Literarische Fingerübung

15.01.2013
Marie NDiaye wurde durch ihren Roman "Drei starke Frauen" bekannt. Der ältere Roman "Ein Tag zu lang" mutet dagegen wie eine Übung an: Die Geschichte eines Mannes, der nach seiner verschwundenen Familie sucht, nimmt den Leser zwar sofort gefangen. Die Autorin verschenkt aber im letzten Viertel ihre Grundidee.
Die Schriftstellerin Marie NDiaye, Jahrgang 1967, hat eine bemerkenswerte Karriere vorzuweisen. Die Tochter einer französischen Mutter und eines senegalesischen Vaters debütierte bereits 1985 als Abiturientin und avancierte mit ihren Erzählungen, Theaterstücken und Romanen binnen weniger Jahre zu einer der bekanntesten Autorinnen Frankreichs. Für "Drei starke Frauen" erhielt sie 2009 den wichtigsten französischen Literaturpreis Prix Goncourt. Nach dem großen Erfolg mit "Drei starke Frauen", der in Deutschland mit dem Internationalen Literaturpreis ausgezeichnet wurde, übersetzt man auch frühe Veröffentlichungen NDiayes. Der schmale Roman "Ein Tag zu lang" ist im Original bereits 1994 erschienen. Wie so oft nimmt sich NDiaye die dunkle Unterseite der vermeintlich lichtdurchfluteten französischen Vernunft vor. Da beginnt etwas zu kippen.

Der Pariser Mathematiklehrer Herman hätte eigentlich schon am Vortag sein Sommerdomizil in der tiefsten französischen Provinz verlassen wollen, wo er seit zehn Jahren mit seiner Frau Rose und seinem kleinen Sohn Urlaub macht. Ungeduldig wartet er auf die Rückkehr von Rose, die mit dem Kind zum Eierholen gegangen ist. Doch niemand kommt. Herman macht sich auf die Suche nach seiner Familie. Für das plötzlich umgeschlagene Wetter ist er denkbar schlecht angezogen. Sein dünnes Hemd ist sofort durchnässt, die Schuhe durchweicht. Überhaupt scheint jede Geste inadäquat zu sein.

Ob auf der Polizei, im Rathaus oder im Hotel, wo man ihm rät, sich einzuquartieren - überall herrschen bestimmte Regeln. "Ein Tag zu lang" ist eine raffinierte Parabel, eine Gespenstergeschichte, in der sich die Koordinaten der Wirklichkeit nach und nach auflösen. Zwar begegnen die Dorfbewohner Herman freundlich und verständnisvoll, Alarm löst das Verschwinden seiner Familie aber nicht aus, im Gegenteil. Mit einer Mischung aus Faszination und Ekel passt sich Herman an und verfällt der Lethargie der Ortschaft. Er tut, was von ihm verlangt wird. Die teigige Sinnlichkeit der Hotelierstochter Charlotte übt eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf ihn aus, und überhaupt scheint er seine Mission aus dem Blick zu verlieren. Bis er eines Tages doch endlich zum Bürgermeister vordringt und erfährt, was es mit diesem merkwürdigen Dorf auf sich hat.

Mit ihrer schlackenlosen, präzisen Sprache steuert NDiaye auf formaler Ebene gegen den bedrohlichen Irrationalismus an, der ihre Figuren beherrscht. Auch dadurch entwickelt der Roman eine beträchtliche Sogwirkung. Reminiszenzen an Kafka, Poe und Dino Buzzati klingen an; dem deutschen Leser fallen die Szenarien von Hartmut Lange ein. Der Auftakt ist äußerst geglückt: Das Unheimliche ergreift ihren Helden mit Haut und Haaren, er kann sich dessen nicht erwehren, gibt sich ihm fast lustvoll hin. Im letzten Viertel allerdings verschenkt NDiaye die Grundidee ihrer Geschichte und verliert sich allzu sehr in surrealen Gefilden. "Ein Tag zu lang" ist eine Geschichte über la France profonde. Durchaus lesenswert, aber doch eher eine Fingerübung einer begabten Schriftstellerin.

Besprochen von Maike Albath

Marie NDiaye: "Ein Tag zu lang"
Aus dem Französischen übersetzt von Claudia Kalscheuer
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012
159 Seiten, 16,90 Euro
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