Liebeserklärung an einen Außenseiter

Rezensiert von Christian Schüle · 27.10.2013
Der französische Philosoph Michel Onfray hat eine Seligsprechung Albert Camus verfasst, ist dabei parteiisch bis zur Schmerzgrenze. Er erzählt zupackend und eindringlich die Kindheit und Reifejahre Camus' und rekonstruiert dessen Grundgedanken - allerdings allzu redundant.
Die Biografie des Philosophen Albert Camus aus der Feder des französischen Philosophen Michel Onfray ist keine Biografie im eigentlichen Sinne, sie ist eine Liebeserklärung. Mehr noch: Sie ist die Seligsprechung eines intellektuell einsamen, zwischen allen Stühlen der Ideologien sitzenden Außenseiters, dessen Philosophie als Literatur marginalisiert und dessen Literatur als Philosophie verurteilt wurde.

Von der ersten Seite dieses 570 Seiten starken Versuchs einer Nobilitierung des Philosophen, Schriftstellers, Journalisten, Redakteurs, Theaterautors und Freidenkers an, lässt sein eifriger Biograf keinen Zweifel daran, dass Denken und Handeln, Leben und Ethik bei Albert Camus ein und dasselbe sind. Und überhaupt, nein: Er lässt grundsätzlich keinen Zweifel an Camus zu.

"Camus handelte als Philosoph und philosophierte als handelnder Mensch."

… schreibt Onfray und stellt Camus auf eine Stufe mit Sören Kierkegaard und vor allem Friedrich Nietzsche. Onfray schickt Camus und den Leser auf einen Seitenpfad der europäischen Geistesgeschichte, der durch den neuplatonischen Ägypter Plotin um 250 nach Christus angelegt und durch den Sachsen Nietzsche Ende des 19. Jahrhunderts geebnet wurde: die dionysische Feier des Körpers, die unbedingte Bejahung des Lebens, die Lichthelle der lebendigen, tanzenden, sinnlichen Existenz gegen die Düsternis der akademischen Begriffsklöppler und idealistischen Systemerfinder.

"Für den Heiden Camus hat Leid keinen Sinn. Er liebte schöne Frauenkörper, von der Mittelmeersonne gebräunte Haut, die zeitlose Atmosphäre der Strände, das reinigende Meerwasser, die Gerüche von Tipasa und die Straßen Algiers."

Onfray gliedert seine Biografie – analog zu den Lebenswelten des Albert Camus – in zwei Hauptteile. Der erste rekonstruiert dessen Kindheit und Jugend im, wie Onfray es nennt, "mediterranen Königreich" Algeriens; der zweite Camus Reifejahre und reifen Jahre ab 1940 im europäischen Exil in Paris und Frankreich. Der erste Teil entfaltet Camus Überzeugungen, Motive und Wertvorstellungen aus der Realität erlebter Armut in Algier. Der zweite handelt von der Konfrontation des erwachsenen Philosophen mit Faschismus, Kommunismus und Bolschewismus.

"Camus’ Gedanken kreisten ununterbrochen um legale Verbrechen, ideologisch motivierte Attentate, Selbstmord oder den Mord am Nächsten und um programmiertes, legitimiertes Morden. Er begehrte unablässig gegen diese unentschuldbare Ungerechtigkeit auf."

In eminent vielen, kurzen, zwei- bis dreiseitigen, mit knappen, schlaglichtartigen Titeln versehenen Abschnitten rekonstruiert Onfray die Grundgedanken des Camus’schen Oeuvres aus dessen gelebtem Leben heraus. Beides, Leben wie Denken des Philosophenschriftstellers, handelt vom politischen Menschen in der Revolte während des Nihilismus der ersten 50 Jahre des 20. Jahrhunderts – ein Leben im Angesicht von Lager, Tod und furchtbaren Verbrechen, das Camus später "absurd" nannte.

Der Schlüssel zum schreibenden Camus ist seine Herkunft als Kind eines in den ersten Tagen des Ersten Weltkriegs gefallenen Feldarbeiters und einer durch Stummheit behinderten, schönen, gütigen, von Albert zeitlebens über die Maßen geliebten Mutter.

"Als Halbwaise, Staatsmündel, Stipendiat einer staatlichen Schule, als ein von der Großmutter unterdrücktes Kind, als Sohn einer behinderten Mutter und Tuberkolosekranker kannte Camus das Leben der Armen, der Sprachlosen aus eigener Erfahrung."

Wie sein frühes Vorbild Nietzsche, war auch Camus sein ganzes Leben lang krank. Seine Lungen wurden zerfressen, er hatte Fieberschübe und glaubte, jung sterben zu müssen. Seine philosophischen Gedanken über Leid, Krankheit, Einsamkeit, über Trauer, Tod und Selbstmord setzen also bei ihm selbst, bei der konkreten, der selbsterfahrenen Existenz an.

"Die Tuberkolose zwang Camus, sein Leben als Tragödie zu betrachten … Sein Körper ekelte ihn."

Lesart-Cover: Michel Onfray "Im Namen der Freiheit"
Michel Onfray "Im Namen der Freiheit"© Knaus Verlag
Ein unvermüdlich engagierter Kämpfer
Onfray rückt dem epikureisch veranlagten Philosophen afrikanisch-algerischer Sinnlichkeit bedrängend nah zu Leibe. Vor dem Auge des Lesers ersteht Albert Camus als unermüdlich engagierter Kämpfer auf, als Streiter für algerische Araber, für Muslime als solche, für Streikrecht und Abtreibung, und als Streiter gegen Ungerechtigkeit und Lohnungleichheit, Folter, Gewalt und Militär, gegen Totalitarismus und Kolonialismus.

"Camus ging es darum, einen Lebensstil und ein Denken aufzuzeigen, wie sie in einer vom Nihilismus zerfressenen Zeit möglich und angemessen sind."

Der Biograf ist parteiisch bis zur Schmerzgrenze intellektueller Redlichkeit. Michel Onfray ist offensichtlich verärgert, dass Camus Philosophie der Lebenskunst von der akademischen Lehre mit brutaler Beiläufigkeit an den Rand gedrängt wurde. Onfray verdammt Sartre, arbeitet sich an Sartre ab, verunglimpft Sartre und überführt diesen großbürgerlichen Caféhausintellektuellen mit etwas selbstgerechtem Furor als karrieristischen, rachsüchtigen, herablassenden Opportunisten. Er führt die Pariser Existentialisten als unreife Elite vor, rasiert nebenbei noch seinen eigenen Lieblingsfeind Sigmund Freud, und tritt Hegel und Marx in die Tonne. Er deutet, wertet, greift ein und erledigt all jene bolschewistisch verblendeten Philosophie-Ideologen, die den Gerechtigkeits-Kommunisten Camus einst selbst erledigt hatten.

"Camus war kein Mensch des Ressentiments, sondern ein Mensch der Treue."

Über weite Strecken ist Onfrays Camus-Hagiografie eine zupackende, meist eindringlich erzählte und wohltuend gut geschriebene Exegese, mit leidenschaftlicher Verve, ungehemmter Bewunderung, ja persönlicher Verehrung für den sozialistischen Philosophen des mediterranen Lichtes, dessen Liebe zur unbedingten Freiheit vom Hedonismus des Unzivilisierten in den Anarchismus des Libertärs führte. Die Steilheit seiner Deutung ist erfrischend, frech und frei – doch irgendwann wird es zuviel des Guten: Des Advokaten Ehrenrettungsanstrengungen werden auf die Dauer selbst anstrengend. Sie wirken getrieben, bisweilen selbstverliebt.

Ab der Hälfte zerfließt das im übrigen hervorragend ins Deutsche übertragene Buch in Variationen des Immergleichen, in mantraartige Redundanzen. Es mangelt ihm an Strenge, Stringenz und Maß. Und dennoch: Onfray schafft es, den ewigen Außenseiter Albert Camus aus der Denktiefe des philosophischen Raums seiner Zeit als Mensch in konkreter Existenz plastisch werden zu lassen. Das ist, kurz bevor die Lider des erschöpften Lesers zufallen, als überaus respektable Leistung anzuerkennen.

Michel Onfray: Im Namen der Freiheit. Leben und Philosophie des Albert Camus
Aus dem Französischen von Stephanie Singh
Knaus Verlag, München 2013
576 Seiten, 29,99 Euro