Nichts lässt sich so wenig fassen wie das eigene Selbst

03.06.2011
Für ihren Roman "Drei starke Frauen" bekam sie den höchsten Literaturpreis Frankreichs, den Prix Goncourt. Nun erscheint Marie NDiayes "Selbstportrait in Grün", die erzählerische Beschreibung einer Reise durch das Unbewusste.
Einer breiteren Leserschaft wurde die französische Schriftstellerin Marie NDiaye in Deutsch-land erst im vergangenen Jahr mit ihrem Roman "Drei starke Frauen" bekannt. Im Jahr 2009 hatte sie für dieses Buch den höchsten Literaturpreis Frankreichs, den Prix Goncourt, erhalten. Nun erscheint in deutscher Übersetzung ein schmales Buch mit dem Titel "Selbstporträt in Grün", das Marie NDiaye vor ihrem Erfolgsroman verfasste und das im französischen Original bereits im Jahr 2005 erschien.

Die Abfolge der beiden, in Umfang und Erzählweise unterschiedlichen Bücher, ist bedeutsam, denn rückblickend erscheint "Selbstporträt in Grün" wie eine literarische Vorstudie zu "Drei starke Frauen", wie eine Einstimmung auf das spätere Romanmodell dreier untergründig ver-bundener Geschichten mit drei weiblichen Hauptfiguren, die ineinander übergehen und deren Identität nicht voneinander abgegrenzt ist. Schon nach wenigen Lektüreseiten wirkt der Titel "Selbstporträt", der auf das Genre der bildenden Kunst verweist, recht frappierend. Denn ein Selbstporträt im Sinn empirischer Selbstabbildung liefert der zwischen Essay, Meditation und Erzählung schillernde Text gerade nicht. Zwar tritt ein erzählendes weibliches Ich auf, aber es entzieht sich jeder figürlichen Definition. Auch die kleinen Schwarzweißfotos im Text kon-kretisieren nicht. Die Aufnahmen wirken historisch und zeigen immer Frauenkörper, oft angeschnitten und unscharf.

Der Leser erfährt von der Frau, deren Stimme den Text hervorbringt, nicht viel mehr, als dass sie vier Mal am Tag mit dem Auto an einem Haus mit einem großen Garten vorbei fährt: morgens, wenn sie ihre Kinder zur Schule bringt und wieder nach Hause zurückkehrt, und am Spätnachmittag, wenn sie den gleichen Weg zurücklegt. Bei einer der Fahrten sieht sie im Grün einer Bananenstaude ein weibliches Wesen auftauchen, das nur für sie sichtbar zu sein scheint. Aber wer ist diese Frau? Ein reales Außenbild? Ein Tagtraumbild? Eine Untote? Sie erinnert die Erzählerin an eine strenge Grundschullehrerin, die vor Jahrzehnten eine grüne Jacke trug und längst verstorben ist. Sie erinnert aber auch verschwommen an andere Frauen aus der Vergangenheit wie aus der Gegenwart, an Freundinnen, Nachbarinnen, Mütter der Mitschüler der Kinder. Frauen, die nur mit einem Satz, einer Szene, einem Attribut, einem Dialogfetzen durch den Text streifen, wie blitzlichtartig auftauchende und verschwindende Schemen. Gemeinsam ist ihnen nur eines: Die Assoziation mit der Farbe grün.

"Selbstporträt in Grün" ist ein literarisches Experiment, die erzählerische Beschreibung einer Reise durch das Unbewusste, die entfernt an die Prosa der französischen Schriftstellerin Marguerite Duras erinnert. Nichts – das drückt Marie NDiayne mit diesem Text aus – lässt sich so wenig fassen wie das eigene Selbst. Denn dieses ist eine Summe von Gestalten, Phan-tasien, Stimmen. Den Mystizismus dieser Idee widerlegt die Autorin mit einer ausgesprochen sachlichen, prägnanten Sprache, die es dem Leser leicht macht, ihr zu folgen.

Besprochen von Ursula März

Marie NDiaye: Selbstporträt in Grün
Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer
Arche Verlag 2011
128 Seiten, 18,00 Euro