Liebeserklärung an Leipzig

Pünktlich zu Erich Loests 83. Geburtstag erschien unter dem Titel „Löwenstadt“ die Fortsetzung seines Romans „Völkerschlachtdenkmal“. Nach „Nikolaikirche“, seiner Hommage an die friedliche Revolution, und seinem Roman „Reichsgericht“ hat Erich Loest nun mit seinem neuen Buch seiner alten Liebe Leipzig einmal mehr ein literarisches wie dokumentarisches Denkmal gesetzt.
In diesem Geschichtsroman mit dem doppelsinnigen Titel „Löwenstadt“ werden 200 Jahre lebendig: von Napoleons Niederlage in der Völkerschlacht bei Leipzig bis zum großen Wahljahr 2009. Darin findet sich manche „Geschichte, die noch qualmt“.

„Mein Roman ‚Völkerschlachtdenkmal‘ ist ´84 erschienen [und hört so ungefähr 1980 auf]. In der Zwischenzeit ist viel geschehen und ich lasse nun meinen Helden weiter erzählen. Ich lasse ihn berichten über das, was er in Leipzig um das Denkmal, um die Paulinerkirche, was er in dieser Löwenstadt erlebt – bis vorgestern, bis zum letzten Jahr, [als ich dann abschließe. Er ist dann betagt, er ist in den 90er-Jahren, aber er ist so klar im Kopf und er vermischt so in seinem Kopf, auch wieder wie er es in seinen ersten Jahren getan hat. Es ist also in der Darstellung kein Bruch.]“

Wie schon in „Völkerschlachtdenkmal“ ist Fredi Linden, der sich bisweilen auch Carl Friedrich Fürchtegott Vojciech Felix Alfred Linden nennt, die Hauptfigur.
Nach seinem Plan, diesen Denkmalsklotz zu sprengen, landet er Anfang der Achtziger in der Psychiatrie. In einem einzigen, so langen wie kurzweiligen Monolog berichtet er dem Professor in verhörähnlichen Sitzungen aus seinem bewegten Leben und schlüpft in das seiner Ahnen. Charakteristisch für sie alle ist, sie standen meist auf der falschen Seite der Geschichte: „Der friedfertigste Sachse ist immer ein geschlagener Sachse.“

Und wie schon in „Völkerschlachtdenkmal“ glaubt man ihm gern, er sei tatsächlich dabei gewesen: als Bauernbursche Carl Friedrich im sächsischen Linienregiment auf Napoleons Verliererseite; als Gutsherr Fürchtegott von Lindenau, dem es zur Obsession wird, eine Schädelstätte zu errichten, die noch keiner will; als Vojciech Machulski aus Oberschlesien, der 100 Jahre später am monströsen Völkerschlachtdenkmal mitbaut. – Und der in einer großartigen Slapstick-Szene zur Einweihungsfeier Löwen, das Wappentier der Stadt, dort hinein schleusen will. Die anwesenden Monarchen sollen im Jahr 1913 schwören: Nie wieder Krieg.

„Es ist ein historischer Roman. Wir haben gelernt von den Erfindern Tolstoi und Feuchtwanger und wer auch immer, dass man sich an die Fakten halten muss, aber wir erfinden Personen hinein, die dann diese Fakten tragen. Und dabei gibt es eigene Empfindungen. Bei mir kommt noch hinzu, dass der Erzähler ein alter Mann ist, bei dem manches durcheinander geht. Und er verwechselt dann schon mal die SS mit der Roten Armee oder Ulbricht mit sonst jemanden. Das hat aber nur einen künstlerischen Vorteil, einen künstlerischen Charakter, und mindert den Wahrheitsgehalt nicht.“

Loest lässt Linden von historischen Irrtümern erzählen, auch von denen seines Vaters, des SA-Manns Felix Linden, der die Leipziger Universitätskirche rettet und dabei sein Leben verliert.

In der DDR wird Fredi zum Sprengmeister: „Sprengmeister, da stutzt jeder. Wenn ich in einer Kneipe erzählt habe, was ich bin, war meistens Ruhe.“

Als Linden 1968 die von der Parteiführung angeordnete Sprengung der Leipziger Universitätskirche sabotiert und erst nach mehreren Wochen aus der „staatssichernden Institution“ frei kommt, will er aus Protest gegen die „sozialistischen Verderber“ nur noch eins: das Völkerschlachtdenkmal in die Luft jagen.

Gegen Ende der DDR als alter Herr aus der Anstalt in ein Altenheim entlassen, wird er zum Zaungast der Revolution. Fortan bietet er den Mitbewohnern dank der Berichte seines Sohnes Joachim, eines Parteifunktionärs für besondere Aufgaben, exklusive Einblicke in den inneren Zirkel der Macht.

Auch über die weitreichende Entscheidung des Polizeichefs Generalmajor Straßenburg angesichts der 70.000 auf dem Leipziger Ring am 9. Oktober 1989: Rückzug und Eigensicherung. Das ist ein Stück Geschichte, das selbst in Geschichtsbüchern bislang so nicht vorkommt.
Die Ängste der Partei in dieser Zeit bündeln sich im ehemaligen SED-Bezirkssekretär Ratzel:

„Voller Entsetzen malte Ratzel sich aus, in einem Hinterzimmer rotteten sich Frauen und Männer zusammen, die im Parteilehrjahr Lenins Revolutionsthesen begriffen hatten und feststellten: Die Macht liegt auf der Straße, wir brauchen sie nur aufzuheben. Wir werden zur Bezirksleitung ziehen, unter dem Ruf ‚Keine Gewalt!‘ eindringen, die SED in Leipzig als aufgelöst erklären, ihre Konten beschlagnahmen. Kontrolle des Rundfunks. Besetzung der ‚Volkszeitung‘.“

Die Mauer fällt und alles sortiert sich neu. Die künftige Strategie besprechen die Genossen Ratzel und Lindens Sohn Joachim im „Fürstenhof“: Untertauchen, unterwandern, überwintern, bis die Zeit reif ist. Positionen des Staates mussten geopfert werden, um die Partei zu retten.

„Ich habe ‚Völkerschlachtdenkmal‘ in Leipzig erdacht, in Leipzig geschrieben, ich habe das fast fertige Manuskript 81 dann mitgenommen in den Westen, dort ist es dann in Hamburg erschienen. Nach meiner Rückkehr in den 90er-Jahren haben wir uns vieles einfacher vorgestellt. Und wir müssen begreifen, dass es viel schwieriger ist, und dass es viel länger dauert, zusammenzufügen, was zusammen gehört, als wir das damals dachten. Es ist in diesem Jahr, dem Jubiläumsjahr natürlich kurios und absurd, dass die Partei, die damals dieses Land ins Unglück gestürzt hat, kaputt gemacht hat, nun wieder Auftrieb erhält, sich anschickt, im Stadtparlament, in Sachsen, zur stärksten Fraktion zu werden. Das hätten wir uns nicht träumen lassen und mein Ärger entzündet sich daran. Und ich versuche auch mit diesem Buch dagegen anzugehen.“

Bereits in Erich Loests so lesenswerten wie urteilsmächtigen Einmischungen zurzeit, seinem Sammelband „Einmal Exil und zurück“ aus dem Jahr 2008, kann man es nachlesen: Manche Entscheidung in der Stadt und vor allem die Zeit arbeiten für die linke Restauration.

Da lässt der Uni-Rektor ein 33 Tonnen schweres bronzenes Marx-Relief, Streitobjekt in Leipzig seit 1990 und Prestigeobjekt der Linken, neu vor der Mensa der Sporthochschule aufstellen. Werner Tübkes sozialistisches Kolossalgemälde „Arbeiterklasse und Intelligenz“ findet im Universitätsneubau seinen aussagekräftigen Platz. Darauf konterfeit ist auch der frühere SED-Bezirkschef Paul Fröhlich, jener Funktionär, der die bürgerlich-humanistische Universität zerschlagen ließ und der sich 1968 als Sprengmeister der Universitätskirche einen Namen machte. In „Löwenstadt“ ist all das mehr als nur erzählerische Fiktion.

20 Jahre nach dem Zusammenbruch, beim illustren Mahl im Edelrestaurant „Falco“ hoch über den Dächern Leipzigs schauen der ehemalige Stasi-Zuträger Kaltow – unschwer erkennbar ist hier der heutige Spitzenkandidat der „Linken“ Volker Külow, Joachim und Ratzel auf das Lichtermeer unten und resümieren: „Gar so blöd waren wir damals nicht. Der Kapitalismus hat das doch ganz gut hingekriegt.“

„Während Buchweizentütchen mit Sauerrahmespuma und Belugakaviar getischt wurden, dazu Vodka Russian Standard, erwog er zum Angriff überzugehen. Dem stimmte Kaltow zu: Im Großwahljahr 2009 werde seine Partei bei der Stadtratswahl alle Kraft mobilisieren, um stärkste Fraktion zu werden. Oskar und Gregor als Starredner.“

Liest man diese „Löwenstadt“ der Gegenwart, spürt man hautnah, welche politisch restaurative Spannung sich im Osten aufbaut. Erich Loests überaus frisch und voller funkelnder Ironie erzählter Roman tut gut in einer Zeit, in der unser gesellschaftliches Gedächtnis einmal mehr auffällig schwächelt.

Erich Loest: Löwenstadt
Steidl Verlag
Erich Loest: Löwenstadt
Erich Loest: Löwenstadt© Steidl Verlag