Liebe, Lust und Leiden in der Bibel

Gottes erstes Gebot handelt von Sex

14:35 Minuten
Gemälde "Der Garten Eden mit dem Sündenfall" um 1615, vom flämischen Maler Jan the Elder Brueghel.
"Seid fruchtbar und mehret euch": Adam und Eva hatten Sex. Das Gemälde von Jan Brueghel dem Älteren um 1615 zeigt sie im Garten Eden.. © picture alliance / Heritage-Images / © Fine Art Images
Simone Paganini im Gespräch mit Anne Françoise Weber · 21.02.2021
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Sexualität spielt in der Bibel eine wichtige Rolle, besonders im Alten Testament. Weder gleichgeschlechtliche Anziehung noch Gewaltausübung beim Sex werden verschwiegen, wie der Theologe Simone Paganini in seinem Buch "Unzensiert" dokumentiert.
Anne Françoise Weber: Inzest, Prostitution, Vergewaltigung, aber auch schönste Liebeslyrik, explizite Beschreibung erfüllender sexueller Praktiken, Geschichten von Männern, die sich stark zueinander hingezogen fühlen – all das ist in der Bibel zu finden.
Der katholische Theologe Simone Paganini von der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule (RWTH) Aachen hat sich über diese Stellen gebeugt und in einem neuen Buch zusammengetragen, was vor allem die Bücher der hebräischen Bibel so alles über den Sex zu sagen haben. Das Buch heißt "Unzensiert", Herr Paganini, wenn es nun häufiger in der Bibel als Umschreibung für Geschlechtsverkehr heißt, ein Mann habe seine Frau "erkannt" – ist das denn jetzt wirklich unzensiert?
Simone Paganini: Also "erkennen", wenn man das Wort heute hört, das lässt nicht unbedingt an Sex denken, oder?
Weber: Genau, das heißt, es gibt doch eine Zensierung und eine beschönigende oder abschwächende Sprache für krude Fakten auch in der Bibel?
Paganini: Eigentlich nicht – eben für uns heute. Wir müssen immer damit rechnen, dass wir nicht der erste Adressat in der Bibel sind. Ich bin der Meinung, dass für die damaligen Hörer und Hörerinnen – denn Lesen kann man in der damaligen Zeit noch nicht wirklich sagen –, aber für die normalen Hörer und Hörerinnen die Sprache sehr, sehr deutlich war.
Es geht nicht nur um "erkennen", es geht auch darum, dass zum Beispiel die Frau "die Füße des Mannes bedeckt", oder dass der Mann "seine eigenen Füße waschen" soll. Also, Sachen, die für uns irgendwie normal klingen, hatten in der damaligen Zeit eine ganz klare, deutliche Bedeutung.

Erotische Gesänge vor der Hochzeitsnacht

Weber: Ganz poetische Bilder für Lust und für Sex finden sich ja im Hohelied, und das wurde später dann oft als Allegorie gedeutet: Da ginge es um die Beziehung und die Liebe zu Gott. Sie sagen: Das ist gar nicht so, das ist einfach wirklich ehrliche Liebeslyrik?
Paganini: Ja, zunächst einmal ist es selbstverständlich Liebeslyrik. Die moderne Forschung geht davon aus, dass das Hohelied eine Sammlung von sogenannten Epithalamien ist, also Liedern, die man vor der Hochzeitsnacht gesungen hat.
Was man dann damit tut, das hat nicht mit den Texten, sondern mit der Interpretation des Textes zu tun. Und dann kann man diese Lyrik selbstverständlich als bildhaft darstellen. Aber in meinem Buch beschäftige ich mich absichtlich nicht mit dem Hohelied, damit kennt sich jeder aus – also, alle wissen, dass im Hohelied Erotik vorkommt. Es gibt total viele andere Texte, die noch deutlicher sind, würde ich sagen.

Die Frauen spielen mit den Männern

Weber: Sie haben also Erotik auch in den Geschichten derer gefunden, die man oft die Vorväter oder die Erzväter nennt, also Abraham, Isaak und so weiter. Da geht es auch ziemlich bunt zu und auch bisweilen überhaupt nicht der Sexualmoral der heutigen Tage entsprechend?
Paganini: Ja, zuerst einmal: Man spricht in der Bibelwissenschaft seit einigen Jahrzehnten von Erzeltern und nicht mehr von Erzvätern, weil man gemerkt hat: Ups, die Frauen spielen auch eine Rolle. Und Frauen spielen eine Rolle selbstverständlich auch, wenn es um Sex geht. Wir haben eine Gesellschaft, die relativ alt ist, und zum Glück halten sie sich nicht an die Moralvorstellungen, die wir heute haben oder die Kirche im Mittelalter hatte.
Professor Dr. Simone Paganini, Lehr- und Forschungsgebiet Biblische Theologie der RWTH Aachen
Simone Paganini, Professor für Biblische Theologie an der RWTH Aachen© Peter Winandy
Es ist eine polygame Gesellschaft, also, Männer dürfen mehrere Frauen haben. Ob Frauen mehrere Männer haben durften, das ist nicht überliefert, das ist eher nicht der Fall, es ist leider eine patriarchalische Gesellschaft. Aber Männer haben eben mehrere Frauen, diese Frauen spielen aber mit ihren Männern. Und ob diese Frauen zum Beispiel Geschwister sind, oder ob man sozusagen inzestuöse Beziehungen hatte nach unserer Vorstellung – das ist auch vorhanden, das war aber alles kein großes Problem.

Genaue Regelungen zu Sexualpartnerinnen

Weber: Es gibt aber dann doch auch genaue Vorschriften, welcher Sex zu vermeiden ist. Es gibt ja zum Beispiel auch ein Verbot, dass ein Mann bei einem Mann liegen soll wie bei einer Frau, und es gibt ein Verbot, bestimmte weibliche Verwandte zur Frau zu nehmen. Also ganz ungeregelt war es dann doch nicht, oder?
Paganini: Selbstverständlich war es nicht ganz ungeregelt. Also, sexuelle Gesetze findet man in fast allen Gesetzgebungen der Antike. Man hat einfach erkannt: Sex bewegt die Welt. Und dann muss man aber genau hinschauen, was das für eine Bedeutung hat.
Sie haben zum Beispiel die Vorschrift aus Levitikus erwähnt, wo zwei Männer nicht miteinander zusammenliegen sollen wie Mann und Frau zusammenliegen. Das wird sehr häufig im Zusammenhang mit Homosexualität gedeutet. Da merkt man, dass es vielleicht nicht ganz so war, wie wir uns das heute vorstellen.

Gleichgeschlechtliche Sexualität positiv dargestellt

Weber: Sondern, wie ist das zu verstehen?
Paganini: Es gibt Erzählungen, die gelebte Sexualität als positiv darstellen, und zwar zwischen Mann und Mann und möglicherweise auch zwischen Frau und Frau. Und dann gibt es ein Gesetz, das verbietet eine besondere Art der Homosexualität.
Also, meine Tochter hat zwei Hasen, zwei Männchen, und immer wieder versucht einer, den anderen zu rammeln. Das ist aber keine Homosexualität, das ist ein Verhalten, das man beschreiben kann als Versuch, die Überlegenheit darzustellen. Das wird in der Bibel verboten.
Es wird verboten, dass durch sexuelle Handlung ein Mann über einen anderen Mann Gewalt ausübt. Aber Homosexualität im Sinne von: Zwei Menschen gleichen Geschlechts haben sich lieb, das wird nicht verboten, im Gegenteil. Es gibt Erzählungen, die zeigen: Das war sogar gut.

Prostituierte im Stammbaum Jesu

Weber: Etwas anderes, was heutzutage ja durchaus moralisch umstritten ist, kommt in der Bibel sehr viel vor: Prostitution – und zwar nicht immer verurteilend. Prostituierte sind eben nicht immer die Bösen, sondern zum Teil sind das auch wirkliche Heldinnen und sogar Vorfahrinnen von Jesus.
Paganini: Das ist total interessant in der Tat. Wir leben heute in einer Gesellschaft, die mit bestimmten Klischees arbeitet, und Prostitution wird häufig als etwas Negatives dargestellt. Es wird vor allem nicht an sich als negativ dargestellt, sondern es wird als Ausbeutung der Frau negativ dargestellt.
Man hat deswegen das Wort "Escort" neu erfunden, um zu zeigen: Ja, das gibt es, und das hat es immer schon gegeben. Im antiken Griechenland gab es die sogenannten Hetären, das waren zum Teil auch Prostituierte, also die haben auch Sex gehabt mit Männern, aber sie waren vor allem Leute, die mit den Männern geredet haben, die hatten einen Zugang zu dieser Gesellschaft.
Ähnliches findet man auch in der Bibel, obwohl: Die Prostituierten, die im Stammbaum Jesu vorkommen, die waren sehr wahrscheinlich richtige Prostituierte.

Gut angesehen, wenn es Gottes Sache dient

Weber: Und haben aber dann doch – also, so wie die Witwe Rahab – eine wichtige und positive Rolle im Schutz des Volkes Israels, so kann man das wahrscheinlich zusammenfassen, oder?
Paganini: In der Bibel gilt immer eine Grundregel, würde ich sagen: Alles, was der Verbreitung der richtigen Einstellung Gott gegenüber dient, ist positiv – und dann ist es egal, was man tut. Mord kann positiv sein, Lüge kann positiv sein und Prostitution kann selbstverständlich auch positiv sein, wenn es der Sache Gottes dienlich ist – eine ganz andere Situation eben als in vielen moralischen Regelungen, die wir in der Kirche heute vorfinden.
Deswegen ist es kein Problem, dass zwei Frauen, die sich offensichtlich als Prostituierte betätigt haben, auch im Stammbaum Jesu auftauchen. Übrigens taucht auch eine Frau auf, die ganz klar eine Ehebrecherin war – das ist auch kein Problem.

Texte voller Gewalt – vertuscht und verharmlost

Weber: Ein schwieriges Thema ist das der sexualisierten Gewalt und der Vergewaltigung. Da gibt es auch ganz, ganz furchtbare Geschichten, die Sie auch erzählen, die jetzt vielleicht nicht mit den allerprominentesten Erzeltern zu tun haben, sondern eher am Rande passieren, aber wo eben auch diese wahnsinnige Gewalt, zum Beispiel die Auslieferung einer Tochter an den Mob, überhaupt nicht verurteilt wird. Wie geht man denn damit um als gläubiger Mensch, dem doch diese Bibel irgendwie heilig sein sollte?
Paganini: Ich würde da nicht unbedingt von gläubigen Menschen reden. Es sind Texte, die die Gefühle von jedem normal denkenden Menschen verletzen, das hat nichts mit Glauben zu tun. Es ist aber total interessant zu sehen, dass diese Texte erst seit wenigen Jahrzehnten als problematische Texte angesehen werden.
Eigentlich hat die feministische oder gendergerechte Exegese da eine große Rolle gespielt. Davor hat man immer versucht, sie ein bisschen zu vertuschen. Man hat gesagt: Ja, da geht es nicht um Massenvergewaltigung, sondern es geht um verletzte Gastfreundschaft oder solche Sachen.

Vergewaltigung im biblischen Text

De facto werden Texte dargestellt, wo Frauen vergewaltigt werden und wo zum Teil welche so weit vergewaltigt werden, dass sie sterben. Und der biblische Text sagt nicht explizit: Das ist etwas Schlechtes. Das ist in der Tat ein Problem.
Man muss das aber sehen, man muss das erkennen, man muss das auch ausdrücken können, und man muss dann schauen, in welchen Zusammenhängen solche Episoden passieren, wie kulturell bedingt sie sind.
Und dann muss man auch aus heutiger Sicht sagen: Das, was hier passiert, ist absolut nicht zu entschuldigen, und auch, wenn das in der Bibel drin steht, können wir das nicht im Prinzip als Vorbild für uns heute nehmen.

Restriktive Sicht auf Sex im Neuen Testament

Weber: Wir haben bisher vor allem über die hebräische Bibel gesprochen, also das, was Christen gemeinhin als das Alte Testament bezeichnen. Im Neuen Testament steht sehr wenig über Sexualität, und wenn, dann ist das meistens ziemlich restriktiv. Da gibt es den von Jesus überlieferten Ausspruch: Schon, wer eine Frau mit den Augen begehre, begehe Ehebruch, und Paulus wirbt für Ehelosigkeit. Wie kommt dieser Bruch zustande von einem, man könnte fast sagen, erfüllten Sexleben in der hebräischen Bibel zu einer wahnsinnigen Keuschheit im Neuen Testament, in den griechisch verfassten biblischen Büchern – woher kommt das?
Paganini: Ja, das ist eine sehr interessante Frage. Die Bibel ist nicht an einem Nachmittag entstanden, sondern sie ist im Laufe von Jahrhunderten entstanden, und da merkt man an diesen Texten einfach die unterschiedlichen kulturellen Hintergründe von diesen Menschen, die die biblischen Texte geschrieben haben.
Das Neue Testament entsteht in einem meistens jüdischen Milieu, in einer Zeit, wo bestimmte Reinheitsvorschriften gelten – und die Gesellschaft, die sah diese ganze Sache der Sexualität sehr, sehr eng, deutlich enger als ein paar Hundert Jahre davor. Mit Jesus und mit dieser ersten jesuanischen Gemeinde haben wir es mit einer Gruppe zu tun, die möglicherweise einige Vorschriften aus der jüdischen Bibel noch enger ausgelegt hat.

Jesus redet kaum über Sexualität

Wir haben es mit einer Gruppe zu tun, die zum Teil einige Sachen für absolut unwichtig erachtet hat, zum Beispiel die rituelle Reinheit oder solche Sachen, aber manche anderen waren doch deutlich wichtiger. Sexualität gehört ein bisschen dazu, obwohl man dazu sagen muss, dass Jesus eigentlich kaum über Sexualität redet. Es ist vielmehr das, was die Christen nach ihm daraus gemacht haben, was heute irgendwie noch unsere christliche oder kirchliche Einstellung zur Sexualität bedingt.
Weber: Er spricht vielleicht nicht viel über Sexualität, aber er begegnet doch einer Ehebrecherin, wie sie genannt wird, und verteidigt die im Grunde gegen die Menge.
Paganini: Bei Jesus geht es immer um den Menschen, übrigens in der hebräischen Bibel auch. Das erste Gebot Gottes hat mit Sex zu tun, also: Vermehrt euch! Aber da geht es nicht einfach um Sex, sondern es geht darum, dass die Menschen sich erfüllt fühlen sollen.

Das Sündenverständnis ändert sich

Und bei Jesus, zumindest bei dem Jesus, den uns die Evangelien vorstellen, geht es um den Menschen. Es wird ja gesagt: Das, was du getan hast, war nicht gut, aber als Mensch rettet man dich.
Später wird Sünde direkt in einem Zusammenhang mit dem, was Menschen tun, deutlich enger gesehen, und da beginnt das Problem. Da geht es nicht um die Handlung an sich, sondern es geht darum: War der Mensch gut oder schlecht? Und das wird dann zum Problem.
Aber das ist eine spätere Entwicklung, würde ich sagen. Im Neuen Testament – zumindest im Neuen Testament, das mit dem Leben Jesu zu tun hat –, findet man so was noch nicht.

Sexualisierte Gewalt in der Kirche

Weber: Wenn wir jetzt mal einen großen Sprung in die Gegenwart tun: In der nächsten Woche trifft die Vollversammlung der katholischen Deutschen Bischofskonferenz zusammen, und da wird es wieder mal um sexualisierte Gewalt in der Kirche gehen und vor allem um deren Vertuschung.
Also, von Offenheit bei diesem Thema ist da keine Rede, und es ist auch immer wieder erstaunlich, wie schwer sich alle tun, da über Dinge zu reden, die passiert sind und die dringend aufgeklärt werden müssen. Wie kann man sich das erklären, wenn man gleichzeitig diesen Grundtext des Christentums – die hebräische und auch die griechische Bibel sozusagen – daneben legt und da einen ganz anderen Umgang, also wenigstens einen offenen Umgang mit Sexualität vorfindet?
Paganini: Das Ziel von diesem Buch will genau in die Richtung gehen: Also, reden wir offen über die Sachen. Man hat Jahrhunderte lang auch den Christen, den Gläubigen, verboten, die Bibel zu lesen, weil man sie für gefährlich gehalten hat.
Es gibt in der Tat sehr viele Leute, auch innerhalb der Kirche, egal welcher Konfession, die Probleme haben, die Bibel zu lesen, weil eben Texte darin sind, die offensichtlich Probleme verursachen.

Mut, das Schweigen zu brechen

Ich würde einfach sagen: Leute, es gibt nichts Besseres, als sich zu bilden und entsprechend zu reagieren. Also, man kann die Bibel lesen, und man kann auch die Texte darin lesen und erklären, die problematisch sein können.
Zur modernen Problematik würde ich einfach sagen, dass man viel mehr Mut zeigen sollte, und zwar sowohl auf der Seite der Opfer als auch auf der Seite der Täter, die immer wieder auch Opfer sind. Das Vertuschen und das Verschweigen, das Nicht-sehen-Wollen, ist auf jeden Fall ein Fehler, würde ich sagen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Simone Paganini: "Unzensiert. Was Sie schon immer über Sex in der Bibel wissen wollten, aber nie zu fragen wagten"
Mit Illustrationen von Esther Lanfermann
Herder-Verlag, Freiburg 2021
160 Seiten, 14 Euro

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