Lichtblicke im Elend

Von Martin Polansky |
Haiti ist ein Land der Extreme: früher reiche französische Kolonie, heute einer der ärmsten Staaten der Welt. Geschlagen von brutalen Diktatoren und zerstört von Naturkatastrophen wie dem Erdbeben vor drei Jahren. Danach kam viel Geld und viel Hilfe nach Haiti - aber das Elend blieb.
Man kann die Haiti-Reise beginnen wie im Bilderbuch. Musik spielt auf. Das Open-Air-Buffet ist reich gefüllt, der Strand sauber. Und an der Mole liegt der Luxusliner. Kreuzfahrtriesen, die auf ihrer Karibik-Route regelmäßig Labadie an der Nordküste anlaufen. Mehr als eine halbe Millionen Touristen kommen so jedes Jahr nach Haiti. Aber die Bilder, die sie erst mal über das Land im Kopf haben, sind ziemlich finster:

"Ich weiß nur, dass sie hier Voodoo praktizieren. Ich hoffe, sie verzaubern nicht mich oder mein Haus in Columbia."

"Haiti ist etwas beängstigend zur Zeit. Die ganzen Katastrophen hier. Und besonders sicher, ist es wohl auch nicht. Ich mag das eigentlich gar nicht."

Doch der Kreuzfahrtanleger Labadie ist fast so sicher wie das Paradies. Eine eigene kleine Welt wohl noch schöner als im Reiseprospekt – aber Labadie ist abgetrennt von Haiti durch Zaun und Pforte. Dort hindurch trauen sich die Kreuzfahrt-Touristen normalerweise nicht.

Haiti – zu sehr ist das Land Synomym für Elend und Chaos. Aber wer das wahre Haiti erleben will, muss sich hinter den Zaun wagen.
Ab durch die Pforte. Beginn einer Reise durch Haiti von Nord nach Süd – entlang an den Stationen der Geschichte eines einzigartigen Landes.

Im Hintergrund an der Mole von Labadie ist der Luxusliner noch zu sehen. Es geht hinein in einen grünen, felsigen Küstenstreifen. Bananenbäume, kleine Strände – die Straße eher eine Piste. Und nach einer halben Stunde holpriger Fahrt der Blick über die Bucht von Cap Haitien.

Cap Francais war das hier ein Mal. Die Hauptstadt der französischen Kolonie Saint-Domingue. Ein natürlicher Hafen an der Nordküste gelegen. Und die Häuser hier wirken immer noch wie von einst. Buntes, leicht verwittertes Holz, große Veranden. Und manche Villen. Saint-Domingue war die reichste Kolonie Frankreichs, sagt Nonce Zephir, Geschäftsmann aus Cap Haitien. Denn hier gab es die großen Zuckerrohr- und Kaffee-Plantagen:

"Cap Haitien war zu dieser Zeit international berühmt. Die Stadt hieß auch das Paris von Saint-Domingue – wegen ihres Reichtums und des Stils der Leute. Aber hier haben auch die letzten Schlachten für die Unabhängigkeit Haitis stattgefunden."

Sinnbild für Reichtum – und Sklaverei
Die Kolonie und ihre Plantagen. Sinnbild für Reichtum aber auch die Sklaverei. Die Sklaven waren hierher verschifft worden aus Westafrika. Denn die Kolonialherren brauchten Arbeitskräfte. Und die Urbevölkerung der Insel Hispaniola, auf der das heutige Haiti liegt, war schon bald nach deren Entdeckung ausgerottet worden. Von den Eroberern und eingeschleppten Krankheiten.

Aber die Sklaven probten den Aufstand. Antrieben vom brutalen Elend und auch dem Glauben an die Voodoogötter. Nach der Legende sammelten sich die ersten Aufständischen bei einer Voodoozeremonie im Bois Kaiman – einem Waldgebiet nicht weit von Cap Francais, dem heutigen Cap Haitien.

Nach mehr als einem Jahrzehnt Kampf, zum Schluss gegen Napoleons Truppen, waren die früheren Sklaven am Ziel. Haiti wurde zur befreiten Republik. Der zweite unabhängige Staat in Amerika nach den USA.

Aber der Sieg über die Franzosen war kostspielig. Die Republik der ehemaligen Sklaven blieb nach der Befreiung lange isoliert. Die Kolonialmächte befürchteten einen Präzedenzfall und weigerten sich, Haiti anzuerkennen. Ebenso die USA. Frankreich gewährte schließlich die Anerkennung – allerdings gegen hohe Entschädigungszahlungen, die Haiti über Jahrzehnte belasteten.

Weiteres Erbe der Unabhängigkeit: Kaum ein Weißer blieb zurück im Land. Viele Franzosen wurden brutal niedergemetzelt. Wer konnte, flüchtete - oft in den Süden der USA. Denn dort durften die früheren Kolonialherren weiterwirtschaften wie bisher. Mit Sklaven auf großen Plantagen.

Sanssouci in der Karibik
Fahrt ins Gebirge. Schon von weitem ist die Zitadelle zu sehen. Mächtige Gemäuer auf einer Bergspitze. Fast wie eine europäische Burg aus dem Mittelalter. Am Fuß des Berges die Fassaden einer riesigen Schlossruine mit Park dahinter. Sanssouci in der Karibik.

Man traut seinen Augen kaum. Beinah grotesk wirken die beiden Bauwerke. Absolutismus zwischen Palmen und Bananenbäumen. Schlossfassaden neben Lehmhütten. Pharon Villeneuve ist hier Touristenführer.

"Christophe ließ die Zitadelle errichten und das Schloss Sans Souci. Dort hat er mit seiner Familie gewohnt. Schon kurz nach der Unabhängigkeit gingen die Bauarbeiten los. Denn mit Zitadella wollte er das Land vor einem möglichen Vergeltungs-Angriff der Franzosen schützen."

Henri Christophe. Als Sklave kam er nach Haiti, wurde Koch und im Befreiungskampf General. Bald nach der Unabhängigkeit ließ er sich zum König krönen. Als Henri I. wurde er der Herr über den Norden von Haiti. Mit absolutistischer Pracht wollte Henri Christophe beweisen, wie weit es das frühere Sklavenland gebracht hat. Sanssousi in Potsdam diente angeblich als Vorbild für das Schloss unter Palmen. Touristenführer Villeneuve beschwört das Werk des Monarchen – diesmal auf Kreol, der Sprache der meisten Haitianer:

"Christophe war nicht verrückt und auch nicht größenwahnsinnig. Er war einfach ein bedeutender Mann. Und deshalb hat er auch so groß gebaut. Es musste ja so sein. Tausende von Soldaten sollten hier schließlich kämpfen, auch das Schloss entsprach den Anforderungen der Zeit. Es war ein großes Werk."

Allerdings: Der König unter Palmen regierte rücksichtslos und brutal. Allein beim Bau der Zitadelle sollen tausende Menschen umgekommen sein. Wer nicht schnell genug arbeitete, wurde auf Geheiß von König Henri hingerichtet. Als Offiziere den Aufstand probten, erschoss sich Henri Christophe in seinem Schloss – der Legende nach mit einer silbernen Kugel.

Henri Christoph – eine Art Vorbote für das, was Haiti noch erwarten sollte. Und seine Geschichte beinah durchgängig prägt. Herrscher, die mehr an sich dachten, als an das Land. Kleptokraten, die sich schamlos bedienten. Dazu Wirren und ausländische Invasionen. Diktatur.

Die Reste der beim Erdbeben zerstörten Kathedrale von Port-au-Prince.
Die Reste der beim Erdbeben zerstörten Kathedrale von Port-au-Prince.© Deutschlandradio - Eberhard Schade
Das Dorf des Diktators
Fahrt hinaus aus dem Gebirge – weiter Richtung Süden. An Reisfeldern geht es vorbei, die meisten Berge drum herum sind kahl geholzt. Dann wird es etwas grüner – in einer Ebene viele Bananenbäume. Und plötzlich eine kleine Stadt, die einst ganz groß geplant war.

Cabaret – das frühere Duvalierville. Das Zentrum wirkt wie vom Reißbrett. Die Häuser angeordnet und leicht geschwungen im Stil der 50er- oder 60er-Jahre. Auch hier wollte sich jemand ein Denkmal setzen. Der Maurer Alfons, 67, wohnt in der Stadt, seit er klein ist:

"Am auffälligsten hier in Cabaret ist wohl der große Kinosaal. Davor der Hauptplatz und einige Wohnhäuser. Fast alle großen Gebäude hier stammen noch aus der Zeit von Duvalier."

Francois Duvalier. Der Arzt wurde 1957 zum Präsidenten gewählt. Er galt anfangs als Verlegenheitskandidat. Aber der Mann aus eher einfachen Verhältnissen schaltete schnell alle potenziellen Gegner aus – und legte den Grundstein für eine jahrzehntelange Diktatur.

Er sprach davon, das verarmte Land zu modernisieren. Duvalierville sollte dafür ein sichtbares Zeichen sein. Arnold Antonin ist einer der bekanntesten Filmemacher Haitis. Aus seiner Sicht ist klar: Die Ära Francois Duvalier war die dunkelste Phase in der Geschichte des Landes:

"Francois Duvalier war von Anfang an ein Despot. Er verfolgte seine Ziele ohne jede Rücksicht. Und um seine Macht zu sichern, griff er zu immer brutaleren Mitteln. Am schlimmsten waren die Tonton Macoutes, eine Art Privatmiliz von Duvalier. Die Tonton Macoutes haben die Leute ausgeplünderte oder einfach umgebracht. Ich würde sie am ehesten mit der Gestapo in Deutschland vergleichen."

Francois Duvalier errichtete eine Art Erbmonarchie. Der Präsident auf Lebenszeit starb 1971, sein damals nur 19-jähriger Sohn Jean-Claude übernahm die Macht. "Papa Doc" Francois hatte immer wieder versucht mit Anklängen an den Voodoo seine Machtposition zu betonen – etwa wenn er sich als Voodoo-Gott "Baron Samedi" ausgab.

Neustart für Haiti
"Baby Doc" Jean Claude konzentrierte sich dagegen ganz auf das Weltliche und dessen Freuden. Der feiste Staatschef liebte schnelle Luxusautos, seine Gattin flog gerne nach Paris, um dort einzukaufen. Aber Haiti selbst blieb arm, auch wenn in der Zeit von Baby Doc Touristen und manch ausländische Investoren ins Land kamen.

1986 dann ein Volksaufstand – nach fast 30 Jahren Duvalier-Herrschaft. Jean-Claude ging mit Gattin ins Exil nach Frankreich. Das Geld nahmen sie mit.

Duvalierville heißt inzwischen Cabaret – als sei die Geschichte nur eine Komödie, wenn auch eine ziemlich tragische.

Unterhaltung, Musik und Tanz – das bietet der jetzige Präsident Michel Martelly.

Angekommen in Port-au-Prince – in der Hauptstadt. Es ist Samstagnacht. Und in einem der besten Hotels im reichsten Viertel Petion-Ville gibt Michel Martelly eine Gesangseinlage. Bühne und Buffet unter freiem Himmel. Geschlossene Gesellschaft – meist Geschäftsleute. Die Führungsschicht Haiti feiert hier.

Michel Martelly hat seine Karriere alias "Sweet Micky" als Sänger begonnen. Einer der großen Stars des Kompas – der beliebtesten Musik in Haiti.

Martelly wechselte in die Politik, im Wahlkampf vor zwei Jahren versprach er einen Neustart für Haiti. Mit großer Mehrheit wurde Sweet Micky zum Präsidenten gewählt.

Populär ist er immer noch. Aber trotz Milliardenhilfen aus dem Ausland nach dem schweren Erdbeben 2010 ist Martellys Neustart bisher nur Stückwerk. Der Erdbeben-Schutt in Port-au-Prince ist zwar weggeräumt. Aber das Land steckt fest im Elend.

Anschuldigungen machen die Runde, dass vor allem Martellys Freunde von Bauaufträgen profitieren. Kanada hat wegen fehlender Transparenz seine Hilfsgelder für Haiti eingefroren. Filmemacher Antonin glaubt, dass sich die Geschichte mit Michel Martelly ein weiteres Mal wiederholt:

"Er hat eine charismatische Persönlichkeit, sehr viel Energie. Anders als viele Staatschefs in unserer Geschichte ist er auch sehr sympathisch. Immer für einen Witz zu haben. Aber die Macht ist eine Droge. Die Realität wird zur Halluzination. Alles ist jetzt Spektakel. Aber das reicht nicht in einem Land, dass tiefgreifende Veränderungen braucht, um voranzukommen."

Ex-Diktator Jean-Claude /Baby Doc" Duvalier bei seiner Rückkehr nach Haiti
Ex-Diktator Jean-Claude Duvalier© AP
Chaos und Armut
Haiti mehr als 200 Jahre nach der Unabhängigkeit. Gut jeder zweite im Land hat keinen richtigen Job, etwa genauso viele können nicht lesen oder schreiben. Ein Alltag geprägt von Slums, Hunger und Müll.

Vor allem in der übervölkerten Hauptstadt ist das unübersehbar. Und im Chaos von Port-au-Prince schmerzt viele Haitianer ein Anblick ganz besonders. Die tausenden von Blauhelmsoldaten aus aller Welt. Sie waren nicht wegen des Erdbebens mit den mehr als 200.000 Toten ins Land gekommen. Sondern schon lange vorher, um etwas Sicherheit und Ordnung zu schaffen. Die fremden Uniformierten sind Symbol dafür, dass Haiti unter Kontrolle steht, vielleicht auch Hilfe braucht. Bitter für die einst so verheißungsvolle Republik der befreiten Sklaven – große Geschichte, schwierige Gegenwart.

Ende einer Reise. Der Kreuzfahrthafen Labadie ist Haiti light – wunderschön und angenehm. Aber einmal durch das wahre Haiti – und man ist fasziniert, mal entsetzt, immer gefangen. Von der Musik, der stolzen Kultur aber auch dem Elend. Katastrophe als Dauerzustand, sagen manche. Und man ahnt, dass dieses Land zu viele Egomanen und Despoten gesehen hat. Aber wer sich einmal auf Haiti einlässt, will wiederkommen. Auch wenn die Luxusliner Port-au-Prince und die meisten anderen Gegenden wohl noch lange meiden werden. In Haiti geht es immer weiter. Denn es bleibt der Stolz und die Hoffnung.
Mehr zum Thema