Liebe und (Un-)Treue nach 68

"Wer zweimal mit derselben pennt..."

28:59 Minuten
Szene aus dem Film "Zwischen Beat und Bett" (1968) des Regisseurs Robert Freeman.
Der Summer of Love 1968 legte den Grundstein für die Liberalisierung der Sexualität. Szene aus "Zwischen Beat und Bett" (1968) des Regisseurs Robert Freeman. © imago / United Archives
Von Anke Schaefer · 26.05.2021
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Ehe, Treue und kleinbürgerliche Familie - die 68er streiften die Fesseln alter Konventionen ab und träumten von der freien Liebe. Doch der Traum war schöner als die Wirklichkeit. Was ist heute von der sexuellen Revolution geblieben?
"Die Welt stand uns ja offen. Man fuhr irgendwo hin, kannte niemanden, das war kein Problem, irgendjemand fragte, wollt ihr bei uns schlafen?", erzählt Beate Passow, die 1968 Studentin an der Kunstakademie in München war. "Das ganze Leben war sehr viel unreglementierter, man brauchte sehr viel weniger Geld. Es war nicht in dem Maße kommerzialisiert. Das Vertrauen war groß, das man in die anderen hatte, die man ja erkannte, vom Outfit her und wie sie sich unterhielten und was sie für Musik hörten, da wusste man ja sofort Bescheid! Ich habe nie eine schlechte Erfahrung gemacht."

Das Feature "Liebe und (Un-)Treue nach 68" wurde erstmals am 3. Januar 2018 ausgestrahlt.

Geboren wurde Passow 1945 als Tochter einer Polin und eines Deutschen. Ihr Vater war Oberforstrat. Ein Mann, der in Krakau mit Göring auf die Jagd gegangen ist. Nahe und ferne Familiengeschichte 1968: "Ich denke, die nationalsozialistischen Eltern, die wir fast alle hatten, sind ganz sicher der Grund, dass wir als Generation wussten, wir müssen das eliminieren. Wir müssen etwas Eigenständiges dagegen tun. Und das fing mit der Musik, mit Elvis an. So der Aufbruch der Jugend. Und das Make Love not War, das war so ein Motto gegen die Eltern. Und das konnten wir und durften wir und haben wir einfach ausgelebt."

In den 1960ern ist außerehelicher Sex verboten

Gegen die Eltern, das hieß: nicht nur gegen die Eltern und deren Nazi-Geschichte, sondern auch gegen den Geist der Nachkriegszeit, der Adenauer-Zeit mit ihren rigiden Moralvorstellungen. "Die moralische Ordnung fordert, dass körperliche Beziehungen zwischen den Geschlechtern grundsätzlich sich nur in monogamen Ehen vollziehen, da der Zweck und Ergebnis dieser Beziehung das Kind ist", so der Bundesgerichtshof 1961.
Die moralische Ordnung: Das war die unbarmherzige Durchsetzung des sechsten der zehn christlichen Gebote. Sexualität darf nur im Ehebett stattfinden, zum Zwecke der Fortpflanzung. Außerehelicher Verkehr ist verboten. Wer unter seinem Dach ein unverheiratetes Paar übernachten lässt, macht sich der Kuppelei verdächtig. Der entsprechende Paragraf wurde erst 1973 abgeschafft.
"Es war einfach Aufbruch. Wir hatten die Pille. Ich weiß noch, meine Mutter hatte immer Angst, in der Ehe hatte man auch immer Angst, schwanger zu werden, plötzlich konnte man selber entscheiden", erinnert sich Passow. "50 Prozent der Menschheit, zumindest in unseren Breiten, waren befreit von dieser Angst, unfreiwillig schwanger zu werden. Und das rief ein wunderbares Gefühl hervor, an Selbstbestimmung. Das wollte man ausleben. Diese Befreiung, ohne Pille wäre das nicht denkbar gewesen."
1968 erodiert die alte Ordnung. In "Zur Sache Schätzchen" stiftet Uschi Glas Verwirrung auf dem Polizeirevier, indem sie sich vor den Ordnungshütern bis auf die Unterwäsche auszieht – und die Zuschauer lachen über die Polizei. Oswalt Kolle erklärt den Deutschen "Das Wunder der Liebe" - ohne Angst vor ungewollter Schwangerschaft.
Beate Passow war zu dem Zeitpunkt schon verheiratet und hatte einen Sohn. "Aber das änderte nichts an dem Leben, das wir führten. Das bedeutete, dass man irgendwann anfing mit wechselnden Männerbeziehungen, die aber auch offen ausgetragen wurden. Man hat nicht mehr das gemacht, was die Mütter taten, das zu verheimlichen, sondern man hat das offen ausgetragen. Männer hatten das ja immer für sich in Anspruch genommen, aber jetzt fingen wir damit an. Wobei es für uns natürlich ein wunderbares Aufbruchsgefühl war, selbstständig zu sein und zu bestimmen, wozu man Lust hatte. Ich kenne eigentlich niemand aus der Zeit, bei dem das anders gewesen ist."

Raus aus der kleinbürgerlichen Enge

Zumindest nicht in den Kreisen, in denen Beate Passow in München verkehrte. Sie gehörte ja damals zu einer kleinen Minderheit. Die meisten jungen Erwachsenen lebten noch nach alter Sitte. Noch.
"Ich bin in einer sehr konservativen Familie aufgewachsen und war auf dem Weg zum Priestertum, und da habe ich diese Zeit als sehr befremdlich erlebt", sagt der österreichische Paartherapeut Hans Jellouschek. Der "Beziehungspapst", wie er auch schon mal genannt wird, der in seinen Büchern über Treue und Untreue reflektiert, über das Bedürfnis nach Bindung und nach Autonomie.
Jellouschek: "Das war auch etwas sehr Wichtiges, um aus der Enge rauszukommen und auch zu sich selber zu finden! Autonomie! Und das ist sicherlich davor in den strengen Gesetzen, die durch die Kirche und die gesellschaftliche Konvention gegeben waren, einfach zu kurz gekommen."
Autonomie, Befreiung von erstarrten gesellschaftlichen Konventionen. Nie zuvor wurde so viel gevögelt in Deutschland, nie zuvor wurden die Partner so munter gewechselt. "Fickt euch frei": die sexuelle Revolution als klassenkämpferischer Akt. Nicht nur der alte Theoretiker Karl Marx erlebte eine ungeahnte Renaissance, sondern ebenso sehr Wilhelm Reich.
Aufnahme des österreichischen Psychoanalytikers Wilhelm Reich ("Die sexuelle Revolution") aus dem Jahr 1935 auf den Stufen eines Hauses in Oslo.
Mit seiner Sexualethik prägte der österreichische Psychoanalytiker Wilhelm Reich die sexuelle Revolution (Bild von 1935).© dpa / picture-aliance / UPI
"Die Funktion des Orgasmus", 1927 veröffentlicht, in den 60er-Jahren wiederentdeckt. "Die Massenpsychologie des Faschismus", "Die Sexualität im Kulturkampf". Wilhelm Reich lieferte den theoretischen Überbau für die Entfesselung der Sexualität – die Theorie, dass der sexuell unterdrückte Mensch anfällig sei für den Faschismus.

Die unterdrückte Sexualität und der Faschismus

Wenn sexuelle Unterdrückung die Menschen anfällig macht für den Faschismus: Was lag näher, als den Faschismus zu überwinden, indem man die menschliche Begierde von kulturellen und normativen Fesseln befreit, auf dass man – frau – nach Lust und Laune miteinander ins Bett geht?!
"Der Lebens- und sexualverneinend erzogene Mensch erwirbt eine Lustangst, die physiologisch in chronischen Muskelspannungen verankert ist", schreibt Wilhelm Reich in "Die Funktion des Orgasmus". "Die neurotische Lustangst ist die Grundlage der Reproduktion der lebensverneinenden, Diktatur begründeten Weltanschauung durch den Menschen selbst. Sie ist der Kern der Angst vor selbstständiger freiheitlicher Lebensführung. Dies wird die wichtigste Kraftquelle jeder Art politischer Reaktion, der Herrschaft von Einzelpersonen oder Gruppen über die Mehrheit der arbeitenden Menschen."
Die Adressaten der 68er-Befreiung des "sexualverneinend erzogenen Menschen" waren selbstverständlich Heterosexuelle. Das Tabu Homosexualität war noch lange nicht gebrochen. Und auch die Beziehung der Geschlechter untereinander noch nicht reflektiert. "Wer zweimal mit derselben pennt, gehört zum Establishment." Der berühmt gewordene Spruch hieß nicht: "Wer zweimal mit demselben pennt." Aber das sollte sich ändern – spätestens, seit im September 1968 eine Studentin die Männer am Vorstandstisch des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) mit Tomaten bewarf.
Sexuelle Freiheit war nicht mehr nur dem Mann vorbehalten. Was natürlich Konsequenzen für die Partnerschaft hatte. "Ich war nicht eifersüchtig, vordergründig", erinnert sich die Künstlerin Beate Passow, wenn sie auf die Liebschaften ihres Mannes guckt. "Aber ich fand die immer 'unter Niveau', sozusagen. Das war sozusagen die Möglichkeit, die Eifersucht umzuwandeln. Ich habe ja gar nichts dagegen, aber nicht die! Das ist ja sehr beliebt, das habe ich sicher auch betrieben."

Sexuelle Freiheit für die Männer

Irgendwann habe sie dann immer eine feste Beziehung gehabt. "Und mein Mann und die Beziehung, die sind zusammen in den Atzinger gegangen. Das ist eine Studentenkneipe, da haben sie Bier getrunken. Später war mein Sohn dabei. Und zwar fanden die sich sehr nett. Und es gab eigentlich keine Rivalität." Freie Liebe. Beate Passows Mann und ihr Lover sitzen in München im Atzinger und gehen nicht aufeinander los, sondern pflegen freundschaftlichen Kontakt.
Zur selben Zeit entschied sich Frank Ritter für die freie Liebe in Berlin. Er zog in eine Kommune, eine Dependance der Otto-Mühl-Kommune, die einen radikalen Ansatz von freier Liebe propagierte. Mühls Credo: Alles gesellschaftliche Übel resultiert aus der Zweierbeziehung, weshalb man sie verbieten muss. Das hieß: Jede Nacht mit einer anderen Frau ins Bett gehen.
"Natürlich hatte die Kommune positive Aspekte. Ich bin tatsächlich zu einem uneifersüchtigen Menschen geworden. Ich habe keine Eifersucht mehr!", meint Ritter. "Also, meine Frau, die mir sehr treu ist, übrigens, aber sagen wir mal, sie würde fremdgehen: Ich glaube nicht, dass ich da jetzt ausrasten würde. Man wird ein bisschen cooler. Auf der anderen Seite – nach dem Ende der Kommune, da musste ich richtig jahrelang daran arbeiten, mein Gefühlsleben wiederzubeleben. Ich hatte mir im Grunde genommen meine Liebesgefühle abgewöhnt."
Frank Ritter lebt immer noch in Berlin, führt einen Verlag. Er lebt inzwischen seit 22 Jahren an der Seite seiner Frau, die damals auch Mitglied der Kommune war. Sie haben zwei Kinder. Er liebt seine Frau ganz explizit – nicht. "Nein. Wir schätzen uns gegenseitig sehr, aber die Liebe in dem Sinne, wie sie in Schlagern oder Gedichten besungen wird, da habe ich meine Zweifel, nach all den Erfahrungen, ob das eigentlich so ein erstrebenwerter Zustand ist, verliebt zu sein", betont er. "Sondern eine gute Partnerschaft, wo man einander versteht, akzeptiert, gegenseitig hilft, also eine Solidargemeinschaft, auch intim, wo man auf seine sexuellen Bedürfnisse eingeht, gegenseitig, das ist mir sehr wichtig, aber Liebe in dem gemeinen Sinne des Wortes – ich glaube, ich brauche es nicht. Und ich weiß nicht, ob es nicht eher ein Problem ist – als eine Chance."

"Alles gesellschaftliche Übel resultiert aus der Zweierbeziehung"

Otto Mühl war ein österreichischer Aktionskünstler, der sich als Therapeut sah. Er hatte 1970 in Wien die erste Kommune gegründet, später Dependancen, unter anderem in Berlin. Mühl wurde später in Österreich wegen "Kindesmissbrauchs und Verstoßes gegen das Suchtgiftgesetz" verurteilt, wanderte ins Gefängnis, und die Kommunenmitglieder mussten sich fragen lassen, warum sie da mitgemacht hatten.
Frank Ritter, dessen Namen wir geändert haben, hat darüber sehr lange nachgedacht. "Ich verurteile die Ideologie im Nachhinein, ich halte das Experiment von Anfang an für gescheitert. Aber dennoch war die persönliche Erfahrung vielfältig, nicht nur negativ, sonst wäre ich nicht die ganze Zeit geblieben."
14 Jahre lebte er in der Kommune, bis sie sich 1990 kurz nach dem Fall der Mauer auflöste. "Alles gesellschaftliche Übel resultiert aus der Zweierbeziehung", hieß es damals, und Ritter meint: "Das war sehr überzeugend. Aus heutiger Sicht, also wenn sie die Propagandaschriften lesen, dann kommt Ihnen das flach vor. Erstaunlich, wie man so was bewundern konnte! Die, die damals eingezogen sind, mich eingeschlossen, wir fanden das umwerfend überzeugend, zwingend förmlich."
Frank Ritter hatte vor seinem Einzug in die Kommune wenig sexuelle Erfahrungen gemacht. Er empfand sich selbst als "bürgerlich geschädigt". "Dass man ständig unglücklich verliebt ist, dass man ständig mit dem anderen Geschlecht Probleme hat, auch spürt, dass man mit seiner sexuellen Identität nicht zurechtkommt. Das passt irgendwie nicht immer, man streitet sich mit der Freundin." Außerdem seien noch andere Dinge dazugekommen. "Wir wollten nicht dieses spießige Leben eines Arbeitnehmers führen. Wir wollten nicht diese enge Moral wiederholen, die uns unsere Eltern, die vorkriegssozialisiert waren, vorlebten. Das lehnten wir alles komplett ab."
Kommunengründer Otto Mühl war begeistert von Wilhelm Reich und seiner Theorie, dass sexuelle Unterdrückung hörige Untertanen hervorbringe. Ein "rundum gesunder, glücklicher und geselliger Mensch" könne nur werden, wer seine orgiastische Potenz erreiche und zu einer "genitalen Persönlichkeit" werde.

Zwang zum Partnerwechsel beim Sex

Wenn nun in der Otto-Mühl-Kommune ganz konkret jeder Mann gezwungen war, jede Nacht mit einer anderen Frau zu schlafen und jede Frau mit einem anderen Mann, dann bekam Treue eine andere Bedeutung. Man war nicht einem Lebenspartner treu, sondern der Kommune. Externer sexueller Kontakt war streng verboten.
Die Frauen hatten Zimmer, die Männer nicht. Wollten die Männer in Zimmern schlafen, mussten sie sich mit einer Frau verabreden. Hat Frank Ritter das geschafft – 14 Jahre – jede Nacht mit einer anderen? "Ich war sehr pflichtbewusst und wollte auch die ideologischen Vorgaben erfüllen, also galt es zum Beispiel schon als Makel, wenn man sich nicht verabredete." Er war, sagt Frank Ritter, in all den Jahren immer heimlich verliebt. Er hat sich nichts anmerken lassen, denn Verliebtsein war bei Strafe verboten und hätte eine Degradierung in der Gruppenhierarchie zur Folge gehabt.
Freie Liebe? In der Otto-Mühl-Kommune führte man eine treue Gruppenehe und begab sich beim Ausbruch aus einer Gesellschaft, die von Zwängen geprägt war, in eine Gemeinschaft mit neuen Zwängen. Mühls extremes Experiment verkehrte die Idee der freien Liebe in einen Zwang zum Partnerwechsel beim Sex.
Rudi Dutschke (M) und seine Ehefrau Gretchen (l) bei einer Demonstration
"Freie Sexualität sollte bedeuten, dass die Frauen den Männern immer zur Verfügung standen.", erinnert sich Gretchen Dutschke (l). Hier mit ihrem Mann Rudi (M) bei einer Demonstration.© picture alliance/dpa/Foto: Rapp

Neue Form der sexuellen Unterdrückung

"Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment." Auch in dem 68er-Slogan steckte schon ein Zwang. Ehe und Treue waren als bürgerlich abzulehnen. Wer aus der Welt der alten Zwänge austrat, um ins Reich der freien Liebe einzutreten, landete nicht in einer Welt, in der alle freier und unbeschwerter lebten.
Gretchen Dutschke-Klotz, Rudi Dutschkes Frau, erinnerte sich 2008 in einem Interview in der EMMA: "Ich hatte schon ein Problem bei der Vorstellung, mit allen Männern schlafen zu müssen. Noch schwieriger fand ich jedoch die Vorstellung, was man mit den Leuten machen sollte, mit denen niemand schlafen wollte." Ihr Fazit: "Letztendlich sollte freie Sexualität bedeuten, dass die Frauen den Männern immer zur Verfügung standen."
"Ich weiß nicht, ob man als Frau freier wurde. Es wurde die ganze Verantwortung auf die Frau übertragen", sagt Doris Zölls, Zenmeisterin am Benediktushof, dem Zentrum für spirituelle Wege in Holzkirchen bei Würzburg, verheiratet, vier Kinder. "Also die Antibabypille ist für mich noch nicht ein Befreiungsschlag der Frau. Es ist ein Befreiungsschlag der Sexualität, aber es ist alles auf Kosten der Frauen. Das finde ich problematisch."

Die Kultivierung der Sexualität

Aus ihrer Sicht haben wir 50 Jahre nach 1968 noch lange nicht gelernt, was wir lernen könnten – nämlich unsere Sexualität zu kultivieren. "Die Kultivierung wäre, dass man den Trieb beherrschen kann. Wie beim Essen, wenn ich vor einem vollen Tisch sitze und nicht einfach reingrapsche, dann ist das – nicht dem Trieb ausgesetzt zu sein. Ich würde den Männern raten, ihren Trieb zu kultivieren, dass sie wirklich es noch lenken können, dass sie auch den Partner noch im Auge haben und auch mit der Partnerin harmonieren können, während des Aktes."
So befreiend der 68er-Ausbruch aus den Fesseln alter Konventionen war – der Traum von der freien Liebe war schöner als die Wirklichkeit. Paartherapeut Hans Jellouschek sagt sogar: "Die freie Liebe bringt sehr viel Unglück. Das ist eine Erfahrungstatsache."
Aber in dem Moment der Befreiung von alten Zwängen steckte ohne Zweifel eine enorme erotische Kraft. Das räumt auch Jellouschek ein. "Ja, das glaube ich schon, das war in der 68er-Revolution sicher der Fall, dass da Eros und das intensive Gefühl eine Rolle gespielt hat. Nicht nur in Beziehungen, sondern in dem, was einem als lebenswert erscheint. Das denke ich schon. Denn Plato hat den für die Grundkraft gehalten. Den Eros, also das ist sicher eine sehr grundlegende Sache. Diese Sehnsucht nach dem anderen, die Vereinigung mit dem anderen, das aktiviert sehr viel Energie und führt auch dazu, entsprechende Strukturen zu schaffen oder Strukturen zu sprengen, wenn sie verhärtet oder statisch geworden sind."

Das Erbe der 68er

Auf dem St. Johanner Markt in Saarbrücken sitzt Ralf Rousseau. 52 Jahre alt, Psychotherapeut und Qi Gong Lehrer. 1968 war er erst knapp drei Jahre alt, aber in den 80er-Jahren sei er dem Geist der 68er sehr verbunden gewesen, sagt er. Er lebte später zeitweise im ZEGG, dem Zentrum für Experimentelle Gesellschaftsgestaltung in der Nähe Berlins. Ein Ort, an dem monogame Beziehungen einen schweren Stand hatten.
Wir profitieren heute vom Erbe der 68er, sagt er: "Das Extreme mit den Kommunen, das hat alles viel geöffnet, viele Möglichkeiten geschaffen, die wir heute nutzen können, die wir nicht hätten, wenn es das nicht gegeben hätte, zum Beispiel: wählen zu können, wie man es denn gerne habe möchte. Ich will das mit mehreren probieren oder mit gleichgeschlechtlichen. Die Möglichkeit, viele Optionen zu haben, das ist ein Resultat dieser Befreiungsbewegung! Aber auch der Konservatismus hat auch ein Revival, in Amerika gibt es diese 'True Love waits'-Bewegung, wo junge Menschen sagen, wir wollen keinen Sex haben vor der Ehe und wir wollen erst miteinander schlafen, wenn wir uns füreinander entschieden haben. Das war hier im letzten Jahrhundert. Wir leben in einer Zeit, in der solche Dinge nebeneinander bestehen können und das ist vielleicht die Chance!"
Freie Liebe – Freiheiten, die früher undenkbar waren: Wer will, kann heute auch in polyamoren Beziehungen leben, in aller Offenheit mit mehreren Partnern gleichzeitig. Ralf Rousseau will das nicht, er lebt seit einigen Jahren monogam in einer festen Beziehung. "Ich war eigentlich in Realität meistens ziemlich treu, immer. In meinen Fantasien allerdings meistens ziemlich untreu", erzählt er. "Das hat sich in dem Sinne nicht verändert. In der Wirklichkeit bin ich tendenziell eigentlich fast immer ziemlich treu gewesen. Es gibt in uns Männern so einen Mechanismus der sexuellen Lust, der Begierde, der das anfeuert. Und wenn der ungefiltert – kann der bei reinen Bildern – für viele Männer findet Sex ja im Internet nur noch statt – und da kann das ohne viele Zwischenschaltungen einfach ablaufen. Wenn du mit jemand in Beziehung bist, dann schieben sich die ganzen anderen Dinge davor. Die ganzen Erfahrungen, die man miteinander hat, die guten, die schlechten. Ich glaube auch, das ist was Hormonelles, dass du, wenn du mit jemand immer zusammen bist, dass dann ein Gewöhnungseffekt auftritt oder so. Das ist ein bisschen mysteriös, was das genau ist, aber es ist einfach so."
Wenn Männer ihre sexuellen Wünsche vor dem Bildschirm, im Internet befriedigen, dann werde das, sagt der Beziehungstherapeut Hans Jellouschek, von Partnerinnen bereits als Treuebruch gewertet. 50 Jahre nach der sexuellen Revolution vertritt er die These, dass Treue für das Glück des Menschen wichtiger sei als freie Liebe.

Die durchsexualisierte Gesellschaft

"Treue ist nicht immer einfach", räumt er dabei ein. "Treue verlangt Verzicht. Aber Treue bringt insofern Glück, als Treue Intimität schafft. Weil ich weiß, ich kann mich wirklich auf den anderen verlassen, und immer wieder ist die Beziehung so, dass der nur mich haben möchte und ich nur ihn haben möchte. Oder sie haben möchte. Und dieses – von jemandem so gewollt sein, das ist ein ganz grundlegendes Bedürfnis. Wenn man in der Psychologie sagt, ohne dass ein kleines Kind erfährt, von seinen Eltern, dass es wirklich gewollt ist, kann es sich nicht wirklich gesund entwickeln. Und das bleibt immer so ein Grundbedürfnis. Wirklich von jemandem anderen gewollt zu sein."
Vielleicht ist Treue heute nicht mehr zu vergleichen mit Treue vor 1968. Als der Bruch einer Ehe eine gesellschaftliche Katastrophe war, auch wenn der Ehealltag die Hölle war. Wenn sich heute auf Werbeplakaten an jeder Straßenecke alle elf Minuten ein Single verliebt, dann ist die Paarung Teil kommerzieller Strategien, Teil des kapitalistischen Konsums – und Treue läuft diesen Strategien zuwider, man könnte fast sagen: ist eine widerständige Haltung zur Konsumgesellschaft.
Stefan und Eva haben in den 80ern geheiratet. In ihrem Freundeskreis war Heirat total verpönt. Sie waren die ersten, die es wieder wagten, sich zu trauen. "Mir ist Treue sehr, sehr wichtig", so Stefan. "Denn ich möchte mich in meiner Beziehung zeigen, von verletzlicher Seite, und das kann ich nicht, wenn ich das Gefühl habe, dass meine Partnerin da nicht so richtig dazu steht oder mit einem Fuß schon weg ist, dann würde ich mich das nicht trauen."
Und Eva ergänzt: "Wenn die Beziehung eine gute ist, kann ich daran reifen, kann zu mir selber stehen, kann viel über mich erfahren und kann lernen, mir selber treu zu sein. Das ist ein Ideal von einer Beziehung. Ich glaube, wir versuchen das, wir sind schon sehr lange zusammen, über 30 Jahre, auch über 30 Jahre verheiratet. Und ich finde das Spannende dran ist, dass sich da immer wieder was verändert."

Comeback der Familie

Auch für die Münchner Künstlerin Beate Passow hat Treue eine Bedeutung. Allerdings in erster Linie nicht bezogen auf die Paarbeziehung. "Für mich ist Treue, dass ich nach Möglichkeit mir treu bleibe, also nicht mich verbiege oder etwas mache, was ich nicht machen will. Das ist für mich Treue. Treue – einem Partner gegenüber? Finde ich nicht so gravierend. Auch die Untreue eines Partners finde ich nicht so gravierend. Wobei das eine Sicht von heute ist und nicht von damals. Damals fand ich das durchaus gravierend, wenn die untreu waren. Denn auch die Liebhaber waren ja untreu."
"Ich glaube, dass jetzt dieses Modell da ist, dass man einen Partner hat, dem treu ist und dann wartet bis man sich wieder getrennt hat und wieder einen nächsten hat, das ist vielleicht dem Menschen gemäßer, ich weiß es nicht", sagt Beate Passow, wenn sie auf die Gesellschaft der Gegenwart guckt und sie vergleicht mit damals, mit 1968. "Schöner war es anders!"
Unsere heutige Zeit nennt Beate Passow prüde. "Das Familienbild ist wieder heilig. Und das war es damals nicht. Und das finde ich bemerkenswert. Diese Rückbesinnung. Auch jeder Rapper bedankt sich zuerst bei seiner Mutter. Es ist eine Rückbesinnung wieder auf die 50er-Jahre, habe ich das Gefühl. Was beziehungstechnisch abläuft. Natürlich gibt es gleichzeitig transsexuelle und die Ehe für alle, was ganz wunderbar ist, aber ich weiß nicht, ob die Ehe grundsätzlich etwas mit Freiheit und Entscheidung und so zu tun hat. Das wäre meine Frage. Ist das wirklich erstrebenswert? Ich weiß nicht, ob ich – wenn es nicht um Kinder ginge – heiraten würde oder zusammenleben. Ich finde das Alleinleben sehr erstrebenswert!"

Sprecherinnen: Anke Schaefer und Nina West
Regie: Frank Merfort
Ton: Andreas Narr
Redaktion: Winfried Sträter

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