Literatur und Computerspiele

Ich spielte nächtelang Space Invaders

Eine Frau spielt "Space Invaders" im Computerspielemuseum in Berlin-Friedrichshain
Eine Frau spielt "Space Invaders" im Computerspielemuseum in Berlin-Friedrichshain © dpa / picture alliance / Florian Schuh
Von Michael Hillebrecht · 19.04.2015
Was haben Literatur und Computerspiele gemeinsam? Welche Erfahrungen machen Schriftsteller, die sich an der Entwicklung von Computerspielen beteiligen? Was gewinnt die Literatur durch die Auseinandersetzung mit Computerspielen? Diese Fragen beantworten Autoren wie Tim Etchells, Jeff Noon, Jaroslav Rudiš und Martin Burckhardt.
Tim Etchells: "Ich erinnere mich an ein Autorennspiel aus meiner Kindheit. Am Rande der Rennstrecke gab es eine endlose, saftig grüne Wiese. Und obwohl das gar nicht zum Spiel gehörte, bin ich immer von der Strecke runter gefahren auf diese Wiese. Für mich war das fast interessanter als das eigentliche Spiel."
Carlos Labbé: "Diese frühen Computerspiele waren faszinierend, denn sie waren einfach, bunt und leicht zu verstehen. Und das war in meiner Kindheit ein starker Gegensatz zur komplexen Realität des Alltags."
Alle diese Schriftsteller haben vielfältige Erfahrungen im Umgang mit Computerspielen gesammelt. Die Autoren stammen aus Europa oder Südamerika, und sie wurden zwischen 1957 und 1977 geboren. Sie stehen damit auch für unterschiedliche Generationen. In ihrer Kindheit und Jugend haben sie deshalb je nach dem Stand der Technik mit sehr unterschiedlichen Formen von Computerspielen gespielt.
Jeff Noon: "Für mich gab es bei Computerspielen immer zu viele Wahlmöglichkeiten. 'Drück diese Taste, wenn du diesen Weg wählen möchtest', das war nichts für mich. Mir reicht ein einziger Weg."
Martin Burckhardt: "Wobei ich eigentlich eine etwas merkwürdige Geschichte als 'Gamer' in Anführungszeichen habe, weil aus zweiter Hand, aber mitspielend, denn mein Sohn, der ist 1990 geboren, und aus irgendeinem Grund hat er mich genötigt, jedes Spiel mit ihm mit zu spielen."
Gemeinsam ist diesen Autoren, dass sie sich als Schriftsteller mit Computerspielen auseinandergesetzt haben. Sie haben Computerspiele in das Zentrum von Romanen gestellt, haben sich an der Entwicklung von Computerspielen beteiligt oder literarische Entwürfe für Spiele vorgelegt. Steven Hall aus England etwa kennt als Verfasser des Romans "Gedankenhaie" und als Autor von Computerspielen beide Welten sehr gut:
"Es geht darum, einen Ort für den Geist zu schaffen, der zum Spielen und Entdecken einlädt. Bücher und Computerspiele unterscheiden sich da kaum. Man muss eine Welt erfinden, die neugierig macht und einen dazu anregt, sie genauer zu erkunden."
Tim Etchells, den ich in Sheffield in Nord-England treffe, interessiert sich besonders für die Funken, die sich aus der Konfrontation von Computerspiel und Literatur schlagen lassen. Der 1962 geborene Etchells hat unter dem Titel "Broken World" einen Roman veröffentlicht, in dessen Zentrum ein fiktives Computerspiel gleichen Namens steht:
"Computerspiele bieten viele unterschiedliche Wege an, die ein Spieler gehen kann. Jeder, der sich mit den formalen Möglichkeiten des Erzählens befasst, sollte sich dafür interessieren. Ich verstehe nicht, wie man heute schreiben kann, ohne von Computerspielen fasziniert zu sein."
"Ich war bestimmt schon 600 Mal in der Broken World (oder sogar noch öfter), und obwohl ich oft tot da rausgekommen bin oder schwer verletzt, kenn ich mich jetzt besser aus und bleibe manchmal am Leben. Wahrscheinlich kenne ich manche Städte dort besser als meine Westentasche."
Aus: Tim Etchells: Broken World, diaphanes, Berlin 2010, Aus dem Englischen von Astrid Sommer
In seinem Roman "Broken World" konfrontiert Tim Etchells die Leser mit einem Ich-Erzähler, der im Internet einen sogenannten Walkthrough für das Spiel "Broken World" veröffentlicht. Ein Walkthrough wird von einem erfahrenen Spieler als eine Art Ratgeber bereit gestellt, wie man ein Spiel möglichst erfolgreich spielt. Als Vater von zwei spielebegeisterten Söhnen musste sich Etchells fast zwangsläufig mit dieser Art von Texten auseinandersetzen. Etchells faszinierte daran vor allem die Nähe zur gesprochenen Sprache sowie die Energie und der Enthusiasmus der jungen Spieler.
"Du brauchst die Taschenlampen, die Messerklinge und die Munition, die da auf dem Boden rumliegt. Nimm das alles und Weiter gehts, Alter; raus aus dem Haus und ab auf die Straße. Und, denk dran: Immer wenn du wen tötest, irgendjemand oder Monster oder was, CHECK DIE LEICHE. Denk dran: CHECK DIE LEICHE."
Aus: Tim Etchells: Broken World, diaphanes, Berlin 2010, Aus dem Englischen von Astrid Sommer
Tim Etchells: "Du wirst direkt angesprochen und dieses 'Du' hat mich vom ersten Moment an gepackt."
In Etchells Roman gibt der Erzähler seinen Lesern zwar Anweisungen, wie sie im Spiel am besten Zombies oder Monster töten können, aber mit der Zeit drängen immer mehr Details aus seinem realen Leben an die Oberfläche: Er wird von seiner Freundin verlassen, und er verliert seinen Job. All das lenkt ihn vom Spiel ab und von dessen Hauptfigur, Ray.
"Es ist kalt heute Abend. Die ganze Wohnung wirkt wie die verlassene Bergstadt da irgendwo in einem der Versteckten Level, ein Ort, von dem alle evakuiert wurden in Erwartung einer mörderischen Kinderarmee. Alle sind weg und ich bin Ray, ich, ich laufe rum und entdecke das alles in den verstreuten Trümmern des Lebens, das einstmals hier in dieser einsamen Wohnung existiert hat. Scheiße. Keine Ahnung."
Aus: Tim Etchells: Broken World, diaphanes, Berlin 2010, Aus dem Englischen von Astrid Sommer
Tim Etchells: "Er versucht, durch diese fiktionale Architektur zu navigieren und gleichzeitig auch durch die tatsächliche Architektur seines eigenen Lebens."
Zur Zeit der Abfassung von "Broken World" in den frühen 2000er-Jahren machten es die geringen Übertragungsraten im Internet erforderlich, einen Walkthrough als Text zu veröffentlichen. Mittlerweile sind Walkthroughs als professionelle Videos im Netz zu sehen, die den Spielverlauf zeigen und kommentieren. Textbasierte Walkthroughs, die Tim Etchells so mit ihrer sprachlichen Direktheit und Energie faszinierten, sind dagegen fast vollständig verschwunden.
Der tschechische Schriftsteller Jaroslav Rudiš auf der Leipziger Buchmesse 2012
Der tschechische Schriftsteller Jaroslav Rudiš© dpa / picture alliance / Jens Kalaene
Jaroslav Rudiš: "Ah, hier ist das Computerspielemuseum. Follow me, das ist ja super. Hier entlang. Jetzt schauen wir. This way. Was es da so gibt."
Text Adventures
Zusammen mit dem tschechischen Autor Jaroslav Rudiš besuche ich das Computerspielemuseum in Berlin, das bereits in der U-Bahnstation durch ein Plakat angekündigt wird. Museumsdirektor Andreas Lange weist darauf hin, dass es in den 1970er-Jahren auch Computerspiele gab, die auf Texten basierten:
"Ich zeige jetzt mal ein Spiel aus dem Jahr 1976, "Adventure" heißt das. Was wir faktisch sehen, ist also Text, der auf dem Bildschirm entsteht und der die Spielsituation beschreibt. Und man muss jetzt dann als Spieler tatsächlich auch Text eingeben, um dort in dem Spiel zu interagieren. Das war sinnvoll, das komplett im Text zu machen damals, weil Grafiken die frühen Rechner einfach auch überfordert hätten."
Ebenfalls im Jahr 1976 wurde zum ersten Mal eine neue Jugendbuchserie veröffentlicht, bei der die Leser wie beim Computerspiel den Handlungsablauf mitbestimmen konnten. Auch Steven Hall, der 1975 geboren wurde, ließ sich von diesen interaktiven Büchern faszinieren.
Steven Hall: "Als Kind verschlang ich "Choose your own adventure"-Bücher. Am Ende eines Abschnitts stand dann: „Willst du links weitergehen, dann lies auf Seite 68 weiter; willst du jedoch nach rechts, dann blättere vor zu Seite 112." Das erschien einem wie eine Welt unbegrenzter Möglichkeiten."
Open World Games 1
Tim Etchells: "Die frühen Computerspiele boten oft nur zwei Entscheidungsmöglichkeiten am Ende eines Flurs. Heute gibt es diese riesigen Online-Spiele, die keine feste Erzählstruktur mehr haben. Nur die Spieler entscheiden dort, wo die Figuren hingehen und was sie machen. Oder es gibt Spiele wie „Grand Theft Auto": Innerhalb einer riesigen urbanen Landschaft kann man zwischen sehr vielen Erzählvarianten wählen. Zwei Spieler könnten dieses Spiel lange spielen, ohne auf die gleichen Figuren zu treffen oder die gleichen Dinge zu tun."
Tim Etchells treibt diese Idee eines sogenannten Open World Games in seinem Roman „Broken World" über jedes begrenzende Maß hinaus. Der Ich-Erzähler beschreibt ein Computerspiel, das immer mehr ausufert. Die Anzahl der Schauplätze und möglichen Handlungsverläufe wird vollkommen unüberschaubar.
Tim Etchells: "Das Spiel entwickelt sich von einem Egoshooter mit Zombies und Monstern zu einer sehr existenziellen und abstrakten Sache. Am Ende wäre es genauso unmöglich, eine Anleitung für das Spiel zu liefern wie für das normale Leben."
"Geh raus und lauf rum. Wenn du nicht weißt, wie du dich in der Stadt für ne Route entscheiden sollst, dann such dir zufällige Anhaltspunkte — wähl Telefonnummern, die du auf weggeschmissenen Servietten findest, ruf Nutten an von Telefonkarten in Telefonzellen, folg irgendwelchen hingekritzelten Wegeplänen, die du auf Papierfetzen findest, die da rumfliegen. Hör mir genau zu. Du musst loslassen. Lass dich fallen, Alter. Du musst irgendwie aufhören zu denken."
Aus: Tim Etchells: Broken World, diaphanes, Berlin 2010, Aus dem Englischen von Astrid Sommer
Tim Etchells lässt das Computerspiel in seinem Roman so unendlich anwachsen, dass der Ich-Erzähler dieser Entwicklung offenbar nicht mehr Herr wird. Und mit seinem ursprünglichen Plan scheitert, einen Ratgeber zu schreiben, der am Ende eine oder mehrere konkrete Lösungen des Spiels präsentiert. Der Autor Tim Etchells bezieht bei dieser Strategie des Ausuferns von Spiel und Roman die Leser mit ein. Er verlangt auch von ihnen eine Positionierung zu dieser überraschenden Entwicklung der Romanhandlung ab.
Tim Etchells: "Die Leser werden zum Nachdenken über ihre eigene Rolle gezwungen. Wie viel Zusammenhang erwarten sie von dem Spiel, das der Ich-Erzähler beschreibt."
Das ausufernde Computerspiel im Roman wird so zu einem Modellfall dafür, mit welchen literarischen Mitteln die Welt in einem Roman überhaupt beschrieben werden kann.
Tim Etchells: "Es geht darum, ob das Erzählen die Welt als kohärent darstellt. Denn ich glaube nicht, dass die Welt kohärent ist. Ich möchte das Erzählen als die dominante Art, die Welt zu verstehen, in Frage stellen. Dieses Computerspiel mit den unbeschreiblich vielen Zielen und Möglichkeiten ermöglicht es, neu darüber nachzudenken, wie man die Welt verstehen kann."
Erstkontakt
Andreas Lange: "Computerspiele haben historisch gesehen ganz wesentlich eine Leistung vollbracht. Sie waren die ersten Programme, die Nicht-Experten befähigt haben, mit dieser neuen Technologie umzugehen."
Jaroslav Rudiš: "Aber ich kenne das wirklich für mich, so meine Jugend, 16, 17, das ist einfach so ein kleiner Kassettenrekorder dazu. Das hat wirklich ewig gedauert und es war echt so eine unglaubliche Spannung, ob das Spiel überhaupt auf der Kassette ist und man musste das ab und zu auch mehrmals einfach hochladen oder versuchen hochzuladen."
Lead Writer
Steven Hall: "Toll! Ich habe das länger nicht gesehen. Ich bin ziemlich stolz darauf! Wir haben gute Arbeit geleistet. Nicht nur ich, es war ein ganzes Team."
Der britische Autor Steven Hall hat als 'Lead Writer' am Spiel "Crysis 3" mitgewirkt. Er hat dabei besonders die Zusammenarbeit im Team geschätzt.
Steven Hall: "Das war sehr schön, weil man diese Erfahrung als Autor eines Romans nicht macht. Man schreibt eine tolle Passage oder beendet ein Buch und fühlt sich fantastisch, aber das bekommt niemand mit. Dieses Gefühl teilen zu können und sich gemeinsam über ein tolle Szene oder einen witzigen Text zu freuen, das gefällt mir fast am besten bei der Arbeit an Computerspielen."
Prophet, die Hauptfigur des Science Fiction-Spiels "Crysis 3" steckt in einem Dilemma. Sein Kampfanzug, der auf der Technik einer außerirdischen Zivilisation basiert, verleiht ihm zwar übermenschliche Kräfte, aber Prophet ist mittlerweile so untrennbar mit diesem Anzug verwachsen, dass sich die Frage stellt, was an ihm noch menschlich ist.
Steven Hall: "Im Zentrum der Geschichte steht die Frage, wer du bist und was von dir übrig bleibt. Was kannst du aufgeben, ohne deine Menschlichkeit zu verlieren? Diese Frage interessiert mich sehr."
Eine vergleichbare Fragestellung ist für Steven Hall auch der grundsätzliche Antrieb für seine Arbeit in den unterschiedlichsten Medien. Nach seinem Studium an einer Kunsthochschule hat er außer an Computerspielen auch an Filmen, Hörspielen und Kunstprojekten mitgewirkt:
"Mich interessiert, was man mit verschiedenen Formaten und Medien erreichen kann. Was funktioniert und was nicht? Wann kollabiert alles, und wie weit kann man gerade noch gehen?"
Seine Arbeit im Computerspielbereich und in anderen Medien führt bei Steven Hall auch zu einem geschärften Blick für die spielerischen und interaktiven Möglichkeiten der Literatur und des Mediums Buch:
"Zum Lesen eines Buches benötigt man nur schwarze Buchstaben auf weißem Papier und die Fähigkeit zu lesen. Vieles weitere erschafft man selbst, und das ist wesentlich variabler als es scheint."
In Halls Roman "Gedankenhaie" wird der Leser deshalb durch typographische Überraschungen immer wieder darauf hingewiesen, dass er einen Text liest. Auf dem Papier ist dann etwa der Umriss eines Haies zu sehen, der aus Buchstaben geformt ist. Dies sind keine formalen Spielereien, die unabhängig von der Handlung ablaufen, sondern sie verweisen auf den Kern der Handlung. Im Roman geht es nämlich um das fantastische Lebewesen des sogenannten Gedankenhais. Dieser lebt im Strom menschlicher Kommunikation und ernährt sich von menschlichen Erinnerungen.
"Das dunkle Etwas stößt in unsere Unterhaltung
mit den tausendmal erzählten Geschichten vor,
schwimmt durch das Wortgewirr überfüllter
Samstagabend-Kneipen, umkreist die mal weichen,
mal harten Konturen ausgetauschter Handynummern.
Jemand hat sich verwählt. Viele Meilen entfernt
wird mein Unterbewusstsein von einem Klingelton
gestört und regt sich im Schlaf.
Um vier Ecken herum nimmt der Schatten
unter Wasser Witterung auf. Ein stromlinienförmiger
Signifikant, der schnell höher kommt,
eine schwarze Gedankenflosse voll zielgerichteter
Bewegung zerschneidet den Abstand zwischen uns
in gischtigen Memen."
Aus: Steven Hall: Gedankenhaie, Piper Verlag, München 2007, Aus dem Englischen von Marcus Ingenday, Susanne Hornfeck und Sonja Hauser
Steven Hall: "Der Hai setzt sich auch aus Worten zusammen. Die Worte scheinen sich fast auf der Seite zu diesem Wesen zu formen, das dich angreifen oder jeden Moment über die Romanfigur herfallen kann."
Gegen Ende des Buches scheint der Hai sogar in Form eines kleinen Daumenkinos direkt auf den Leser zuzuschwimmen und ihn anzugreifen, wenn man die Seiten schnell genug durchblättert. Steven Hall lässt die Frage offen, ob dieser Gedankenhai einzig und allein im Kopf des Ich-Erzählers existiert, also Anzeichen eines fortgeschrittenen Wahns ist, oder ob er zumindest im Buch auch eine reale Gefahr für andere Romanfiguren darstellt..
Steven Hall: "Jeder sollte das Buch anders lesen können. Je nach der Persönlichkeit und der Art, Geschichten zu interpretieren, könnten sich andere Lesarten ergeben. Ich habe also versucht, ein Buch zu schreiben, das viele Lesarten zulässt, so dass unterschiedliche Leser unterschiedliche Bücher vorfinden."
Der Roman lässt viele Interpretationsvarianten zu. Die Leser treffen ihre Entscheidung für eine dieser Varianten vermutlich eher unbewusst als bewusst.
Open World Games 2
Carlos Labbé wurde 1977 in Chile geboren. Er lebt mittlerweile in New York, hat seinen Roman "Piezas Secretas contra el mundo" aber in Chile angesiedelt:
"Ich wollte einen ökologischen Roman über das Problem der Lachszucht im Süden Chiles schreiben. Ich brauchte deshalb eine Strategie, um nicht nur einfach Propaganda zu betreiben."
Labbé bezieht sich darauf, dass Aquakulturen zur Lachszucht im Süden Chiles häufig von ausländischen Firmen etwa aus Norwegen oder Japan betrieben werden. Im Vergleich zu Europa müssen in Chile kaum Umweltauflagen eingehalten werden, und die Arbeitsschutzvorschriften für die Mitarbeiter sind ebenfalls lax. Die negativen Folgen für die Menschen und die Umwelt sind deshalb enorm. Labbé findet eine ungewöhnliche Strategie, diese politische Thematik literarisch zu verhandeln. Er stellt ein Computerspiel namens "Albur" in das Zentrum seines Romans. Das Konzept für dieses Spiel hat eine Studentin in Norwegen entwickelt und als schriftlichen Entwurf im Rahmen ihres Studiums vorgelegt. Hauptfigur des Spiels "Albur" ist ein zombieartiges Wesen, das als nicht lebendig beschrieben wird. Dieses Wesen irrt durch eine apokalyptische Landschaft, in der nach einem nicht näher definierten Vorfall alles verbrannt ist. Selbst die untote Hauptfigur muss sich vor marodierenden Tieren in Acht nehmen.
"Eine Maus entwischt der Glut und setzt sich auf das, was uns aufrecht erhält – unseren Fuß – und beginnt daran zu nagen. Als wir sie mit einer kurzen Bewegung des Joysticks abschütteln, flüchtet sie. Wir schauen ihr nach und sehen, dass sie an einer anderen Stelle nach Nahrung sucht. Dort tauchen weitere menschliche Knochen auf: Zwei, zehn, zwanzig Knochen, die von gefräßigen Ratten gut gesäubert wurden, verteilen sich überall."
Aus: Carlos Labbé: Piezas Secretas contra el mundo, Editorial Periférica, Cáceres 2014, Übersetzung: Michael Hillebrecht
Weiterhin wird im Roman ein fragmentarischer Reisebericht präsentiert, der vermutlich auch von der Studentin stammt. Diese Reisenotizen legen nahe, dass die Studentin im Süden Chiles unterwegs war und dort mit den negativen Folgen der Lachszucht konfrontiert wurde.
Carlos Labbé: "Das Computerspiel könnte die Zukunft dieser chilenischen Landschaft darstellen, nachdem sie durch die Lachszucht ökologisch verwüstet wurde."
Über diese Zusammenhänge können nur Vermutungen angestellt werden, weil die Studentin mittlerweile verschwunden ist. Sie ist untergetaucht, nachdem Sie versucht hat, einen Brandanschlag auf ihre Universität in Norwegen zu verüben. Im Roman werden den Lesern die Texte der Studentin von einem Gutachter präsentiert, der die Hintergründe des Brandanschlags untersuchen soll. Der Gutachter tritt als eine Art fiktiver Herausgeber der Texte der Studentin auf und weist die Leser auf mögliche Querverbindungen hin. So beschreibt er etwa auch die unterschiedlichen Varianten, wie sich die Handlung des Computerspielentwurfs jeweils fortsetzen ließe und welche Wege für die Hauptfigur innerhalb dieser Landschaft des Spiels möglich wären.
"Er hat die Möglichkeit, einen anderen Weg einzuschlagen, oder mi Schutz der Bäume zu bleiben. Er kann sich entscheiden, zu dem einen oder dem anderen Abschnitt zu kriechen: Entweder zum See, den der Leser auf der FOLGENDEN SEITE findet oder zum Fluss, den er erreicht, wenn er SEITE 49 aufschlägt."
Aus: Carlos Labbé: Piezas Secretas contra el mundo, Editorial Periférica, Cáceres 2014, Übersetzung: Michael Hillebrecht
Carlos Labbé hat sich in seiner Jugend ebenso wie Steven Hall für "Choose your own adventure"-Bücher und frühe Computerspiele in Form eines Textadventures begeistert.
Er greift deren Strategie auf, den Lesern zwei Möglichkeiten zur Auswahl anzubieten und verbindet das mit den offenen und komplexen Strukturen zeitgemäßer Computerspiele.
Carlos Labbé: "Wie wäre es, wenn im Zentrum des Romans ein Open World-Computerspiel ohne klares Ziel stehen würde? Was passiert, wenn jemand in eine Welt kommt, in der es Hinweise gibt, dass etwas passiert, der Plan dahinter aber im Dunkeln bleibt?"
Im weiteren Verlauf von Labbés Roman deutet sich die Möglichkeit an, dass das Computerspiel "Albur" einen noch gravierenderen Hintergrund haben könnte. Reiche Europäer oder Amerikaner könnten demzufolge ein Egoshooter-Spiel am Computer spielen, um es dann mithilfe eines privaten Satellitennetzes im Süden Chiles in tödliche Realität zu verwandeln. Mithilfe des Spiels wäre es dann möglich, vom heimischen Wohnzimmer aus eine reale, tödliche Menschenjagd zu veranstalten. Anknüpfend an die Strukturen von Computerspielen verbindet Calos Labbé in seinem Roman "Piezas Secretas contra el Mundo" experimentelles Schreiben auf überraschende Weise mit einem dezidiert politischen Ansatz.
Operation Prag
Jaroslav Rudiš wurde 1972 in der Tschechoslowakei geboren. Er hat sich in seinen Romanen immer wieder mit der tschechisch-deutschen Geschichte auseinandergesetzt. In Deutschland wurde Rudiš einem breiten Publikum auch als Autor des Comics "Alois Nebel" bekannt, der später ebenso als Animationsfilm im Kino zu sehen war. Obwohl Rudiš noch zu Zeiten der sozialistischen CSSR aufwuchs, spielten Computerspiele auch in seiner Kindheit eine große Rolle:
"Diese Spielautomaten, das gab es eigentlich vor der Wende auch schon. Und die kamen immer in so einem Wagen und mit so einem Anhänger und man zahlte so zwei Kronen und konnte spielen."
Computerspiele boten Rudiš die Möglichkeit, wenigstens virtuell an Orte zu gelangen, die der Eiserne Vorhang in der Realität für ihn unzugänglich machte:
"Und das ist auch vielleicht spannend, weil das einfach noch vor der Wende war, dass wir ein Reise durch Amerika gemacht haben. Es war so ein Computerspiel und da ist man einfach von einer Stadt in die andere Stadt unterwegs mit dem Auto. Eigentlich war das großartig in einem Computerspiel durch Amerika unterwegs zu sein 1988."
Rudiš hat im September 2014 auf Anregung des Internationalen Literaturfestivals Berlin einen Entwurf für ein Computerspiel vorgelegt. Er siedelt es zur Zeit der deutschen Besatzung Tschechiens während des Zweiten Weltkriegs an. Unter dem Titel „Operation Prag" geht es um die Ermordung Reinhard Heydrichs, des obersten deutschen Besatzungsbeamten, durch ein tschechisches Widerstandskommando. Für seinen Spielentwurf hat Rudiš die Figuren der Attentäter aber gegenüber der Realität etwas abgewandelt:
"In meinen Augen sind diese Attentäter wirklich große Helden. Die haben auch dafür mit dem Leben bezahlt. Und da habe ich es nicht gewagt mit den realen Charakteren zu arbeiten. Also ich habe mir so ein Kommando wirklich ausgedacht: Einer ist Tscheche, einer ist Prager Jude und ein dritter ist ein Deutscher. Ich wollte auch, dass sich das so mischt, das alte Praha, das alte Prag, das alte Böhmen, diese kulturelle Mischung finde ich immer interessant."
Bei der Vorbereitung des Attentats müssen sich die Attentäter aber nicht nur vor den Nazis verstecken, sie sind auch mit Widerständen innerhalb der tschechischen Bevölkerung konfrontiert:
"Und das war auch in der Realität so, die wurden von einem Teil der Leute auch gewarnt, dass sie das nicht machen sollen, weil das war zu erwarten, dass die Rache enorm ist. Bis jetzt ist die Gesellschaft in Tschechien so ein bisschen gespalten, war das jetzt gut oder war das jetzt schlecht. Bis jetzt ist das ein großes Thema geblieben."
Virtual Reality
Andreas Lange: "Hier stehen wir vor einem Automaten aus dem Jahr 1994, ein sogenannter Virtual Reality-Automat, man steigt hier auf ein Plateau und setzt sich eine Brille auf den Kopf mit zwei Monitoren davor und man sieht dann eine 3D-Welt, kann sich komplett in dieser umschauen. Und das ist etwas, was dann Mitte der 90er Jahre sehr en vogue wurde."
Computerspiele und Drogen
Diese Virtual Reality-Maschinen mit ihren Verheißungen einer gänzlich neuen virtuellen Welt waren auch für Schriftsteller sehr faszinierend. Der britische Autor Jeff Noon ließ sich davon bereits zu Beginn der 1990er Jahre zu seinem Science Fiction-Roman "Gelb" anregen. Noon wurde 1957 in der Nähe von Manchester geboren und ließ sich für seinen Roman ebenso durch die besondere Atmosphäre inspirieren, die in den frühen 1990er Jahren in der nord-englischen Stadt herrschte. Nicht ohne Grund wurde dort zu dieser Zeit ein Musikstil namens 'Madchester' geprägt."
Jeff Noon: "In den 90er Jahren fing diese ganze House- und Technoszene an aufzublühen. Viele Leute nahmen Ecstasy. In dieser Welt habe ich diese seltsame Geschichte angesiedelt. Ich wollte Virtual Reality in eine Droge verwandeln statt in eine Maschine, denn ich bin kein sehr technischer Typ."
In Noons Roman "Gelb" trägt diese Droge den Namen Vurt und ist gleichzeitig auch eine Art Virtual Reality-Computerspiel. Vurt wird in Form von bunten Vogelfedern konsumiert, die man sich auf die Zunge legt.
Jeff Noon: "Konsumiert man die Droge gemeinsam mit anderen Menschen, haben alle dieselben Halluzinationen. Im Spiel kommt man sich vor wie in der Realität und vergisst, dass es eine andere Welt gibt."
Im Roman werden die Spieler von den verheißungsvollen Namen der jeweiligen Spiele zusätzlich angelockt.
"Die Anhänger von ENGLISH VOODOO verehren die neue Königin. Die Kö-nigin ist die Hüterin unserer Träume. Durch ihre Pforten kann man ein Paradies des Wandels sehen, wo die Bäume grün sind, die Vögel singen und die Züge nach Fahrplan fahren. Voodoo ist eine Wissensfeder. Sie führt in andere Welten. Man kann sie nicht kaufen, sie wird einem gegeben. Aber sieh dich vor. Diese Zuckerwände werden dich bis aufs Mark auspressen."
Aus: Jeff Noon: Gelb, Wilhelm Goldmann Verlag, München 1997, Aus dem Englischen von Ute Thiemann
Trotz dieser Warnungen taucht Scribble, die Hauptfigur des Romans, zusammen mit seiner beinahe inzestuös geliebten Schwester Desdemona in die Welt von "English Voodoo" ein.
Jeff Noon: "Es gibt Spiele, die wirklich sehr gefährlich sind. Man kann darin verletzt werden oder sogar sterben. Und wer im Spiel stirbt, der stirbt auch im wirklichen Leben. Weil das so gefährlich ist, sind diese Varianten des Spiels illegal. Scribble verliert seine Schwester Desdemona an eines dieser Spiele und er versucht sie wiederzufinden."
"Desdemona schob sich die goldene Feder in den Rachen. Ihre Augen blitzten einmal gelb auf, und dann öffnete sich auch schon der Boden unter ihren Füßen, und wu-chernde Ranken zerrten an ihr, gelbe Ranken, gespickt mit Dornen. Desdemona schrie: 'Scribble!!!' Doch was konnte ich machen? Die Tentakel schlangen sich um die Glieder meiner Schwester, ließen an hundert Stellen Blut hervorquellen, wo die Dornen sich durch ihre Haut bohrten."
Aus: Jeff Noon: Gelb, Wilhelm Goldmann Verlag, München 1997, Aus dem Englischen von Ute Thiemann
Im Austausch für seine Schwester, die im Spiel gefangen bleibt, sieht sich Scribble mit einem unförmigen Lebewesen aus der Vurt-Welt konfrontiert, das unverständliche Laute von sich gibt. Neben diesem physischen Austausch von Lebewesen greift das Spiel Vurt aber auch wesentlich tiefer in die Psyche seiner Spieler ein, als es zunächst erscheint.
Jeff Noon: "Im Spiel werden dein ganzes Bewusstsein, deine Erinnerungen und deine Gefühle durchleuchtet. All das wird mit der Welt des Spiels kombiniert. Die Welt von Vurt ist also so etwas wie das Unterbewusstsein, das sich als konkreter Ort manifestiert."
Vurt ist deshalb mehr als nur eine Droge oder ein virtuelles Spiel, es stellt eine eigene Welt dar, die über eigene Lebensformen verfügt und tief in die Psyche ihrer Besucher eindringt oder sich die Spieler sogar vollständig einverleibt. In seinem Roman nimmt Jeff Noon die allumfassenden Verheißungen und Drohungen auf, die sich zu Beginn der 1990er Jahre mit dem Stichwort "Virtual Reality" verbanden. Man muss sich dabei bewusst machen, dass "Gelb" 1993 erschien und das Internet zu diesem Zeitpunkt gerade erst von einer größeren Öffentlichkeit wahrgenommen wurde. Mobiltelefone waren damals noch klobige Apparate, die nur von einer kleinen politischen und wirtschaftlichen Elite verwendet werden konnten. Obwohl Jeff Noon keine besonders intensiven Erfahrungen mit Computerspielen hatte, ließ er sich für seinen Roman doch von deren Dramaturgie inspirieren.
Jeff Noon: "Von Computerspielen übernahm ich die Vorstellung verschiedener Level, auf denen man sich bewegt, immer auf der Suche nach Übergängen zum nächsten Level."
Jeff Noon hat davon ausgehend in "Gelb" einen Kosmos in sich verschachtelter Welten geschaffen, deren Übergänge fließend und deren Zusammenhänge komplex und voller Überraschungen sind.
Jeff Noon: "Mich fasziniert immer noch diese Vorstellung, dass es andere Welten gibt und dass es möglich ist, unsere Realität aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten."
Augmented Reality
Zurück in die Gegenwart: Heutzutage eröffnen Smartphones und mobiles Internet auch für die Gestaltung von Computerspielen weitreichende neue Möglichkeiten.
Andreas Lange: "Und hier gibt es jetzt schon eine ganze Reihe von Spielen, die tatsächlich in der Mischung von Realraum und virtuellem Raum funktionieren. Man muss dann an einen ganz bestimmten Platz in einem öffentlichen Raum gehen, um dann dort ein ganz bestimmtes Spiel dort auch spielen zu können, was mit diesem Platz verbunden ist. Augmented Reality ist da das Schlagwort, erweiterte Realität heißt das dann übersetzt und es sind eigentlich Mischspiele aus real-physischen und virtuellen Schichten."
Twin Komplex
Martin Burckhardt: "Sie haben eine Location, dann gehen sie vorbei und plötzlich poppt ein Audio auf und sagt: "Ich seh dich." Jemand aus dem Fenster: "Ich seh dich." Und plötzlich passiert was und Sie haben das Gefühl, es passiert jetzt, aber es ist de facto vorproduziert und Sie lösen es aus. Trotzdem ist der psychologische Mechanismus so, dass man das Gefühl hat, ja, das ist jetzt echt."
Der 1957 geborene Berliner Spielentwickler und Autor Martin Burckhardt hat diesen etwas gespenstischen Effekt besonders gut zur Geltung gebracht, indem er die Spieler seines Computerspiels "TwinKomplex" mit ihren Smartphones als Agenten durch die Stadt schickte. "TwinKomplex" konnte von 2011 bis Ende 2014 online gespielt werden:
"Die Logik war ganz simpel, es gab eine Decentral Intelligence Agency - eine Dezentrale Informationsagentur - DIA - und man konnte nach einem bestandenen Psychotest Mitglied der DIA werden und bekam dann Aufgaben zugeteilt."
Ungewöhnlich war vor allem die Tatsache, dass die Spieler in diesem Spiel nicht mit animierten 3D-Figuren konfrontiert waren, sondern mit realen Schauspielern innerhalb von Videosequenzen.
Martin Burckhardt: "Und dann kommt zum Beispiel ein Video, das sieht dann in etwa so aus. Und die Machart wird deutlich, es ist der Blick in die Kamera hinein, es ist eine Kontaktaufnahme.
(Christian Brückner im Video:) "Großartig, den Test haben Sie hinter sich, aber warum haben Sie sich überhaupt darauf eingelassen. Warum sind Sie hier?"
Die Konfrontation mit realen Schauspielern, die direkt in die Kamera schauen, verstärkt den gewünschten Effekt der Verwischung der Grenzen von Realität und Spiel. Ebenfalls ungewöhnlich war, dass die Spieler ihre Aufgaben in Teams von vier Spielern lösen mussten. Und wenn die Spieler nicht nur im virtuellen Raum zusammenarbeiteten, sondern sich auch in der realen Welt einander annäherten, erzeugte das weitere ungewöhnliche Effekte.
Martin Burckhardt: "Man sah plötzlich auf dem Smartphone eben nicht nur sich selbst, sondern da ist ein anderer. Und dieses Moment, dass das Leben plötzlich merkwürdig bedeutsam wird, da ist jemand in der Nähe, der ist auch Teil dieses Clubs."
Martin Burckhardt und sein Team aus Game-Designern unternahmen noch einiges mehr, um ähnliche Effekte zu erzielen:
"Das ging dann auch so weit, dass relativ viele Fake-Webseiten gebaut wurden, man begann dann, falsche Profile auf Facebook anzulegen. Es war wirklich eine vollkommene Verunklarung, was Realität und Spiel ist."
Gamification
Andreas Lange: "Mittlerweile erleben wir, dass also gerade dieses Know How, das jetzt in über 40 Jahren kommerzieller Computer- und Videospiel-Entwicklung entstanden ist auch jetzt in andere Bereiche übertragen wird, die gar nichts mit Computerspielen zu tun haben. Das läuft unter dem Schlagwort Gamification und ist der Versuch, dieses Wissen und auch die Fähigkeit, Menschen zu motivieren, lange und hochkonzentriert in diesen virtuellen Umgebungen zu agieren, zu interagieren, in andere Bereiche zu übertragen. Da geht es natürlich auch sehr stark in Bereiche des Konsums, des Marketings, aber auch um Arbeitsplatzgestaltung."
Score
Martin Burckhardt hat die Tendenz seines Spiels TwinKomplex, die Grenzen zwischen Realität und Spiel zu verwischen, in seinem ersten Roman "Score" noch verschärft. Dieser Science Fiction-Roman ist in einer relativ nahen Zukunft im Jahr 2039 angesiedelt.
"§1. Wir erklären, dass Begriffe wie Geschlecht, Rasse, Religionszugehörigkeit, Kultur oder Identität dem Dunklen Zeitalter angehören, ebenso wie der Kapitalismus, der die Menschheit unter das Joch der Ausbeutung gezwungen hat. Demgegenüber vertreten wir die Überzeugung, dass der Mensch nur dort ganz Mensch ist, wo er spielt. Die Freiheit des Spiels endet dort, wo der Mitspieler psychisch oder physisch verletzt wird. Die Strafe für ein Zuwiderhandeln besteht darin, am eigenen Leib zu erleben, was man dem anderen zugefügt hat."
Aus: Martin Burckhardt: Score, Albrecht Knaus Verlag, München 2015
In Burckhardts Roman hat sich in der westlichen Welt eine Gesellschaft des allumfassenden Spiels entwickelt, die auf dem Score basiert, der dem Roman seinen Titel gibt. Der Score ist eine neue Währung. Es existiert kein Geld mehr, dass durch Arbeit erwirtschaftet werden muss, weil die meisten Arbeitsprozesse von Computern und Maschinen erledigt werden. Die Menschen erhalten stattdessen Score-Punkte für jede Form der sozialen Interaktion. Dabei sind die Grenzen zwischen inszenierten Spielen und den ganz alltäglichen Prozessen sozialer Interaktion kaum noch wahrzunehmen. Beides wird gleichermaßen mit Score-Punkten bewertet.
Martin Burckhardt: "Und es ist auch gar nichts Großartiges dabei, man spürt gar nicht, dass das Spiel ist, das ist das Leben. Man spielt das Leben."
"Die junge Frau, die ihm den Eistee servierte, schenkte ihm, als er sie musterte, ein dankbares Lächeln. Dann stöckelte sie hüftschwingend zu ihrem Tre-sen zurück. Auch dieser Gang war ein catwalk, der allein seinem Plaisir diente und ihr wiederum einen erklecklichen Score-Betrag einbrachte. Als er die Abbuchung auf seinem Konto registrierte, erfüllte ihn das mit einer gewissen Befriedigung. Denn dieser Me-chanismus war alles andere als trivial. Ganze zwei Jahre hatte die Abteilung daran gearbeitet, diese unterschwelligen Tauschakte in eine Ökonomie der Mikro-Gefühle zu übersetzen."
Aus: Martin Burckhardt: Score, Albrecht Knaus Verlag, München 2015
Damian, die Hauptfigur des Romans, arbeitet für die Firma Nollet. Diese Firma hat die technischen Voraussetzungen für die Einführung des Scores geschaffen. Sie hat damit im Laufe der Zeit fast so etwas wie die Rolle einer Regierung der westlichen Welt übernommen. Die Ökonomie der Mikro-Gefühle setzt allerdings die konstante Überwachung der intimsten Regungen eines jeden Menschen voraus. Das wird aber von den meisten Menschen klaglos akzeptiert, weil es mit einem Grundeinkommen und einer Kultur des konstanten Spiels verbunden ist.
Martin Burckhardt: "Das Spiel, und das ist auch etwas Depressives, wenn man so will, das Spiel wird kaum mehr als Spiel erfahren, sondern als Naturzustand, das heißt, das führt die Gesellschaft dazu, dass sie dieses Befreiungsmoment, also das Glücksgefühl eine Grenze überschreiten zu dürfen, gar nicht mehr so hat."
In Martin Burckhardts Roman "Score" findet so etwas wie die freundliche Übernahme der physischen Realität durch das Spiel statt. Die virtuelle Welt des Spiels wird nicht wie in Jeff Noons Roman "Gelb" aus den 1990er Jahren zu einer alternativen Parallelwelt, in die man vollständig eintaucht, sie durchdringt vielmehr die physische Welt auf einer Mikroebene. Als Brille oder Kontaktlinse tragbare Computerdisplays fügen der physischen Realität gewissermaßen weitere Ebenen hinzu, ohne diese vollständig zu ersetzen. Auch die neue Währung des Score durchdringt den gesamten Alltag und wird Teil der physischen Welt. Burckhardts eigenes Spiel "TwinKomplex" und andere Formen von Augmented Reality wie etwa Googles Datenbrille Glass zeigen, dass Burckhardts Roman gar nicht so weit vom derzeitigen Stand der Technik entfernt ist.
Eine andere Welt
Die neuen Techniken der Augmented Reality erweitern zwar die Realität, sie erreichen aber nicht das vollständige Eintauchen in eine andere Welt, wie es sich etwa Jeff Noon in seinem Virtual Reality-Roman „Gelb" in den 1990er Jahren vorgestellt hat. Weit entfernt von einer technischen Realisierbarkeit hatte sich Noon damals eine virtuelle Welt ausgedacht, die sich in jeder Hinsicht wie die reale physische Welt anfühlen sollte. Auch wenn mittlerweile 20 Jahre ins Land gegangen sind, ist selbst die heutige Technologie von einer so umfassenden Simulation der physischen Realität immer noch weit entfernt. Vielleicht ist deshalb die alte Kulturtechnik der Literatur immer noch ein gutes Mittel, um sich in eine andere Welt zu versetzen.
Tim Etchells: "Wir leben mit unseren Körpern in der materiellen Welt, aber seit es das Erzählen von Geschichten gibt, können wir in eine andere Welt eintauchen, die durch Sprache erzeugt wird. Computerspiele mit ihren virtuellen Welten sind eigentlich nur Abwandlungen davon."
Steven Hall, der sich bereits als Kind für die interaktiven Möglichkeiten von "Choose your own Adventure"-Büchern begeisterte und in seinem eigenen Roman "Gedankenhaie" die Grenzen der Literatur und des Mediums Buch ausgelotet hat, geht sogar noch weiter:
"Lesen kommt für mich bis heute der virtuellen Realität am nächsten, weil es sich um eine maßgeschneiderte und reine Vorstellungskraft fast ohne Requisiten handelt. Man erzeugt diese Welt nur für sich selbst. Computerspiele sind, was ihre Interaktivität betrifft, zwischen Büchern und Filmen angesiedelt. Sie sind interaktiver als ein Film, aber weniger interaktiv als ein Buch. Ich meine Bücher mit mehreren möglichen Enden und der Möglichkeit, dass Geschichten kollabieren, sodass einem alle möglichen Wege offen stehen ohne jeglichen Einsatz von Technologie. Viel näher kann man einer anderen Welt nicht kommen."
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