Literatur über Missbrauch in Frankreich

"Die Fassade der Bourgeoisie bröckelt"

10:20 Minuten
Porträt des französischen Politologen Olivier Duhamel in Paris, 2019.
Der französische Politologe Olivier Duhamel ist unter Druck geraten. Grund ist eine Veröffentlichung seiner Stieftochter Camille Kouchner. © Getty Images/Corbis/Eric Fougere
Ute Cohen im Gespräch mit Andrea Gerk · 12.01.2021
Audio herunterladen
Gewalt in der gehobenen Gesellschaft: In Frankreich ist mit "La familia grande" ein Buch erschienen, das einen prominenten Politologen des Missbrauchs an seinem Stiefsohn beschuldigt.
Ein neues Enthüllungsbuch schlägt hohe Wellen in Frankreichs Kulturbetrieb: In "La familia grande" beschuldigt die Rechtsprofessorin Camille Kouchner ihren Stiefvater Olivier Duhamel, ihren Zwillingsbruder in den 1980er-Jahren sexuell missbraucht zu haben.
Ansicht des Buches: "La familia grande" von Camille Kouchner, 5. Januar 2021, Paris. Der bekannte französische Politologe Olivier Duhamel wird darin des Mißbrauchs beschuldigt.
Camille Kouchner versetzt mit einem Enthüllungsbuch über ihre Eltern Frankreichs Kulturbetrieb in Aufruhr.© AFP/Joel Saget
Duhamel ist in Frankreich ein bekannter Mann – ein Politologe, der häufig in Expertenrunden im Fernsehen auftritt, eine eigene Radiosendung hatte und Verwaltungsdirektor der Eliteuniversität Sciences Po war. Von diesem Posten ist er jetzt zurückgetreten. Auch seine Radiosendung hat er abgegeben.

Literatur über Gewalt an Kindern

"Es ist bereits das dritte Buch, das zum Thema Missbrauch - beziehungsweise Gewalt gegenüber Kindern - in den letzten zwei Jahren in Frankreich erscheint", sagt Ute Cohen.
Die Autorin und Publizistin hat lange in Frankreich gelebt und den autobiografischen Roman "Satans Spielfeld" über eigene Missbrauchserfahrungen geschrieben.
Schon vor einem Jahr wurde über ein ähnliches Buch viel diskutiert: "Die Einwilligung" von Vanessa Springora. Und in "Le Temps gagné" schreibt Raphael Enthoven über Gewalt, die ihm durch seinen Stiefvater - einen Kinderpsychiater - angetan wurde.
Immer gehe es in diesen Büchern um Persönlichkeiten aus der so genannten guten Gesellschaft, sagt Cohen. "Die Fassade der Bourgeoisie bröckelt ganz gewaltig."

Distanz zum Erlebten durch Fiktionalisierung

Sie selbst habe in ihrem Roman durch die Literarisierung eine Distanz zum Erlebten schaffen wollen. Durch die literarische Form habe sie sich einen "Handlungsspielraum" geschaffen.
"Ich war immer irritiert von Nabokovs 'Lolita', dass diese Lolita-Figur unkommentiert in die Geschichte eingegangen ist", sagt Cohen. Es sei nie versucht worden, sich literarisch in die Position des Mädchens hineinzuversetzen.
(huc)
Mehr zum Thema