Lesereise "Tatort Schlachtfeld"

Gefangen in konventionellen Formaten

Schauspieler Samuel Finzi beim Matinee Tatort Schlachtfeld am 31. Januar 2016 im Schauspielhaus Magdeburg.
Schauspieler Samuel Finzi beim Matinee Tatort Schlachtfeld am 31. Januar 2016 im Schauspielhaus Magdeburg. © imago/CHROMORANGE
Von Jochen Stöckmann · 05.06.2016
Die Hamburger Kammerspiele beenden mit "Tatort Schlachtfeld" eine bundesweite Lesereise von Schauspielern zum Ersten Weltkrieg. Damit liegt auch eine erste Bilanz über das 15 Millionen Euro teure "HKW“-Projekt "Hundert Jahre Gegenwart" vor.
Kaum hatte der Bundestagsabgeordnete Rüdiger Kruse 2014 dem Haus der Kulturen der Welt, dem "HKW" in Berlin, 15 Millionen für das wenig konkrete Ideen-Projekt "Hundert Jahre Gegenwart" verschafft, da beauftragte er kurzerhand selbst die Dramaturgin Sonja Valentin mit Auswahl und Inszenierung von Gedichten, Reportagen, Romanpassagen.
Viele dieser Texte über den Ersten Weltkrieg waren längst vergessen, deshalb werden sie vorgetragen von ganz bekannten Schauspielern, von TV-Kommissaren. Das ist Titel und auch Konzept von "Tatort Schlachtfeld":
"'Tatort' verengt, obwohl es ein starkes Bild ist. Aber was wir an den Texten lernen: dass wir diesen Krieg überhaupt nicht verstehen, wenn wir ihn nur politikgeschichtlich, ereignisgeschichtlich und militärhistorisch angehen. Wir müssen es ganzheitlich machen."
Matthias Rogg ist Oberst der Bundeswehr, er urteilt nüchtern, denkt strategisch. Als Historiker leitet er das Militärhistorische Museum in Dresden – und hat es ausgebaut zur kulturgeschichtlichen Plattform.

Begriffe schärfen, neue Kategorien finden

Das könnte auch Bernd Scherer gefallen. Denn der Direktor des "HKW" definiert die Rolle seines Hauses bei Darstellung und Diskussion des Phänomens "Hundert Jahre Gegenwart" ganz ähnlich:
"Dass wir in einer Gesellschaft leben, die lernen muss, mit komplexen Problemstellungen umzugehen. Und Kulturinstitutionen müssen vorführen, was das bedeutet."
Vorgeführt wird "Komplexität" tagtäglich, nicht nur von Kulturinstitutionen, auch in akademischen Einrichtungen, durch die Medien. Woran es aber fehlt in der Öffentlichkeit: die Begriffe schärfen, neue Kategorien finden, sich von überkommenen Bildern, Denkgewohnheiten und Klischees verabschieden. Und Vorurteile aufgeben.
Da hapert es noch beim Frontmann des HKW. Denn Scherer, ein Philosoph, stellt den Oberst und Prof. Dr. Matthias Rogg vor als:
"Eine interessante Person zwischen Militär und Intellektualität, wie man das ja nicht erwartet."

"Was in der Kunst nicht verhandelt wird, ist nicht relevant"

Die geistige, gesellschaftspolitische Auseinandersetzung wäre also nicht Sache der Militärs? Dieser Ansicht scheint auch Rüdiger Kruse zu sein. Als Politiker gibt er die selbst für sein Amt eines Sprechers des Kulturausschusses irritierende Marschrichtung vor:
"Was in der Kunst nicht verhandelt wird, ist nicht relevant. Deswegen der Grund, dass wir das Haus der Kulturen der Welt sukzessive aufgebaut haben als einen gesellschaftspolitischen Denkraum."
Das klingt gewaltig nach einer kultur- und kunstpolitischer Großoffensive, bleibt aber einstweilen stecken im konventionellen Format von Lesung, Vortrag, Podiumsdiskussion. Kruse jedoch erkennt darin:
"Etwas Neues: Normalerweise haben Sie nicht Schauspieler und Politiker auf einer Bühne. Sie haben auch keinen Oberst der Bundeswehr im Theater sitzen. Auch das Theater bekommt eine ganz andere Rolle: Man geht nicht zwei Stunden zur Erbauung dahin und ist wieder weg. Sondern es ist ein Diskussionsraum."

Grundlegende Begriffe nicht geklärt

Was sich in den Hamburger Kammerspielen, an der Kulturfront, als glatte Falschmeldung entpuppt: Es gibt nicht einmal Fragen des geduldig zuhörenden Publikums. Auch keine nachträgliche Auswertung, ein "Diskurs" zwischen jenen Bundestagsabgeordneten, die bei den 16 Veranstaltungen mit "Experten" wie Historikern oder Publizisten auf dem Podium saßen.
Die Auswahl der Texte hat sich mit Remarques Roman "Im Westen nichts Neues", dem Tagebuch von Käthe Kollwitz oder Haseks bravem Soldat Schwejk im Vergleich zur Premiere in Berlin nicht wesentlich geändert. Vor allem aber scheinen grundlegende Begriffe nicht geklärt. Als es um Carl von Ossietzky geht, der zum Pazifisten wurde aufgrund seiner Erfahrungen im Ersten Weltkrieg, da sagt der Moderator:
"Dass Carl von Ossietzky an den Folgen des noch schlimmeren Krieges, der bald darauf ausbrach, starb. An den Folgen der KZ-Haft."
Das war 1938, da herrschte kein Krieg, noch nicht. So etwas ist durchaus keine Faktenhuberei, denn es berührt die Frage von Krieg und Frieden – und deren politische Ein- und Abgrenzung. Auch und vor allem heute. Rüdiger Kruse:
"Die Konflikte, die uns am meisten beeinträchtigen, sind Konflikte, die nie erklärt worden sind. Ukraine ist kein erklärter Krieg. Wir wissen nicht genau, was an der Grenze Türkei-Syrien vor sich geht."

Wer 15 Millionen Euro einsetzt, muss analysieren

Gegen Nichtwissen hilft: Aufklärung. Eine militärische Routine, die vom Politiker – Kultur hin, Kunst her – vernachlässigt wird. Sträflich, denn wer 15 Millionen Euro in die Hand nimmt, der muss vor allem die Lage analysieren, um dann die vorhandenen Kräfte – pardon: die Finanzmittel wirksam und gezielt einzusetzen.
Ganz abgesehen davon, dass ein Thema wie "Hundert Jahre Gegenwart", dass Kulturgeschichte überhaupt auch ganz gut aufgehoben wäre in Dresden, beim Militär, gegen alle Vorurteile. Denn dieser Oberst Rogg, der ist kein Kommisskopf – und er denkt und diskutiert ganz und gar nicht "museal":
"Wenn wir uns anschauen, welche verheerende Wirkungen es hatte, dass die Amerikaner im Irak-Krieg sich zuerst einmal um das Erdöl-Ministerium kümmerten – aber nicht um die Kulturstätten, um die zu sichern. Krieg ist nicht automatisch das Gegenteil von Kultur. Je mehr Kriege heute hybride werden, umso mehr spielt Kultur eine ganz, ganz große Rolle."
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