Hinweis: Die Illustrationen stammen aus dem Band "Gleisdreieck" von Jörg Ulbert und Jörg Mailliet, Verwendung mit freundlicher Genehmigung von Berlin Story Verlag.
Freiheiten im Schatten der Mauer
West-Berlin, das war mal eine hochsubventionierte Insel der Glückseligen. Bewohnt und belebt von Wehrdienstverweigerern, Punks, Lebenskünstlern. Autoren wie Oskar Roehler erzählen vom Leben im Schatten des "Antifaschistischen Schutzwalls" und vom Wandel der Szene.
Jörg Ulbert: "Also, das ´Gleisdreieck´ war für mich genau das, was ich aus Berlin in Erinnerung behalten habe."
Jörg Ulbert, 48.
Ulbert: "Das heißt, die Industrievergangenheit; die Vergangenheit einer großen Stadt, mit Anspruch auf Weltstadt, mit riesigen Gleisanlagen, die sich selber überlassen wurden, jedenfalls weitgehend. Und ein riesiger Umsteigebahnhof, auf dem niemand mehr ein- und ausstieg, weil man dort nicht mehr umsteigen konnte."
Seit 20 Jahren lebt der Westberliner Jörg Ulbert in Frankreich. Im vergangenen Jahr hat er „Gleisdreieck – Berlin 1981" veröffentlicht, eine Graphic Novel, die im linksautonomen Milieu der ehemaligen Frontstadt spielt. Warum ausgerechnet Gleisdreieck?
Ulbert: "Ist ´ne U-Bahnstation, über die ich tagtäglich gefahren bin oder die ich durchfahren habe mit der U-Bahn, jeden Tag. Weil dieses Gebiet um das Gleisdreieck Teil dieser Suche nach Freiheit war."
Zwei Hochbahnviadukte kreuzen sich zwölf Meter über der Straße. Hier verkehren die U-Bahn-Linien eins und zwei. Im Deutschen Reich war das Gleisdreieck - zwischen Anhalter und Potsdamer Güterbahnhof - ein wichtiger Knotenpunkt für Güter und Fernverkehr.
Zu Westberliner Zeiten geriet das zuvor im Zentrum der Stadt gelegene Areal mit dem 1912 in Betrieb genommen Bahnhof in Vergessenheit. Kreuzberger Mauerrandlage. Gleisanlagen, Stellwerke und Lokschuppen waren Eigentum der Ostberliner Reichsbahn; das Gelände gehörte Westberlin. Das Gleisdreieck verkam zu einer riesigen Industriebrache, versunken in einen für die geteilte Stadt typischen Dornröschenschlaf. Verfall. Ein Westberliner Markenkern.
Ulbert: "Das Gelände war völlig sich selbst überlassen. In einem der dortigen Wassertürme saß eines der wenigen Privatradios, die es damals gab."
Orte wie Gleisdreieck gab es viele in der Stadt. Gern wurde ihnen ein romantisch-verklärender Charme angedichtet, was über Stagnation und Depression des Stillstands hinwegtrösten sollte.
Ulbert: "Diese Geschichte ist so aufgebaut, dass zwei Erzählstränge dann zueinander finden am Ende. Und auch da erschien mir die Eisenbahnmetapher richtig zu sein. Deshalb 'Gleisdreieck'. Und denn liegt´s natürlich genau am Schnittpunkt zwischen Kreuzberg 61, Schöneberg und Tiergarten. Genau also in der Gegend, wo sich die Handlung hauptsächlich abspielt."
Westberlin, 1981: Die Stadt ist geprägt von Gegenkulturen und Kaltem Krieg. Das linksalternative Milieu - etwa 100.000 Menschen in der Zweimillionenstadt - begehrt immer stärker auf. Viele sind jung, kommen aus gebildeten Kreisen. Immer lauter wird der Protest, auch wegen der großen Wohnungsnot. Leerstehende Altbauten werden besetzt. Kreuzberg und Schöneberg sind die regionalen Hotspots der Bewegung in dieser zerklüfteten, vielfach hässlichen Stadt. Die Protagonisten, über unzählig viele linksalternative Projekte und Stadtteilinitiativen vernetzt, denken antiinstitutionell, träumen von Basisdemokratie. Autoritäten werden abgelehnt; Hierarchien bekämpft.
Beton Combo, Kreuzberg, 1980: "Kreuzberg lebt, ist´s auch ´ne Trümmerstadt. Kreuzberg lebt, auch wenn alles in Beton erstarrt. Kreuzberg lebt, auch wenn die Pumpe winkt. Kreuzberg lebt, auch wenn man im Alkohol versinkt. Kreuzberg lebt und wenn sich die Bullen ins Knie ficken. Kreuzberg letztes Bollwerk in dieser abgefuckten Stadt...."
Vor diesem Hintergrund kreuzen sich in Jörg Ulberts "Gleisdreieck" die Wege eines Polizisten und eines Terroristen. Der erste hat den Auftrag, den anderen zu finden und zu stoppen. Der zweite bereitet eine Entführung vor, von der er hofft, dass sie mehr Gleichgesinnte mobilisieren wird. Für Jörg Ulbert, der gerade an einem zweiten West-Berlin-Comic arbeitet, war es wichtig, die Geschichte nicht nur mit Worten, sondern vor allem über Bilder zu erzählen.
Ulbert: "Ich dachte mir, dass es eine gute Idee ist, auch ´ne Vorstellung von der Stadt zu bekommen. Jugendkulturen spielten ´ne Rolle dabei. All das ist, denke ich, graphisch besser zu verstehen als mit simplen Beschreibungen. Wir haben uns auch große Mühe gegeben, das Stadtbild so darzustellen, wie es denn in diesem Jahr 81 auch wirklich gewesen ist."
Markante Orte bilden die Kulisse: Westhafen, Nollendorfplatz, die Hochbahn, die Gebäude der Technischen Universität am Ernst-Reuter-Platz, die Hausboote am Tiergarten. Mit dünnen Strichen und kräftigen Farben entwirft Zeichner Jörg Mailliet ausdruckstarke Bilder. Lässige Zeichnungen, knapper Text, wie hingeworfen für das Storyboard eines Films. Menschenleere Stillleben einer untergegangenen Stadt. Ein melancholischer Blick zurück. Gleisdreieck verhilft dem alten Westberlin-Feeling zu einem großen Comeback. Das Duo Ulbert-Mailliet hat einen scharfen Blick für Details.
Ulbert: "Da ist man gezwungen, Fotos zu Hilfe zu nehmen. Ich hab selber ´ne ganze Reihe Fotos gemacht in der Zeit, die wir benutzt haben, von denen ich sicher war, dass sie aus diesen Jahren stammen oder zwei, drei Jahre vielleicht jünger sind, aber die die Sache noch sehr gut beschreiben. Ich hatte irgendwie in Erinnerung, dass alle schon kurze Haare hatten. Nee, 81 haben alle noch lange Haare, oder viele auf jeden Fall."
Abwärts, Maschinenland, 1980: "Linke Seite Supermarkt. Rechte Seite Abenteuerspielplatz. In der Mitte Autobahn...Lalalalalalalalala."
Erzähler: Oskar Roehler ist 20, als er der unterfränkischen Provinz entflieht. 1979 kommt er nach Berlin.
Oskar Roehler: "Also, man ist ja viel rumgelaufen, viel marschiert....Ich weiß gar nicht, hätte ich einen Kilometerzähler unten am Fuß gehabt, ich schätze mal, ich wäre am Tag bestimmt so auf 15 bis 20 Kilometer gekommen."
Die Haare kurz geschoren wie ein Punk, mit Knobelbechern und schwerem Wehrmachtsledermantel durchmisst Roehler die Stadt, sucht sich selbst, bekämpft die psychischen Folgen seiner schwierigen Nachkriegskindheit auf diesen Gewaltmärschen. Immer einen Schritt schneller als die Panik. Oskar Roehler, gequält von Depressionen, braucht einen inneren Kompass, muss den in ihm lodernden Wahnsinn irgendwie in den Griff kriegen.
"Alles ist allein darauf angelegt zu marschieren."
Von den rastlosen Jahren dieser Sinnsuche erzählt der 56-Jährige in seinem neuen Buch Mein Leben als Affenarsch.
"Westberlin ist die totale Reduktion auf das Wesentliche, sowohl für das geistige als auch das körperliche Überleben im Krieg gegen sich selbst."
Roehler: "Als mein Kopf noch relativ leer war und ich mir gewünscht hatte, er wäre voll, war die einzige Möglichkeit, akuten Depressionen zu begegnen, zu marschieren. D.h., die kleine Wohnung zu verlassen, die 15 qm, zweiter Hinterhof, die es immer war. Es war immer, kategorisch, zweiter Hinterhof für die, die Sozialhilfe bekamen."
Die erste Bleibe, ein dunkles Souterrain-Loch in der Lüderitzstraße, Wedding. Billiger Arbeiterbezirk. Von Glamour keine Spur. Auch 35 Jahre nach dem Krieg hat sich an den Häusern wenig getan. Zum Teil waren die Mietskasernen, größtenteils um die Jahrhundertwende im Zuge des Berlin-Booms, den die Industrialisierung ausgelöst hatte, erbaut, seit Jahrzehnten nicht saniert worden. Überall blättert Putz. In die engen, grauen Hinterhöfe fällt kaum Tageslicht. Moder- und Kohlsuppengerüche schlagen einem entgegen, wenn man die tristen Höfe dieser freudlosen Gegend betritt.
Roehler: "Allein schon dieses architektonische Bild, was so in den Gemäuern festgehalten wurde, das hat einen depressiv gemacht."
Arbeiten kann Roehler nicht, viel zu sehr kreist er in seinen Gedanken um sich selbst. Das Sozialamt zahlt.
Roehler: "Man hat ja damals geplant, da in bestimmte Bezirke nur Türken reinzusetzen, damit die sich bloß nicht mischen mit den ehrenwerten Westberliner Bürgern. Und da, wo die waren, da konnte man dann eben auch hin. Da gab´s dann aber auch dieses ziemlich ekelerregende Berliner Hinterhofproletariat noch. Wo Du so gespürt hast, das sind ´ne Generation Faschisten, Nationalisten, ganz fieses Mörderpack, was da halt irgendwo so in den Hinterhöfen hockt und vor sich hin grunzt und die Frau schlägt und übel ausdünstet."
Während seines narzisstischen Feldzugs gegen die Dämonen in seinem Kopf bringt Oskar Roehler kaum Interesse für anderes auf. Sorgen der Hausbesetzerszene, Nöte des linksalternativen Milieus? I don´t care! Für sowas hat der verwirrte Flaneur keinen Nerv. Zwar patrouilliert er auf seinen Streifzügen auch die einschlägigen Szene-Treffpunkte in Kreuzberg oder Schöneberg; geht ins Risiko an den Yorckbrücken, wo literweise Wodka fließt und Blixa Bargeld den Barkeeper gibt, oder ins SO 36 in der Oranienstraße. Trotzdem bleibt Oskar Roehler, wie er in Mein Leben als Affenarsch schreibt, irgendwie außen vor : ein scheuer Zaungast.
"Nach etwa einer Stunde Fußmarsch erreiche ich die Oranienstraße. Die ganze Straße ist voll mit Punks und New Wave Typen, die alle ins SO 36 wollen."
Äußerlich eine Mischung aus Punk und Dandy; innerlich existenzialistischer Bohemien. Oskar Roehler ist hin- und hergerissen.
"Ich warte draußen mit den anderen. Es ist bereits dunkel. Ab und zu wirft jemand eine Flasche gegen die Wand. Die Straße ist übersäht von glitzernden Glassplittern. Ich lehne an der Backsteinwand neben dem Eingang, rauche und blicke mich neugierig um."
"Mit jedem Jahr wurde die Luft dicker"
Joy Division, New Dawn Fades, 1979: "A change of speed, a change of style. A change of scene, with no regrets. A chance to watch, admire the distance. Still occupied, though you forget. Different colours, different shades, over each mistakes were made..."
"Ich merke, wie ausgehungert ich bin, wenn ich all die Leute in meinem Alter sehe und ihre Energie spüre. Manche sind perfekt gestylt und zum eigenen Kunstwerk hochstilisiert. Ein Mädchen, das mir besonders gefällt, erwidert meinen Blick aus riesigen, porzellanblauen Augen, die mit schwarzem Kajal umrandet sind. Während sie mich anguckt, wippt sie mit dem Becken zur Musik aus der Kneipe. Ab und zu blitzen Strapshalter und ein Stück nackter, weißer Haut unter ihrem Ledermini hervor."
Joy Division, New Dawn Fades.
"I took the blame. Directionless so plain to see. A loaded gun won´t set you free. So you say."
"Ab und zu lacht sie dreckig und zeigt ihre makellosen, großen, weißen Zähne. Sie trägt einen weißblonden Pagenkopf. Der Pony ist messerscharf gerade einen Zentimeter über den arrogant hochgezogenen Augenbrauen geschnitten. Ihre Haut ist so schön blass und angekränkelt, und sie ist so sehr in sich selbst verliebt, dass man sich automatisch auch in sie verliebt. Sie ist genau der Typ Mädchen, an den ich dachte, als ich mit Laura mein finales Trennungsgespräch führte und sie anschrie, dass ich keine Lust mehr hätte, mein ganzes Leben in den Playboy zu wichsen, sondern nach Berlin gehen würde, um endlich zu ficken und Drogen zu nehmen."
Roehler: "Und die Luft wurde...mit jedem Jahr wurde die Luft dicker. So als wäre da irgendwas gewesen."
Oskar Roehler lässt sich weiter vom Amt aushalten, bleibt Gefangener seiner Depression.
Roehler: "Verdienen? Für andere Leute zu arbeiten, war für mich vollkommen tabu. Das kam irgendwie überhaupt nicht in Frage. Das war so die absolute Zeitverschwendung. In mir hat die Stadt keine künstlerische Energie ausgelöst, sondern nur Apathie. D.h., ich habe in den 80er Jahren, wenn man´s mal genau nimmt, eigentlich nichts zustande gebracht."
Ideal, Berlin, 1980: "Nachts um elf auf´m Kurfürstendamm läuft das Touristenkulturprogramm. Teurer Ramsch am Straßenstand. Ich ess´ die Pizza aus der Hand. Ein Taxi fährt zu Romy Haag, Flasche Sekt 150 Mark. Für ´nen Westdeutschen, der sein Geld versäuft. Mal sehen, was im Dschungel läuft."
Irgendwann kriegt Oskar Roehler doch die Kurve, tauscht die engen Weddinger Hinterhöfe gegen ein Leben am Kurfürstendamm, zieht in eine Schwulen-WG:
Roehler: "Das war in der Nestorstraße, und ich bin dann so ein bisschen in die Schwulen-Bewegung eingetaucht und hab dann irgendwie gemerkt, wie cool die eigentlich die ganzen Sachen handeln, mit denen so die ganzen Heteropärchen nicht wirklich klarkamen. Was Sex angeht usw. Die haben zum Teil so einen Zettel hinterlassen, in der Küche, der eine zum anderen: Du, ich bin jetzt kurz in der Klappe, nebenan. Bin kurz ficken, bin in 20 Minuten wieder da. Setz schon mal die Raviolis auf."
Ku´damm. Der runtergewirtschaftete Prachtboulevard in Charlottenburg. Obwohl eingebremst durch Westberliner Piefigkeit, verströmt er selbst zu Mauerzeiten immer noch eine Aura, die an großbürgerliche Glanzzeiten erinnert. Flankiert von hochherrschaftlichen Altbauten zu beiden Seiten der großzügig breit angelegten Trottoirs, ist der dreieinhalb Kilometer lange Ku´damm zwischen Gedächtniskirche und Halensee für viele noch immer die Lebensader der eingemauerten Halbstadt. Das Herz der City West: Fluchtpunkt und Sehnsuchtsort. Ein Hauch von weiter Welt.
"Das Geschehen auf der Tanzfläche schnurrt mit einer solchen Vollendung ab, dass ich einen Moment zweifele, ob das Ganze echt oder nur ein Gaukelspiel einer Feenwelt ist."
Westberliner Bourgeoisie und Künstlerdynastien treffen sich im "Dschungel"
Roehler zieht es oft in den Dschungel, damals einer der angesagtesten Clubs, gelegen in einer stilleren Seitenstraße in Ku´damm-Nähe.
"Diese perfekte Oberfläche, sie ist erworben, vererbt, altes Selbstverständnis, alte Familien, alte Westberliner Bourgeoisie und Künstlerdynastien. Hier gibt es keine Spießer, auch keine wildgewordenen Spießer wie mich, aus kleinen, ungeordneten Verhältnissen. Die ganze Grandezza ist echt. Wie überwältigend der bloße Effekt von Schönheit doch sein kann."
Nirgendwo in Deutschland ist man so frei wie in der eingemauerten Stadt. In Berlin wird anders gelebt. Jeder darf sein, was er will. Die Schwulenbewegung feiert sich und diese Freiheit Anfang der 80er Jahre hemmungslos. So was hat Oskar Roehler, ansatzweise, nur noch in München erlebt.
Roehler: "München war ´ne ausgeprägte Kultur- und Filmstadt. Aber Berlin war natürlich das El Dorado. Und ich war da sowas wie ein Exot. Die waren überall; da hin zur Vernissage, zu Salomé. Danach zu Romy Haag, danach ins Theater, in die Schaubühne, haben sich was angeguckt. Dann haben sie sich noch ´ne Band reingezogen, dann sind sie irgendwo feiern gegangen, exzessiv, in der Paris Bar, oder was weiß ich. Das war ´ne junge, starke und tolle Bewegung."
Ulbert: "Ich hab mich nie eingesperrt gefühlt. Dafür war die Stadt zu groß."
Jörg Ulbert, der Autor von Gleisdreieck, ist in Britz, einem eher spießigen Neuköllner Ortsteil, aufgewachsen. Die Mauer war dort ganz nah.
Ulbert: "Nee, eingesperrt waren wir nie. Das ist ´ne Frage, die mich mehr als erstaunte, wenn mich Leute fragten, ob man sich mit der Mauer drum herum nicht fürchterlich beengt fühlte."
Ein geschütztes Reservat für Lebenskünstler
Platz zum Experimentieren gab es genug. West-Berlin, der große Abenteuerspielplatz. Gleisdreieck zeigt viele Orte, an denen diese eigenartige Weite in der eingeschlossen Stadt spürbar war. Verfallene, postindustrielle Brachen so wie die Gegend um das Gleisdreieck. Oder das weitläufige Areal am Westhafen, der riesige Tiergarten. Schauplätze im Kontrast zu den engen Arbeitervierteln in Kreuzberg oder am Wedding.
Ulbert: "Die Stadt ist mir in Erinnerung als groß. Das ist das Einzige, woran ich mich wirklich erinnern kann. Ich hab immer wieder Viertel oder Straßen gesehen, die mir vorher nie untergekommen waren."
Die Mauerkinder Ulbert und Mailliet haben in Gleisdreieck immer auch die Orte, an denen man diese eigenartige Westberliner Weite fand, im Blick. Das Offene, Unverstellte, Großzügige. Eine ganzseitige Zeichnung zeigt den prachtvollen Kaiserdamm, Blickrichtung hinunter zur Siegessäule. Ein heißer Sommertag und trotz der vielen Autos, die die vielspurige Straße verstopfen, spürt man diese eigenartige Westberliner Offenheit.
Bernd Cailloux: "Schon beeindruckend, die ersten Momente in dieser Stadt, der freie, kilometerweit reichende Blick beim Hineinfahren von Norden her...."
Auch dem angehenden Schriftsteller Bernd Cailloux fällt das auf. Als er 1976 nach Berlin zieht, hat er, wie er in seinem Roman Gutgeschriebene Verluste beschreibt, genau diese Perspektive vor Augen.
Bernd Cailloux: "Ein tatsächlich großer Moment, vom Theodor-Heuß-Platz entlang der Sichtachse die Straßen bis zum Brandenburger Tor runtergucken zu können, die historische Großzügigkeit des Ganzen, seine verpflichtende Dimension zu erfassen....Das hatte jene metropolitane Tiefe, in der das Ende der Straßen im Sommer unscharf zu flimmern beginnt und hinter dem Flimmern die Stadt unendlich weitergehen mochte, wie in New York oder Athen und nirgends sonst in Deutschland."
Im Schatten des antiimperialistischen Schutzwalls, den die DDR im August 1961 quasi über Nacht hochzieht, um zu verhindern, dass immer mehr gefrustete Bürger dem Arbeiter- und Bauernstaat entfliehen, ist im Westteil, zwei Jahrzehnte nach dem Mauerbau, eine ganz besondere Szene herangewachsen. Die Mauer schottet West-Berlin ab. Ein geschütztes Reservat für Lebenskünstler entsteht, das Bernd Cailloux in seiner fiktionalisierten Lebensbilanz skizziert.
Bernd Cailloux: "In dieser schöpferischen, Westberliner Atmosphäre fühlte ich mich relativ schnell wohl – ohne selbst ernsthaft aktiv zu werden."
Anders leben als überall sonst in der BRD
Genau das richtige Klima für Bernd Cailloux. Nach Stationen in Bremen, Düsseldorf und Hamburg braucht er damals, mit 31, dringend einen Neuanfang. Nach seiner Ankunft vor fast 40 Jahren hat Cailloux bald das Gefühl: „zur Avantgarde eines kunstorientierten, subversiven und zunächst nur wenigen Auserwählten möglichen Lebensstils zu gehören".
Von diesen frühen Berliner Jahren erzählt sein Buch auf humorvolle und ironische Weise.
Bernd Cailloux: "Anders zu leben als der Rest der Republik, darum ging´s, kritischer in der Haltung, erfinderischer in der Gestaltung des individuellen Daseins, und das im ewig jugendlichen Gefühl von Vergnügen – auch für Erwachsene. Einladend auch, dass es im Westteil keine strikt hierarchisierte Gesellschaft mehr zu geben schien, weil sich das geschäftswillige Bürgertum spätestens seit dem Mauerbau verdünnisiert hatte und Platz machte."
Viele große Firmen und Geschäftsleute kehren der amputierten Stadt den Rücken; anderswo gibt es mehr Glück, lässt sich lauter lachen und leichter Geld machen. Die Einwohnerzahl schrumpft. Andererseits: Wer Berliner ist, bleibt der Stadt treu. Meistens jedenfalls. Und es kommen auch Neue. Typen wie Bernd Cailloux. Typen, die ins Risiko gehen, sich weit nach Osten wagen, auf der Suche nach einem neuen Kick. Wo ist dieser Thrill schneller und leichter zu haben, als auf dem letzten Vorposten westlicher Freiheit, umgeben von nichts als realsozialistischer DDR-Ödnis?
Bernd Cailloux: "Noch Monate nach dem Umzug setzte ich mich bei jeder Rückkehr kurz hinter der Grenze in eine zwischen hohen Neubauten überdauernde Nachkriegsbarackenkneipe namens Jäger-Klause. Ich brauchte – wie ein reisender Handelsvertreter vor seinem Termin – ein paar Minuten der Besinnung vor dem Eintritt."
Es kommen Sinnsucher ohne festen Plan. Leute, die sich auf das Abenteuer West-Berlin einlassen, ohne genau zu wissen, wohin das führt. Bernd Cailloux ist einer von ihnen, bleibt, sammelt Eindrücke, fängt an zu schreiben. West-Berlin lässt ihn nicht mehr los. Immer noch trifft man ihn im Savo, seinem Schöneberger Stammcafé.
Bernd Cailloux: "Danach wusste ich wieder, dass die Pracht West-Berlins nur rudimentär vorhanden und in Teilen schwer lädiert, wenn nicht gar verschüttet war. Die Tristesse der milchkaffeebraunen Altbauten, der angeschossenen Brandmauern fiel stärker als anderes ins Auge – in Waschbetonkübeln vertrocknete Krokusse, wie gepflanzt für Künstlerfotos in Schwarzweiß."
"Träumt nicht auch Ihr von Zusammenhängen und Liebe gegen das alltägliche Einerlei?"
Fragt im November 1981 ein Hausbesetzterrat in einem offenen Brief, der an der Fensterscheibe eines Besetzerladens in Schöneberg hängt, die Bürger des Westberliner Stadtteils.
"Wir versuchen in den Häusern das zu leben, was in der Gesellschaft nicht mehr geht: Zusammenhänge und Hoffnung...Ihr sagt, wir seien gewalttätig. Aber seht doch, woher kommt denn die Gewalt? Haben wir die Stadt Zug um Zug kaputtsaniert? Glaubt doch nicht, dass es für Euch besser wird, wenn wir aus dem Weg geräumt sind."
Bundeswehrflüchtlinge unter sich
Wildenhain: "Wir haben gesucht und haben uns in den einschlägigen Bezirken umgeschaut, also im Wedding, in Kreuzberg und eben auch in Schöneberg und haben uns dann für Schöneberg entschieden."
Michael Wildenhain, 56.
Wildenhain: "Zum einen, weil das Haus ganz o.k. war, dem Anschein nach. Und zum anderen, weil wir eben aus Schöneberg waren. Und das ist das Haus in der Mansteinstraße, das gibt´s ja immer noch, 10 und 10 a."
Erzähler: Michael Wildenhain wächst in Schöneberg auf. Als Student schließt er sich Anfang der 80er Jahre, bevor er Schriftsteller wird, zwei Jahre lang der Hausbesetzerszene an. Für sein Schreiben ist diese Zeit wichtig. Auch sein neuer, stark autobiographisch geprägter Roman Das Lächeln der Alligatoren spielt zum Teil im hochpolitisierten linken Westberlin der späten 70er Jahre. Das Haus, das er zusammen mit einer größeren Gruppe ehemaliger Schöneberger Schulkameraden im Januar 1981 in der Mansteinstraße besetzt, steht etwa 500 Meter vom Gleisdreieckpark entfernt.
Wildenhain: "Wir sind da mühelos reingekommen und sind dann auch dringeblieben, obwohl es streckenweise sehr dünn besetzt war. Also, es hätte irgendwie eine Funkwagenbesetzung gereicht, um uns dann da rauszuholen."
Zunächst geschieht aber nichts. Der SPD-geführte Senat lässt die Besetzer gewähren. Doch der neue CDU-Bürgermeister Richard von Weizsäcker ändert die Linie. Immer mehr Häuser werden geräumt. Bei einer Protestdemo gerät der vermummte Klaus-Jürgen Rattay unter einen BVG-Bus und stirbt. Es gibt Straßenschlachten mit der Polizei. 90 Beamte werden verletzt.
Wildenhain: "Die andere Seite war, dass es in Berlin natürlich ´ne große Menge an...tja...Studenten gab, die bereit waren, so ´ne soziale Bewegung mitzutragen, zumal viele Studenten ja auch davon betroffen waren, keine Wohnung zu haben und außerdem auch offen waren für eben neue Arten des Wohnens, größere Gruppen usw. Also d.h., es gab auch schon ein Potenzial."
Middle Class Fantasies, Helden, 1980: "Dein Dienst fürs Vaterland! Dein Dienst für Vater Staat! Sie geben Dir die Waffen. Der Mord erhält sie an der Macht. Das Volk verlangt nach Härte. Ihre kleinen Hirne voller Kacke..."
Wildenhain: "Und wir hatten ja sehr viele Bundeswehrflüchtlinge. Also, wir hatten ´ne große Menge an jungen, männlichen Erwachsenen im besten Alter für derartige Aktivitäten, die schon aufgrund ihrer Verweigerung, sich zum Bund ziehen zu lassen, so eine gewisse oppositionelle Haltung den herrschenden Zuständen gegenüber zum Ausdruck gebracht hatten."
Middle Class Fantasies, Helden: "Sie wollen dich ficken, wart´s nur ab. Ihre Pest trägt Beulen, so lange sie lebt. Scheiß zurück in ihre Fressen..."
Wildenhain: "Und dazu kommt auch noch....bei uns galt Alliiertes Recht. Wir befanden uns in einem Spannungsfeld internationaler Dimension. Und es wird vielleicht mal interessant werden, wenn die Archive geöffnet sind, zu schauen, inwieweit – bei der Erwägung der Regierenden – wie jetzt darauf zu reagieren sei, auf die sich entwickelnde und teilweise ja sehr militante Hausbesetzerbewegung, die Berücksichtigung der internationalen Lage eine Rolle gespielt hat."
Rückzug von den Prügeleien mit der Staatsmacht
Ein knappes Jahr nach Klaus-Jürgen Rattays gewaltsamem Tod zieht sich Michael Wildenhain aus der Hausbesetzerszene zurück. Auf Prügelleien mit der Staatsmacht hat er keine Lust.
"Ich würde sie gern anfassen, meine Hand unter ihren Pullover schieben, sie streicheln, mir fehlt der Mut."
Erzähler: Es ist Zeit für etwas anderes. Matthias, der Ich-Erzähler und das Alter Ego des Autors in Das Lächeln der Aligatoren erlebt eine erste, große, komplizierte Liebe.
"Dann wird der Himmel heller. Wir sitzen, wie nachts, nah beieinander. Beobachten den Sonnenaufgang über den Gärten Schönebergs, nicht allzu fern vom alten Gasometer. Hören den Vögeln zu und der Stadtautobahn, der S-Bahn an der Papestraße. Teilen uns die Decke. Wärmen die Körper aneinander. Trinken den letzten Rest Rotwein. Aber wir küssen uns nicht."
Wildenhain: "Für mich persönlich war die Mauer völlig bedeutungslos. Die war einfach da, und ansonsten hat man sie nicht wahrgenommen. In Schöneberg stieß man nicht auf die Mauer."
Nur die Verwandtschaftsbesuche in Ostberlin und die S-Bahn, die zwar in Westberlin hält, aber von der DDR betrieben wird, erinnern Michael Wildenhain an die Teilung.
Wildenhain: "Die war später zwar weitgehend stillgelegt, aber ein paar Linien fuhren. Und der S-Bahnhof Schöneberg war immer in Betrieb. Und ich weiß noch, da gab es so eine lange Holzrolltreppe. Außerdem gab es so Kaugummis, die waren irgendwie billiger, und die Tickets waren anders. Also, das Ambiente, etwas staubig und leicht angerostet, war – sozusagen – signifikant für den sinnlichen Eindruck: Osten."
Doch weiter Richtung City West, wohin es Michael Wildenhain jetzt immer öfter zieht, ist von Teilung oder Enge keine Spur. In seinem neuen Roman holt Michael Wildenhain dieses Gefühl zurück.
"Der Mond hält hoch am Himmel still. Der Geruch der großen Tiere, die im nahen Zoo stehend in ihren Käfigen schlafen, als dürften sie sich nie hinlegen, um den Moment der Flucht nicht zu versäumen, der dunkle Geruch von Urwald und Savanne weht herüber."
An der Straße des 17. Juni, diesem weitläufigen Boulevard, an dem die Gebäude der Universität liegen, die er jetzt besucht, spürt Michael Wildenhain - vor allem nachts - diese eigenartige Westberliner Weite.
"Die Technische Universität liegt ruhig und verlassen, nur die Kühlaggregate singen ihr summendes Lied über den Campus, Muezzin eines Fortschritts, der in der Nacht nicht innehält. An der Straße des 17. Juni, in der Nähe des Großen Sterns, warten Prostituierte auf späte Kunden, oft Lkw-Fahrer, die Schlafkabine, ein Privileg, hinten auf der Zugmaschine."
Aus der postindustriellen Brache Gleisdreieck ist ein riesiger, über 30 Hektar großer Freizeitpark geworden. Pinkfarbene Blüten zwischen schiefergrauem Schotter. Die alten Gleisbetten der ausrangierten Bahnanlagen sind in das Konzept der Grünanlage integriert. Doch sie verschwinden immer mehr unter den frischen Farben der Natur. Relikte einer untergegangenen industriellen Ära. Die Erinnerung an das alte Gleisdreieck verblasst.
"Ich bekenne mich zum Gleisdreieck."
Schrieb Joseph Roth am 16.7.1924 in einem Artikel in der Frankfurter Zeitung unter dem Titel „Bekenntnis zum Gleisdreieck".
"So ein Gleisdreieck wird die zukünftige Welt sein. Die Erde erlebt eine neue Umformung, nach konstruktiven, bewussten, aber nicht weniger elementaren Gesetzen. Trauer um die alten Formen, die vergehen. Schüchtern und verstaubt werden die zukünftigen Gräser zwischen metallenen Schwellen blühen. Die Landschaft bekommt eine eiserne Maske."
"Ach nö, das ist jetzt vorbei"
In der Gegenwart wird an den Rändern des Parks, in der wiederbelebten Mitte der Stadt, wie überall sonst in Berlin scheinbar jeder noch freie Quadratmeter verbaut. Wie in anderen Metropolen sind die Preise für Wohnraum in den vergangenen Jahren auch hier explodiert. Damals wie heute leidet Berlin, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, unter Wohnungsmangel.
Ulbert: "Ich bin da durchgelaufen mit meinen Kindern, um einen Spielplatz zu suchen...Ja, das ist das, wie die Stadt sich..."
Jörg Ulbert ist nur noch selten in Berlin. Zur Präsentation seiner Graphic Novel, Gleisdreieck – Berlin 1981, hat er den neuen Freizeitpark besucht.
Ulbert: "Das ist auch eine gute Metapher für die Stadtveränderung. Heute sieht man dort Leute mit Kopfhörern ihre Gesundheit verbessern, indem sie durch die Gegend laufen. Man weiß nicht wohin..."
Rund um den Gleisdreieckpark werden die letzten Baulücken geschlossen. In Townhouses und Urban Lofts soll man das neue Berlin Feeling genießen. Berlin Feeling? Berlin, das war doch immer das Unfertige, Bunte, das Spröde und Sperrige. Arm aber sexy.
Roehler: "Ach nö, das ist jetzt vorbei, um Gottes Willen."
Oskar Roehler.
Roehler: "Das ist ja alles Vergangenheit. Das war ja nicht besser, damals. Die Stadt ist ja heute anders. Die Stadt entwickelt sich. Ich bin jetzt kein Berlin-Fan oder stolz, dass ich hier wohne. Ich wohne halt hier seit 100 Jahren. Und, mein Gott, ich ertrag´s."
Berlin ist ein hartes Pflaster geworden: Voller, schneller, internationaler, teurer. Dreieinhalb Millionen Menschen leben hier, bis 2030 werden weitere 250.000 Neuberliner erwartet. Der Druck wächst. Kein Vergleich mehr zu den beschaulichen Zeiten Anfang der 80er Jahre. Berlin boomt. Das Tempo zieht weiter an. Die Nischen für Experimente werden kleiner. Noch gibt es billigen Wohnraum. Aber man muss lange suchen. Die Konkurrenz wird härter und der Druck, nicht scheitern zu dürfen, immer größer. Die Schönen und Reichen übernehmen das Kommando. Der schützende Schatten der Mauer ist weg.