"Am Meer": Erzählungen von Lesja Ukrajinka

Vom Licht verbrannt

Buchcover von "Am Meer" mit Erzählungen von Lesja Ukrajinka
© Wallstein Verlag

Lesja Ukrajinka

Aus dem Ukrainischen übersetzt von Maria Weissenböck

Am Meer - ErzählungenWallstein Verlag, Göttingen 2025

184 Seiten

22,00 Euro

Von Olga Hochweis |
Die ukrainische Schriftstellerin Lesja Ukrajinka (1871 - 1913) war ihrer Zeit weit voraus: So sensibel wie innovativ gibt ihre Prosa Einblicke in weibliche Lebenswelten. Eine Entdeckung!
Nur heimlich spielen Jusja und Darka in den Wäldern und Mooren ihrer nordukrainischen Heimat gemeinsam. Die Zwölfjährigen trennen Welten. Die eine ist Tochter eines Gutsbesitzers, die andere Kind der ärmsten Familie im benachbarten Dorf. Jusja lernt im Privatunterricht Französisch und Literatur. Darka wird von der Mutter geschlagen, wenn sie ihre Aufgaben vernachlässigt.
In der Erzählung „Freundschaft“ beschreibt Lesja Ukrajinka über einen Zeitraum von vier Jahren detailgenau in episodenhaften Szenen und Dialogen das Heranwachsen zweier Mädchen, die sich den Konventionen und zugeschriebenen Rollen ihres jeweiligen Milieus nach und nach unterwerfen - auf Kosten individueller Selbstentfaltung und auf Kosten der Freundschaft. Jusja akzeptiert die Maske des feinen Fräuleins, „um sich in Gesellschaft zeigen zu können“. Aus Darka wird eine „echte Arbeiterin“. Entfremdung und Scham im Verhältnis zueinander wachsen. Als die beiden am selben Tag 16 Jahre alt werden, bleibt nur Sprachlosigkeit.

Fremdbestimmung und Anpassungsdruck

In fast allen der sieben Erzählungen des Bandes „Am Meer“ stehen Lebenswelten weiblicher Figuren im Zentrum. Fremdbestimmung und Anpassungsdruck sind darin wiederkehrende Motive – quer durch alle Alters-und Gesellschaftsschichten. Auch Konkurrenzdenken und Existenznot spielen eine Rolle. In der Geschichte „Iqbal-Ghanem“ lernen wir eine Frau im ägyptischen Harem kennen, die als 30-Jährige schon zu den „aussortierten“ Gespielinnen ihres Herrn gehört. Weitere Geschichten führen auf die Krim oder in eine polnische Irrenanstalt.
Die Schauplätze sind so international wie die Stationen im Leben von Lesja Ukrajinka. Die letzten Jahre verbrachte sie des Klimas wegen in Ägypten und Georgien, da sie seit ihrer Kindheit an Knochen- und Lungentuberkulose litt. Lesja Ukrajinka, 1871 als Larisa Petrivna Kossatsch in eine kunst- und kultursinnige Intellektuellenfamilie des ukrainischen Kleinadels hineingeboren, starb mit nur 42 Jahren. Ihr dichterisches Schaffen begann um so früher, erste Gedichte schrieb sie schon als Neunjährige.

Empathie für Außenseiter

Die ukrainische Sprache war Ende des 19. Jahrhunderts als Publikationssprache per Zarendekret im russischen Reich verboten. Um so bewusster fiel die Wahl der gerade mal 13-Jährigen bei der Veröffentlichung erster Gedichte auf das Pseudonym „Ukrajinka“ – die Ukrainerin. Mitnichten ein nationalistisches Statement dieser europäisch gebildeten Weltbürgerin, die neun Sprachen beherrschte.
Vielmehr verrät der Name die Empathie für Außenseiter - neben Frauen gehörten dazu auch die als „Bauerntölpel“ und „Kleinrussen“ diskreditierten Ukrainer. Ukrajinka war sensibilisiert für Ausgrenzung: durch ihre Krankheit, als schreibende Frau in einer Männerwelt und nicht zuletzt als ukrainisch schreibende Bürgerin des Zarenreichs. Ihr berühmtestes Werk, das Theaterstück „Waldlied“ über die Waldfee Mavka, ist in seinem volksmythischen Stoff inspiriert von der Sehnsucht nach der Ukraine.

Tiefenscharfe Zooms in Frauen-Existenzen

Inhaltlich als auch formal ist die hier versammelte Prosa ihrer Zeit weit voraus. Plots und Narrative arbeiten mit Auslassungen, Erzählerstimmen und Sprache sind modern und unmittelbar. Ukrajinkas weiblicher Blick ermöglicht tiefenscharfe Zooms in vielfältige Frauen-Existenzen. Figuren werden durch direkte Wiedergabe ihres Handelns, Denkens und Sprechens plastisch - ohne Bewertungen, umso allgemeingültiger in der Wirkung.
Nicht nur der erste Text in diesem Band - über einen Nachtfalter, der sich ins Licht wagt und das mit dem Leben bezahlt - erinnert ein wenig an die Prosa von Virginia Woolf. Ein halbes Jahrhundert später griff die berühmte Britin exakt denselben Stoff in „The death of a moth“ auf.
Lesja Ukrajinka schrieb ihre Parabel im Alter von 18 Jahren. Die letzten Sätze des „Nachtfalters“ lassen die ganze Wärme und Weisheit der Autorin leuchten. Und klingen wie ein poetologisches Credo:

„Wäre sein Tod klüger gewesen, wenn er im dunklen Keller für immer entschlafen wäre? Das Licht hat ihn verbrannt. Aber er wollte die Welt sehen! Er hat das Licht gesucht!“

Der Band, herausgegeben von der Schriftstellerin Tanja Maljartschuk, ist ein großartiger und würdiger Start in die neue „Ukrainische Bibliothek“ mit hierzulande unbekannter Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts.
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