Literatur

Brechts "tragbares Archiv"

Undatierte Aufnahme des Dichters Bertolt Brecht
Undatierte Aufnahme des Dichters Bertolt Brecht © dpa/ picture alliance
Peter Villwock und Martin Kölbel im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 16.06.2014
Bertolt Brecht hielt sich und seine Gedanken für aufhebenswert und schrieb deshalb zahlreiche Notizbücher mit Ideen und Einfällen voll. Die Herausgeber seiner Notizbücher finden: Hier zeigt sich der wahre Brecht.
Liane von Billerbeck: Er war jemand, der schon als Jugendlicher seine Notizbücher immer bei sich trug und mit Eintragungen, Ideen, Skizzen füllte, denn bekanntlich hielt er sich schon als sehr junger Mann für herausragend und alles, was ihm einfiel, für aufhebenswert für die Nachwelt. Bertolt Brecht ist gemeint. Jetzt sind zwei Herausgeber dabei, die 54 erhaltenen Notizbücher Brechts zu veröffentlichen, was, wie man sich denken kann, eine Mammut-, ja eine Lebensaufgabe ist. Peter Villwock und Martin Kölbel sind das, und die beiden sind jetzt im Studio. Herzlich willkommen!
Peter Villwock: Hallo!
von Billerbeck: 54 Notizbücher von Bertolt Brecht sind überliefert, die er von 1918 bis zu seinem Tod 1956 immer bei sich trug, und die Gesamtausgabe dieser Notizbücher, die soll 14 Bände umfassen. Das klingt wirklich nach einer Mammutaufgabe. Was steckt in so einem Band drin mit Brechts Notizbüchern? Sie haben jetzt gerade den zweiten Band veröffentlicht, der aber eigentlich der dritte ist, es gab den ersten und den siebten. Was haben diese Bände gemeinsam, was steckt da drin?
Villwock: Die Notizbücher selber als Abbildungen – man kann jede Seite sehen. Dann eine Transkription dazu, damit man das auch lesen kann, Erläuterungen, die das Ganze erschließen und erst verstehbar machen. Und es gibt auch noch eine elektronische Edition, die das Ganze mit Material unterfüttert, durchsuchbar macht. Es sind Bilder drin, es sind Zusatzdokumente drin aus dem Archiv, aus dem Nachlass, aus dem Umfeld, Auto-Prospekte zum Beispiel. Man nennt das Hybrid-Edition, also es ist einerseits ein Buch und andererseits Elektronik, und das ergänzt sich.
von Billerbeck: Martin Kölbel, ich habe es eben so beiläufig gesagt, dass jetzt der zweite Band erschienen ist. Sie haben aber mit dem siebten Band begonnen. Warum diese etwas chaotische Reihenfolge?
Biografisch wichtige Phase
Kölbel: Der Band sieben fällt in die Jahre 1927 bis 1930, und das ist biografisch für Brecht eine sehr wichtige Phase, weil er dort mit seiner Beschäftigung des Marxismus beginnt und die tatsächlich einen Umbruch bedeutet innerhalb seines Schreibens. Und das war eigentlich der Hauptgrund, weshalb wir mit diesem Band begonnen haben. Jetzt, die Folgebände beginnen jetzt beim Anfang, also von Band eins chronologisch bis zum letzten.
von Billerbeck: Haben Sie denn etwas gelernt, Peter Villwock, daraus, dass Sie jetzt schon wissen, was in den Notizbüchern von 1927 bis 1930 steht, und können dann Rückschlüsse ziehen, woher das kommt, wenn Sie jetzt die früheren Notizbücher angucken?
Bertolt Brecht 1956
Bertolt Brecht im Jahr 1956© dpa / picture alliance / Jörg Kolbe
Villwock: Ja, man kann überraschend viel eigentlich schon sehr früh sehen bei Brecht. So Grundbegriffe wie Gestus oder Gedanken wie Verfremdung, die sind alle eigentlich schon da, auch in den ganz frühen Notizbüchern. Noch nicht terminologisch fixiert, aber das System Brecht, wenn man so will, entwickelt sich da schon und formiert sich da schon. Das ist eine überraschende Erkenntnis, die auch für uns so nicht voraussehbar war.
von Billerbeck: Sie haben den zweiten Band mitgebracht, der ist ganz frisch aus der Binderei. Darin sind fünf Notizbücher aus dem Jahr 1920. Da ist, wenn ich richtig gerechnet habe, Brecht 22 Jahre alt. Was war das für ein Jahr für Brecht, Herr Kölbel?
Kölbel: Zuerst muss man sagen, es ist ein Jahr, in dem Brecht selbst noch keinen Erfolg und keine große Bekanntheit als Autor gehabt hat. Er ist dabei, seine Projekte und seinen Willen, ein Schriftsteller zu werden, auszuprobieren. Es ist die Zeit, in der er zwischen Augsburg und München pendelt vor allem, weil er in München ein Studium begonnen hat und jetzt dabei ist, es wieder abzubrechen. Und es ist die Zeit seiner Beziehungen zu zwei Frauen dann mit der Zeit und seines ersten Sohnes, die biografisch natürlich der Hintergrund sind für das, was er dann in seinen Notizbüchern auch macht.
von Billerbeck: Herr Villwock, wenn Sie sich diese Notizbücher ansehen, über die wir jetzt sprechen, die Sie zusammen mit Martin Kölbel herausgeben, der zweite Band liegt vor – war darin etwas, das sie als Kenner Brechts überrascht hat, was Ihnen völlig neu war?
Notizbücher zeigen, wie sich Ideen entwickelt haben
Villwock: Ja, also bisher wurden die Notizbücher ja nur ausgeschlachtet und als Steinbruch benutzt, als Belege für fertige Werke, die man dann kennt. Und wenn man sie aber jetzt von der anderen Seite her liest, von vorne her, dann zeigt sich erst, wie Brecht gearbeitet hat, wie die Konzepte, die Ideen sich entwickelt haben, wie die Gedanken, die Funken überspringen, im Rösselsprung, hat man mal gesagt. In gewisser Weise ist das ein Brecht, den man noch gar nicht kennt.
von Billerbeck: Beschreiben Sie uns doch mal, wie das aussieht. Ich konnte schon ein wenig blättern in dem Band. Da sieht man manchmal nur ein Wort, dann ein paar korrigierte Zeilen. Mal steht das Notizbuch auch auf dem Kopf oder er beginnt wieder von hinten zu beschreiben. Was sagt so ein Notizbuch über den Mann?
Kölbel: Es sagt vor allem, dass er sehr schnell geschrieben hat, dass er sehr davon gelebt hat, seine Ideen und Einfälle wirklich direkt aufzuschreiben, ohne große konzeptionelle Ausführungen, Überlegungen im Kopf, sondern wirklich auf dem Papier sofort begonnen hat, den Einfall aufzuzeichnen. Deshalb auch die besondere Stellung der Notizbücher innerhalb seines Oeuvres, weil das sein tragbares Archiv war, seine Gedächtnisstütze, sein produktiver Kern, wo seine Kreativität eigentlich am reinsten zu fassen ist.
Und es ist eigentlich, was man nachvollziehen kann, was vieles gleichzeitig ihn beschäftigt, unterschiedliche Formen, unterschiedliche Wortklänge, unterschiedliche Projekte. Und aber auch gleichzeitig was, was über einen längeren Zeitraum sich entwickelt, was Fortschritt nimmt, was sich verändert, aber auch, was einfach im Sande verläuft, was er dann nicht wieder verwendet hat, höchstens mal nach fünf Jahren oder so findet man einen Anklang wieder. Es gibt auch ganz große Bezüge innerhalb dieser Notizbücher.
von Billerbeck: Peter Villwock, gilt dieses Chaotische, könnte man ja sagen, Unfertige, nicht fertig Gewordene nur für die Form oder auch für den Inhalt, für das Werk Brechts?
Brechts Werk – ein einziges work in progress
Villwock: Ja, das ist ein Grundprinzip von Brecht. Das ist ein einziges work in progress. Selbst die Theaterstücke hat er ja bei jeder Inszenierung wieder umgeschrieben. Das sogenannte fertige Werk ist immer nur eine Zwischenstufe. Aber dass das ein einziger großer Schreibstrom ist, eine Verflechtung von verschiedenen Schreibströmen, die sich immer wieder überlagern und gegenseitig beeinflussen, das gilt für Brecht grundsätzlich natürlich.
von Billerbeck: Hat er auch bei den Notizbüchern schon immer an die Nachwelt gedacht, mit dem, was da drin steht? Denn es ist ja das Bild, das er von sich zeichnet, das Sie jetzt lesen.
Villwock: Ja, ja, ganz sicher. Brecht war relativ ein unprivater Mensch, muss man sagen. Also, was da drin steht, das sind keine Intimitäten, von daher war das möglich. Er hat sie ja immerhin aufgehoben und einmal um die ganze Welt transportiert in seiner Exilzeit.
"Ich singe meine Schweinereien vor allem Volk"
Kölbel: Man kann auch beobachten, dass er wirklich immer auf Öffentlichkeit hin schreibt. Es fängt an mit der kleinen Öffentlichkeit, die er in Augsburg und in München hat. Er liest seine Texte immer vor und geht natürlich dann weiter, sobald er Erfolg hat, in der großen Öffentlichkeit. Und es gibt im Notizbuch einen Satz, der das in hinreichender Schärfe auch zur Sprache bringt. Er sagt nämlich: "Ich singe meine Schweinereien vor allem Volk." Also, da hat man schon von vornherein formuliert, hier geht es nicht um die Intimität eines Autors, der in seiner Schreibwerkstatt sitzt, sondern es geht gleich darum, alles, was Rang, aber auch was Abfall ist, was Schmutz ist, zu präsentieren und da keinen Unterschied zu machen, sondern allein der Produktivität oder der Vitalität den Glauben zu schenken.
von Billerbeck: Was macht es besonders interessant, was kann der Leser da entdecken? Was kann der Forscher oder der Liebhaber oder der Laie entdecken?
Villwock: Ich würde das mal so beschreiben: Man kann diese Notizbuchseiten wie eine Bühne begreifen. Das ist die Bühne, auf der Brechts Schreiben stattfindet. Und nur, weil man sie visuell vor Augen hat, kann man sehen, was sich dort bewegt, was für Konflikte kommen, was für Verschiebungen da sind, wann die Bühne dunkel wird und nichts passiert. Und das lässt sich an einem normal gedruckten, linearen Text überhaupt nicht rekonstruieren, weil es einfach zu komplex ist. Und da ist das Bild, das dann eben nicht illustrativ ist, sondern das Wesentliche an dem Ganzen, die einzige Möglichkeit, es zu demonstrieren.
von Billerbeck: Wird das auch die Lesart von Brechts Werk verändern, wenn man jetzt weiß, was der davor in seinen Notizbüchern alles geschrieben hat?
Notizbücher zeigen die Querverbindungen innerhalb des Werkes
Villwock: Ja, ich denke schon. Also das ist wirklich noch mal ein neuer Brecht, weil man den von einer ganz neuen Seite sehen kann, die vorher noch völlig unterbelichtet war, unbelichtet war. Willkürlich herausgegriffen jetzt, Brechts erster Roman, "Das Buch Gasgarott". Das war bisher nur bekannt als Ansatz zu einem Künstlerroman. Jetzt kann man sehen, dass das aus einer Religionssatire entstanden ist, dass dazu kommt ein historischer Roman über Karl den Kühnen, ein Essay-Roman, wenn man so will, ein Meta-Roman, ein Roman über den Roman mit Kapiteln über die Sympathieverteilung des Autors und die Fabelführung. Also ein hochkomplexer Ansatz, der bisher völlig unbekannt war. Und das ändert natürlich schon fundamental bestimmte Lesarten.
von Billerbeck: Martin Kölbel, für wen ist dieses Buch, diese Ausgabe der Notizbücher in verschiedenen Bänden, die Sie in den nächsten Jahrzehnten, muss man ja sagen, herausgeben werden, wollen, hoffentlich können?
Kölbel: Die Ausgabe richtet sich nicht nur an Fachpublikum, sondern es kommt für jeden Leser in Frage, der sich mit Brecht auseinandersetzen mag, der einen neuen Brecht entdecken mag, der nicht seinen Vorurteilen einer bestimmten Klassizität entspricht, sondern der in Bewegung kommt, der lebendig ist, vital ist, der sich als das zeigt, was ihn eigentlich modern macht, und das ist seine Fähigkeit, als experimenteller Autor es nie bei einer Botschaft, einer Sinnstiftung und dergleichen zu belassen, sondern es immer wieder neu lebendig zu machen.
Und entsprechend eignet sich das Buch auch zu einer anderen, eben nicht-linearen Lektüre. Man kann mitten hinein gehen, man braucht nicht Anfang und Ende zu finden, man muss nicht einen Argumentationsgang abschließend verfolgen, sondern man kann sich auch einfach der Lust des Sammlers, des Müßiggängers oder des Studierenden überlassen.
von Billerbeck: Martin Kölbel, Peter Villwock, beide sind die Herausgeber der Brecht-Notizbücher. Jetzt ist der zweite Band erschienen. Wir hoffen, dass Sie zu Ende kommen mit dem Werk, dass Sie Finanziers finden, die Sie immer wieder unterstützen, und sind gespannt, wie lange es dauert, bis Sie alle Notizbücher herausgegeben haben. Danke für das Gespräch!
Kölbel: Danke auch!
Villwock: Danke auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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