Literarischer Adventskalender (19)

Sachbuch: "Gott wohnt im Wedding"

02:21 Minuten
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Protagonist des Buches ist eigentlich ein Haus, es erzählt die Geschichten seiner Bewohner, über zwei Jahrhunderte hinweg. © Penguin Verlag
Von Annette Kamerer  · 19.12.2019
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Regina Scheer erzählt die Geschichte eine Hauses und seiner Bewohnerinnen und Bewohner – und zwar aus Sicht des Hauses. Das ist überraschend und klug. Annette Kamerer schenkt es ihrem Freund Alex.

Worum geht es?

Protagonist des Buches ist eigentlich ein Haus, wenn man so will. Mehrstöckig, mitten im Berliner Stadtteil Wedding. Und das bekommt über die Jahrhunderte mit, wer zwischen seinen Mauern lebt, welche Schicksale die Bewohner haben, wie sie leiden, aber auch wie sie lieben. Das Haus erzählt also die Geschichten seiner Bewohner, über zwei Jahrhunderte hinweg und bleibt dabei nicht nur in der Vergangenheit, sondern verwebt diese ganzen Schicksale sehr geschickt mit der Gegenwart.
Da besucht beispielsweise ein jüdischer 80-Jähriger das Haus. Er hatte sich dort als Jugendlicher vor den Nazis versteckt und dort trifft er die Frau, die ihn wahrscheinlich damals an die Nazis verraten hat.
Oder da ist eine junge Frau, eine Romnia und sie wurde deshalb immer wieder diskriminiert, hat sich aber durchgekämpft und es weit gebracht im Leben. Dann ziehen aber Roma und Sinti aus Osteuropa im ersten Stock ein, und plötzlich ist die junge, assimilierte Frau wieder mit ihrer eigenen Geschichte konfrontiert.

Was ist das Besondere?

Wenn ich aus dem Fenster schaue, frage ich mich oft, wer da wohl hinter diesen Fenstern wohnt, die ich sehe. Gerade jetzt zur Weihnachtszeit, wenn so viele Menschen ihre Fenster schmücken und damit etwas von sich preisgeben. Wie leben sie? Woher kommen sie?
Während ich zum Beispiel in meiner Wohnung mit meinem Kind spiele, trennt sich vielleicht zwei Stockwerke unter mir gerade eine andere Frau von ihrem Mann oder eine kurdische Familie telefoniert mit Verwandten in Nordsyrien. Und das passiert alles gleichzeitig. Und als ich das Buch gelesen hatte, hatte ich das ganz starke Gefühl, als könnte ich eben in die Fenster der anderen schauen. Und alles, was für mich unsichtbar ist, ganz konkret wird, ganz nah bei mir ist.

Wem wollen Sie das Buch schenken?

"Gott wohnt im Wedding" schenke ich meinem Freund Alex. Er kämpft dafür, dass sein Haus nicht von Investoren aufgekauft wird. Auch im Buch wird das Haus mehrmals weiterverkauft – mit dem Ziel, es herunterzuwirtschaften, um es dann ganz abreißen zu können. Außerdem will ich Alex dafür sensibilisieren, welche Geschichten – aber auch welche Geschichte – da in seinem Kiez in den Hausmauern steckt.

Regina Scheer: "Gott wohnt im Wedding"
Penguin, München 2015
416 Seiten, 24 Euro

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