Literarische Notizen

Duftende Erinnerungen

Der Schriftsteller und Filmemacher Philippe Claudel
Der Schriftsteller und Filmemacher Philippe Claudel © dpa / picture alliance / Alberto Estevez
Von Peter Urban-Halle · 01.09.2014
Der französische Schriftsteller und Filmregisseur Philippe Claudel erschnuppert in seinen Erinnerungstexten die Gerüche seiner Jugend im südlichen Lothringen. Seine Sprache ist ungemein farbig, gesättigt, adjektivreich, zuweilen dramatisch und schwärmerisch.
Es gibt weiß Gott schönere Flecken auf Erden als diesen architektonisch nicht sehr reizvollen, planlos zerstreuten Ort im südlichen Lothringen mit dem donnernden Namen Dombasle-sur-Meurthe; ich bin neulich durchgefahren. Allerdings gibt es auch nicht viele Orte, die so liebevoll und innig beschrieben wurden wie dieses Dombasle.
Hier wurde 1962 Philippe Claudel geboren, hier verbrachte er seine Kindheit und Jugend, und hier hat er noch immer seinen Wohnsitz, obwohl der Sohn aus einer Arbeiter- und Bauernfamilie mittlerweile ein bekannter Schriftsteller ist: Für "Die grauen Seelen" (dt. 2004) erhielt er den renommierten Prix Renaudot. Auch als Regisseur ist er erfolgreich, sein Film "So viele Jahre liebe ich dich" mit Kristin Scott Thomas lief 2008 auf der Berlinale.
Autobiografische Fragmente, alphabetisch geordnet
Seine Sammlung kurzer Texte über Erinnerungen an seine Kinder- und Schulzeit, im Grunde eine Art Autobiografie, ist alphabetisch geordnet. Das scheint ein Kennzeichen besonders romanischer Literaturen zu sein: Auch der Italiener Goffredo Parise und der Mexikaner Carlos Fuentes haben ihre Bücher nach dem Alphabet geordnet, sie wollten mit den Gedanken gewissermaßen auch ihr Leben ordnen. Legendär geworden ist das lange Gespräch mit dem Philosophen Gilles Deleuze, das auch nach dem ABC geführt wurde, von Animal/Tier bis Zigzag/Zickzack. Philippe Claudels ABC ist im Vergleich zu Deleuzes nicht ganz so berauschend und bewegt, es ist nicht in den Bildern, aber im Denken enger. Allerdings will er auch keine Ansichten oder Standpunkte ordnen, sondern Erinnerungen und Eindrücke.
Und jede Erinnerung hat ihren Duft. Es ist also nicht wie bei Prousts berühmtem Gebäck, der Madeleine, deren Geschmack und Duft die uferlose Erinnerung erst in Gang setzte. Claudel geht von den (ausgesprochen männlichen, aber nicht machohaften) Erinnerungen aus (die ihm, der in seinem Geburtsort lebt, vermutlich von selbst zufallen) und findet in ihnen die dazugehörigen Düfte. Beim Friseur riecht's "ein wenig nach altem Hund", Zigarren riechen nach "Wölfen, Humus und getoastetem Brot", es gibt einen Geruchsunterschied zwischen Gauloises und Gitanes – was aber gar nicht mehr riecht, ist sein Elternhaus bei seinem letzten Besuch; es ist nur noch Hülle.
Glänzende Übersetzung ins Deutsche
Das Zickzack, mit dem Deleuzes Interview endete, zeichnet auch Claudels Buch aus. Ein ABC hat ja nur eine äußerlich formale, keine innere Ordnung, hier zum Beispiel steht der Inbegriff des Lebensbeginns, das "schlafende Kind" ("Enfant qui dort"), neben einem Mittel, das den Tod bringen kann, dem Äther ("Éther"), und gleich nach der Sonnencreme ("Crème solaire") wird das in Frankreich ewig lärmende Moped mit dem Zweitaktmotor vorgestellt ("Deux temps").
Plausibel freilich, dass Philipp Claudels Erinnerungssammlung mit dem Stichwort "Reise" ("Voyage") endet, weil man jeden seiner kleinen Texte als Reisen in die Vergangenheit lesen muss. Er macht dies in einer ungemein farbigen, gesättigten, körperlich-muskulösen, adjektivreichen, zuweilen dramatischen und schwärmerischen Sprache – Grund genug, an dieser Stelle die herausragende (und sicher nicht einfache) Arbeit der Übersetzerin Ina Kronenberger zu erwähnen.

Philippe Claudel: Der Duft meiner Kindheit
Aus dem Französischen von Ina Kronenberger
Kindler Verlag, Hamburg 2014
189 Seiten, 19,95 Euro

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