Art von Literatur, die sich, sagen wir mal, gewisse Freiheiten und Abkürzungen herausnimmt.
Welty: Abkürzungen ist ein gutes Wort dafür! Was macht denn ein gutes Ende aus, und was unterscheidet das gute Ende von einem glücklichen Ende?
Spinnen: Also ein gutes Ende in einem ästhetischen, literarischen Sinne ist ein Ende, das überrascht und gleichzeitig dem Leser klarmachen sollte, dass ein anderes Ende nicht möglich war. Das heißt, das ist so ein bisschen wie die Lösung einer sehr komplizierten mathematischen Aufgabe: Es gibt nur eine Möglichkeit, aber die erweist sich als schwierig bis überraschend.

Happy End soll Trost spenden

Welty: Und das glückliche Ende, das Happy End?
Spinnen: Ja, das Happy End. Das ist natürlich im Wesentlichen der Versuch, Trost zu spenden, und das ist im Leben eine sehr wichtige Funktion, aber es ist – das sehen Sie schon am Märchen – nicht unbedingt die zentrale literarische Funktion. Literatur als Trostspender ist eine schwierige Angelegenheit. Ich bin der Ansicht, dass Literatur Trost spendet, aber sie spendet ihn nicht dadurch primär, dass sie den Leser glauben lässt, es gäbe für alle Probleme einen guten Schluss, eine Auflösung, ein Verdampfen des Schlimmen und des Bösen. Der Trost, den Literatur spenden sollte, der liegt meines Erachtens mehr darin, dass sie Gebilde vorstellt, die in sich selbst stimmig, die harmonisch sind und die dazu auffordern, das, was ein guter Schluss sein könnte, sich selbst zu denken, sich selbst vorzustellen, es nicht abzulesen vom Text.
Welty: Im Gegensatz zum Happy End, was bedeutet das Open End? Ist dem Autor oder der Autorin dann der richtige Schluss einfach nicht mehr eingefallen?
Spinnen: Das kann sein. Es gibt den Missbrauch von ästhetischen Mitteln, und natürlich kann man irgendwann drei Pünktchen machen oder die Kamera hochschwenken und sagen, Leser, mach dir selber einen Schluss, wenn du willst, einen schönen. Glaube ich aber nicht, dass das die eigentliche Funktion eines offenen Endes ist.
Die eigentliche Funktion eines offenen Endes ist, nicht mehr auszusprechen, was aber eigentlich in der Konsequenz dessen liegt, was gezeigt worden ist. Dann überlässt man dem Leser oder dem Zuschauer nicht, sich selbst etwas zu erfinden, sondern man fordert ihn gewissermaßen auf, den letzten Zug der Schachfigur, der ganz notwendig und folgerichtig ist, aber selbst zu tun.

Schreiben und Lesen

Welty: Macht das eigentlich einen Unterschied, ob ich mit dem Autoren Spinnen spreche oder mit dem Mitglied des PEN oder mit dem ehemaligen Chef der Jury in Klagenfurt – sind Ihnen die Enden anderer womöglich manchmal lieber als die eigenen?
Spinnen: Das macht insofern keinen Unterschied als die Beschäftigung mit Literatur im Schreiben besteht, aber in dem Moment, wo sie im Schreiben besteht, auch schon wieder im Lesen. Am eigenen Text arbeiten heißt, zu einem sehr kleinen Prozentsatz schreiben, vielleicht zehn Prozent der Zeit, der Anstrengung, 90 Prozent heißt, ihn selbst lesen und sich fragen, ob das richtig gut so ist, wie man es gemacht hat.
Da ist man natürlich schon genau da, wo man auch ist, wenn man einen anderen Text liest, einen fremden Text liest, denn da frage ich mich ja auch die ganze Zeit, ist das gut, ist das richtig so, verstehe ich das überhaupt richtig. Daher gibt es keinen so großen Unterschied zwischen dem Schreiben und dem Lesen.
Welty: Damit soll auch dieses Gespräch dann zu Ende gegangen sein. Herzlichen Dank dem Schriftsteller Burkhard Spinnen, und nach Gesprächsende wünsche ich Ihnen ein schönes Jahresende!
Spinnen: Ja, vielen herzlichen Dank! Ich will hoffen, dass es sich nicht allzu literarisch vollzieht, denn im Leben hätte ich gern auch ein paar berechenbare Dinge.
Welty: Das glaube ich Ihnen gerne! Nochmals danke und einen schönen Rutsch, einen guten Rutsch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Burkhard Spinnen, Hauptgewinn, Schoeffling Verlag 2016, 28,80 Euro.

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