Literatur in leichter Sprache

Auch einfache Sprache kann Kunst sein

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Hauke Hückstädt vor dem Literaturhaus in Frankfurt am Main am Rande einer Lesung.
Hauke Hückstädt, Leiter des Frankfurter Literaturhauses © picture alliance / dpa / Arne Dedert
Hauke Hückstädt im Gespräch mit Andrea Gerk · 19.02.2020
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Sprache kann Menschen willkommen heißen – oder ausschließen. Das Frankfurter Literaturhaus hat ein Buch veröffentlicht, das in besonders verständlicher Sprache geschrieben ist. Projektinitiator Hauke Hückstädt erklärt, wie es dazu kam.
Andrea Gerk: "Tom will nur eins: Abenteuer erleben" – so klingt Mark Twains Klassiker Tom Sawyer in einfacher Sprache. So wird eine vereinfachte Version der Standardsprache genannt, die Menschen den Zugang zu Texten erleichtern soll, weil sie sich mit dem Lesen schwertun. Das sind übrigens immerhin 13 Millionen hierzulande. Das Frankfurter Literaturhaus hat ein Pionierprojekt gestartet, mit dem bewiesen werden soll, dass auch Literatur nicht unbedingt schwierig und schwer verständlich sein muss.
Hauke Hückstädt, der Leiter des Hauses, hat namhafte Autoren dafür gewinnen können: Judith Hermann, Arno Geiger, Nora Bossong, um nur einige zu nennen. Anfang März erscheinen ihre Texte in einfacher Sprache in einem Sammelband. Herr Hückstädt, ein Merkmal von Literatur ist ja, dass sie mehr als das Gesagte ist, also oft komplex gebaut ist, metaphernreich. Ist das nicht eigentlich das Gegenteil von einfacher Sprache?
Hückstädt: Literatur kann, glaube ich, ganz viel sein, und sie muss nicht verbastelt sein oder verbaut oder metaphernreich, sondern wir kennen in der Kunst auch immer das Einfache. Also, oft stehen wir ja auch vor Kunst und sagen, ach, das kann ich auch oder so, und wir haben viele Vorbilder, auch in der bildenden Kunst, wo wir denken, ah, das ist ja eigentlich einfach, aber es gefällt uns sehr gut, zum Beispiel Readymades, die in der bildenden Kunst gemacht wurden.

Einfache Sprache folgt einfachen Regeln

Gerk: Sie haben ja acht Autoren, durchaus namhafte, für dieses Projekt jetzt gewinnen können. Die haben nicht einfach Klassiker in einfache Sprache umgeschrieben, sondern ganz neue Texte geschrieben und auch eine ganze Reihe von Regeln vorgegeben bekommen. Können Sie mal erzählen, woran die sich da so halten mussten?
Hückstädt: Ja, es sind inzwischen sogar 13 Autoren. Der Beginn ist eigentlich, dass die Stabstelle Inklusion Frankfurt zu uns kam und gefragt hat, können Sie sich – wir beschäftigen uns mit Barrierefreiheit, mit Inklusion –, können Sie sich vorstellen, was fällt Ihnen dazu ein, Literatur und einfache Sprache. Da ist uns erst mal ein Licht sehr spät, reichlich spät aufgegangen, wie exklusiv wir doch hier sind, obwohl wir eigentlich dauernd davon sprechen, dass wir ein großes Publikum erreichen möchten, ein breites Publikum, ein junges Publikum, dass wir alle Schichten erreichen wollen und so weiter, dass wir aber diese Millionen von Menschen, die Sie schon erwähnt haben, also die ganze Branche im Grunde genommen, für die keine Angebote macht.
Das Besondere schien uns oder das, was vor allem fehlt, wären Texte von Autoren, von Gegenwartsautoren, die wir alle kennen und die bekanntlich Kunst schreiben. Wir haben diese Autoren eingeladen, und sie haben, glaube ich, sehr schnell verstanden, was wir wollen, und haben sich hier im Literaturhaus selbst Regeln gegeben. Also, wir haben uns zusammengesetzt und haben einen Tag lang gestritten und diskutiert, und die Autoren haben sich etwa zehn Regeln gegeben, nach denen sie geschrieben haben.
Gerk: Das heißt, da gab es kein Gejammer, dass ich … Wenn ich mir die Regeln angucke, da steht zum Beispiel: "Wir schreiben einfache Sätze", "wenn wir Sprachbilder verwenden, erläutern wir diese", "wir vermeiden Zeitsprünge" – das ist ja schon auch eine Einschränkung oder kann es sein, aber offenbar wurde das gar nicht so empfunden.
Hückstädt: Doch, also die Angst vor dem weißen Blatt besteht beim Verfassen von Literatur für Autoren wie für uns alle, glaube ich, immer, aber die Autoren haben es oft in Gesprächen so beschrieben, dass das vielleicht so wäre, als wenn man jemandem einen Werkzeugkasten hinstellt, dann aber zwei Drittel der Werkzeuge dem Werkzeugkasten entnimmt und sagt, legt mal los. Das ist auf jeden Fall erst mal eine große Hürde, diese Werkzeuge nicht mehr zur Verfügung zu haben, kann dann aber sehr befreiend wirken. Die Ergebnisse, also die Texte sprechen für sich. Es sind tolle Texte geworden.

Spannende Kriminalfälle in Frankfurt und der Schweiz

Gerk: Ja, ich habe gelesen, Kristof Magnusson zum Beispiel hat über den Fall Rosemarie Nitribitt geschrieben, denn es sollte ja auch einen Frankfurtbezug geben. Was gibt es noch so für Beispiele? Was haben sich die Autoren da so einfallen lassen?
Hückstädt: Wir reden hier intern von zwei Staffeln. Zunächst waren es sechs Autoren, dann kamen noch acht Autoren dazu. In der ersten Staffel gab es einen Frankfurtbezug, und da ging es um die Paulskirche, da ging es um Rosemarie Nitribitt, die Edelprostituierte aus Frankfurt aus den 50er-Jahren, es ging um Margot Frank beispielsweise, und in späteren Texten ging es aber auch ums Schwarze Meer, um eine Frau, die sich von ihrem Mann trennen möchte und darüber nachdenkt, bis der Mann dann zu Hause eintrifft und dann aber das irgendwie doch nicht macht.
Kristof Magnusson hat für die zweite Staffel noch einmal eine Kriminalgeschichte geschrieben, hat sich mit den letzten Stunden des Politikers Uwe Barschel beschäftigt und darüber einen spannenden Text geschrieben.
Der Schriftsteller Kristof Magnusson grinst in die Kamera
Kriminalfälle aus Frankfurt und der Schweiz: der Schriftsteller Kristof Magnusson© dpa / picture alliance / Arno Burgi
Gerk: Können Sie uns mal ein Stückchen vorlesen, dass man mal auch so einen Eindruck bekommt, wie einfache Literatursprache klingt?
Hückstädt: Ja, mache ich sehr gerne, zumal jetzt gerade dieser Magnusson-Text auch toll ist, weil er spannend ist und weil er natürlich mit einem Geheimnis hantiert, weil wir alle nicht wissen, was wirklich in diesem Hotel in der Schweiz passiert ist. Ich lese mal vor. "Das Hotel am See" heißt dieser Text von Kristof Magnusson. Der beginnt so: "Ich fahre mit dem Taxi vom Flughafen in das Hotel am See. Schon wieder bin ich in einem Taxi. Schon wieder fahre ich in ein Hotel. Ich schlafe so oft in Hotels. Ich reise viel, weil ich es muss. Ich gehe in das Zimmer, es ist groß, sauber, still, ein Sofa, zwei Sessel, ein niedriger Tisch. Auf dem Bett eine dicke Decke, sie ist dunkelrot und glatt. Ich lege meinen Koffer auf die dunkelrote Decke, ich öffne ihn, aber ich packe nichts aus. Es lohnt sich nicht. Ich bleibe nur eine Nacht, dann reise ich weiter, weil ich es muss." Das ist so der Beginn dieser Geschichte.

Aus Einschränkungen und Regeln entstehen Kunst

Gerk: Aber das fand ich jetzt, wo ich Ihnen zugehört habe, klang sehr musikalisch, irgendwie melodisch fast. Also würden Sie so weit gehen, dass diese Arbeit mit einfacher Sprache sogar einen literarischen Mehrwert haben kann?
Hückstädt: Ich weiß gar nicht, ob ich bei Literatur von Mehrwert sprechen würde. Auf jeden Fall würde ich immer mit Brecht sagen, Literatur hat auch einen Gebrauchswert, und durch Reduktion ist schon immer gute Kunst entstanden. Was ganz am Anfang stand bei unserer Zusammenarbeit mit den Autoren – und da waren wir uns alle einig –, ist, dass wir aus dem vermeintlichen Manko, dass wir jetzt hier mit Einschränkungen und mit Regeln schreiben, einen Gewinn machen und sagen, das ist Kunst.
Wir machen Kunst, einfache Sprache ist Kunst, und es gibt auch Vorbilder dafür. Es gab ja die Oulipoten, eine Künster-, Schriftstellervereinigung, die sich immer ganz strenge Regeln gesetzt haben, um in der Sprache weiter voranzukommen. Das bekannteste Beispiel ist ein Roman von Perec, der ohne den Buchstaben E auskommt. So radikal sind wir aber gar nicht, und wir wollten auch nie dogmatisch werden, sondern wir versuchen, Kompromisse zu finden und Texte anzubieten von zeitgenössischen Autoren, mit zeitgenössischen Themen in literarischen Sprachen, die sich als Kunst verstehen und die auf jeden Fall für alle ein Genuss sind. Das Ziel war, dann am Ende ein Buch zu schaffen, das so wenig Menschen wie möglich ausschließt.
Der französische Schriftsteller Georges Perec in einer Aufnahme von 1978.
Der Schriftsteller Georges Perec hieße in seinem Roman "Gorgs Prc".© imago/Leemage
Gerk: Und wo sich die Menschen hoffentlich auch trauen, in die Buchhandlung zu gehen und sich das zu besorgen, denn da gibt es ja sicher auch noch mal so eine Schwelle, die da vielleicht manches verhindert.
Hückstädt: Ja, wir sind natürlich sehr gespannt, in wenigen Wochen, Mitte März erscheint das Buch, und das Buch sollte in keiner Weise stigmatisierend sein. Es war uns immer wichtig, dass es in einem großen Publikumsverlag mit Tradition erscheint. Das erscheint jetzt bei Piper. Das war das Ziel, und das sollte sich nicht abheben von anderen Büchern. Es sollte für die Magisterstudentin, die alles von Nora Bossong liest, genauso interessant sein wie für den Oberstudienrat, wie für denjenigen, der unsere Sprache gerade lernt, wie für jemanden, der schon sehr alt ist und einfach Romane von 300 Seiten nicht mehr schafft mit seinem Konzentrationsvermögen. Die Geschichten haben alle so eine Länge von 20 Minuten, wenn man sie liest. Also es ist ein Buch für sehr viele Menschen, ein Buch, das versucht, erst einmal nicht die Tür zuzumachen, schon gleich bei Barrieren aufzubauen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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