Literatur aus Indien

Plattenbau und Bollywood

Der indische Schriftsteller Kiran Nagarkar
Erzählt vom postkolonialen, urbanen Indien: der Schriftsteller Kiran Nagarkar © A1 Verlag / Marco Secchi
Von Gerd Brendel · 27.07.2015
In Deutschland ist Kiran Nagarkar vor allem durch seinen Roman "Gottes kleiner Krieger" bekannt geworden. Beim "Wassermusik"-Festival in Berlin las er aus dem dritten Teil seiner Eddie und Raven-Trilogie - der in seiner Heimat Indien für einen Skandal sorgte.
Lesung: "Jetzt die Unterhose...Was? Doktor Balutscha wiederholte seine Aufforderung. Aber es waren doch Leute da! Sie würden schockiert sein. Das hier war nicht die USA, oder Großbritannien, wo die Frauen keine Scham kannten und fingerbreite Minis trugen."
Nein, das ist Indien, genauer gesagt eine Sozialklinik in Mumbai, wo Eddie, einer der beiden Anti-Helden aus Kiran Nagarkars Roman-Trilogie von Doktor Balutscha und einem Dutzend Medizin-Studenten gerade wegen eines Trippers behandelt wird. Im Berliner Haus der Kulturen der Welt liest der Schauspieler Barnaby Metschurat das Kapitel. In Mumbai sorgte der Abschnitt bei der Buchvorstellung für einen kleinen Skandal:
"Damals hat auch ein bekannter Schauspieler gelesen. Die eine Hälfte des Publikums hat sich kaputt gelacht, aber die andere Hälfte hat mir die Stelle extrem übel genommen."
Nagarkar nimmt kein Blatt vor den Mund
Lesung: "Sein Glied, seine Friedenspfeife, sein Luststab, seine Sünde, sein Verbrechen, seine Zeit der Abrechnung..."
Kiran Nagarkar nimmt kein Blatt vor den Mund. Nicht nur in den drei Romanen "Ravan und Eddie", "Die Statisten" und in dem bisher noch nicht übersetzten letzten Teil der Trilogie "Rest in peace" – Ruhe in Frieden –, in denen er die turbulenten Lebenswege der beiden Unterschicht-Jungen Ravan und Eddie erzählt, auch nicht in seinen anderen Romanen und Bühnenstücken. "Bedtime-Stories", seine Theaterfassung des altehrwürdigen Heldenepos Mahabharata, wurde erst 17 Jahre nach Druck von der Zensur zur Aufführung zugelassen. Aber zurück zu Ravan und Eddie:
"The first thing is they come from extremely poor backgrounds."
Die beiden bettelarmen Antihelden wachsen in den "Chawls" auf. So heißen die Sozialbauten, die die Briten für Baumwollarbeiter in Mumbai errichteten: winzige Schuhkartonwohnungen mit Toiletten und Wasserhahn im Gang für 20 Mietparteien.
"Niemand ist aus mehr Jobs geflogen als ich"
Hier leben der Hindu-Junge Ravan und der Katholik Eddie mit ihren Familien auf engstem Raum. Was sie verbindet, ist der Traum vom besseren Leben, und der kann in der Bollywood-Metropole nur eins bedeuten:
"They want to be actors."
Filmschauspieler! Im zweiten Band "Die Statisten" schaffen sie es wenigstens für ein paar Minuten auf die Kinoleinwand.
Kiran Nagarkar, Spross einer verarmten Brahmanen-Familie, kennt die Sehnsüchte seiner Helden. Und er teilt Ravan und Eddies berufliche Achterbahn-Karriere:
"Ich glaube, niemand ist aus mehr Jobs geflogen als ich."
College-Professor, Herausgeber, Werbe-Texter. Den einzigen Job, den Nagarkar bis heute nicht an den Nagel gehängt hat, ist der des streitbaren Schriftsteller. Er hält seiner Gesellschaft den Spiegel vor, nicht nur was den Umgang mit Sex betrifft.
Zum Abschluss: Bollywood-Schnulzen und Jazz aus Goa
Erst vor ein paar Wochen hat Kiran Nagarkar in der Hindustan Times wieder einmal mit hindu-nationalistischen Politikern abgerechnet, die sein geliebtes Bombay nicht nur in Mumbai umtauften, sondern auch deren Geschichte als hundertprozentige Hindu-Stadt neu erfinden wollen.
"Was für ein kompletter Blödsinn, Bombay ohne die Gujaratis, die Punjabis, die Jains, die Parsen, die Moslems kann man sich gar nicht vorstellen. Sie alle haben die Stadt voran gebracht, aber wer hört mir schon zu?"
Im Berliner Haus der Kulturen hörten die Besucher aufmerksam zu.Danach legte Nagarkar auf der Freilichtbühne vor dem Haus seine Lieblingsmusik auf: Bollywood-Schnulzen und indischen Jazz aus Goa, der Heimat von Eddies Familie. Später spielten "Peter Cat Recording Company" aus Delhi: Schräge Easy-Listening-Musik wie Enrico Morricone im Delirium mit einem Sänger, der Ravan und Eddie alle Ehre machen würde: sehnsüchtig, leidenschaftlich, nicht ganz von dieser Welt mit E-Gitarre statt Sitar und auf keinen Fall so, wie sich der Durchschnitts-Reisende Indien vorstellt.
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