Linie 4 in Rotterdam

Frag nicht, wo die Altstadt ist

Rotterdam, Beurstraverse
In Rotterdams Zentrum wird seit langem radikal modern gebaut. Hier die Shopping Mall Beurstraverse, entstanden zwischen 1986 und 1996. © imago / UIG
Von Annett Gröschner · 11.02.2015
1940 zerstörten deutsche Bomben das Zentrum von Rotterdam. Beim Wiederaufbau entschieden sich die Planer für einen radikal modernen Neuanfang. Unter anderem entstand hier die Mutter aller Einkaufspassagen. "Originalton" von Annett Gröschner.
"(Don't) ask for the Altstadt" steht auf einer Ansichtskarte, die Studierende gestaltet haben und in einem Geschäft am Weena an Touristen verkaufen. Das "Don't" ist in Klammern. Denn natürlich kommt keine Erzählung über Rotterdam ohne jene zehn Minuten am 14. Mai 1940 aus, in denen die Innenstadt von Rotterdam von Flugzeugen der Deutschen Luftwaffe dem Erdboden gleich gemacht wurde.
Guernica, Coventry, Rotterdam, das waren die drei Orte, die vor jenen kamen, auf deren enttrümmerten Flächen ich mich aufhielt: Magdeburg, Dresden, Berlin. Ohne die Bombardierungen der ersteren hätte es die Zerstörung letzterer nicht gegeben.
Vor der Bombardierung fuhr die 4 durch die Innenstadt, danach gab es dort keine Oberleitungen mehr und die Schienen waren unter Schutt begraben. Bald bekam sie eine andere Strecke, Richtung Westen, und dabei blieb es dann auch. Bei Alexander Kluge heißt es über die Zerstörung seiner Heimatstadt Halberstadt: "Über den zugeschütteten Grundstücken und den durch die Trümmerwelt verwischten Straßenzügen ziehen sich nach einigen Tagen Trampelpfade, die auf legere Weise an frühere Wegverbindungen anknüpfen." Auch auf den Fotos vom Coolviertel sieht man diese Pfade.
Stadtführer: "In der Tat, nach den Bombardierungen war hier nichts."
Tabula Rasa und völlig neuer Grundriss
Schon unmittelbar nach der Zerstörung der Stadt gab es einen Wiederaufbauplan. Man entschied sich schließlich für die radikal moderne Stadt mit ihrer Trennung von Arbeit, Wohnen und Vergnügen. Die Grundstückseigentümer der Häuser wurden entschädigt. So war der Weg frei für einen völlig neuen Grundriss des Coolviertels, das vor der Bombardierung wegen seiner Enge und wenig Komfort keinen guten Ruf genoss. Ende der 40er-Jahre entschloss man sich zum Bau der Lijnbaan, einer Ladenpassage auf zwei sich kreuzenden Straßen.
Stadtführer: "Der Lijnbaan war sehr beliebt. Es war das erste überdeckte Einkaufszentrum der Niederlande."
Reporterin: "Ja überhaupt, glaub ich, in Europa."
Stadtführer: "Und der Entwurf ist eigentlich inspiriert von den Notläden, die wir hatten. Alle Läden waren verschwunden. Und später hat das die Architekten inspiriert. Und ich muß sagen, ich muß gestehen, ich komme hier gerne."
Die Lijnbaan ist die Mutter aller Einkaufspassagen. Selbst die sogenannten sozialistischen Straßen, die Fußgängerzonen von Magdeburg und Dresden, das ist deutlich zu sehen, waren inspiriert von dieser Rotterdamer Einkaufsstraße, in der alles, selbst das Stadtmobiliar wie Leuchten, Vitrinen und Sitzgelegenheiten, aufeinander abgestimmt war. In Rotterdam entschloss man sich Mitte der 80er-Jahre für eine Korrektur der strengen Trennung zwischen Arbeit, Wohnen und Freizeit. Denn es gab kaum Wohnungen in diesem Teil der Stadt.

Die Journalistin Annett Gröschner hat ihr Arbeitszimmer in den Straßenbahnen und Bussen dieser Welt. Für ihre Geschichten ist sie schon in New York, Budapest und Peking gewesen. Das Besondere: Sie fährt ausschließlich mit der Linie 4. 2012 erschien ihr Buch "Mit der Linie 4 um die Welt", mit Fotografien von Annett Gröschner und Arwed Messmer in der Deutschen Verlags-Anstalt, München . Auch nach Abschluss des Buches erkundet sie weiterhin Städte mit der Linie 4. Für unsere Reihe "Originalton" ist sie in dieser Woche in Rotterdam. Dort ist sie mit dem Stadtführer Marcel Teunissen unterwegs, der sich hin und wieder mit einem "deutsch-niederländischen Originalton" zu Wort meldet.

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