Lesart Spezial: Männerleben

Zu Gast: Astrid von Friesen und Paul Hermann Gruner · 01.05.2009
Arne Hoffmann beklagt in seinem Buch "Rettet unsere Söhne", dass kleine und auch große Jungs Bildungsopfer, Gesundheitsopfer und auch Gewaltopfer geworden sind. Und "Befreiungsbewegung für Männer" will eine Publikation für die Zeit nach dem Feminismus sein.
Deutschlandradio Kultur: Heute am Mikrophon Florian Felix Weyh mit einem in der deutschen Medienlandschaft eher selten aufgegriffenen Thema. Wir wollen uns an diesem 1. Mai in Lesart Spezial über Benachteilungen von Menschen männlichen Geschlechts unterhalten. Ins Studio sind dazu gekommen die Therapeutin, Publizistin und Journalistin Astrid von Friesen. Und der Journalist und Autor Paul Hermann Gruner.

Beide stehen auch in einem unmittelbaren Zusammenhang zu einem der beiden in der Sendung besprochenen Bücher. Es handelt sich dabei um "Befreiungsbewegung für Männer. Auf dem Weg zur Geschlechterdemokratie", Essays und Analysen, erschienen im Psychosozial-Verlag. Einer der beiden Herausgeber ist Paul-Hermann Gruner. Astrid von Friesen gehört zu den Autorinnen, das ist wichtig, und Autoren dieses Bandes. Frage an den Herausgeber: Was ist Geschlechterdemokratie? Haben wir das nicht mit dem Frauenwahlrecht längst erreicht? Oder meinen Sie etwas ganz anderes?

Paul-Hermann Gruner: Ich meine etwas anderes, natürlich. Wir haben ja mit diesem Buch jetzt endlich mal eine Publikation für die Zeit nach dem Feminismus auf dem Tisch. Geschlechterdemokratie meint schlicht, dass man Reformvorhaben, Unterstützungsvorhaben nicht nur immer einem Geschlecht zubilligen kann oder für dieses Geschlecht dies organisieren kann, sondern dass auch das andere seine lebensweltlichen Realitäten neu formieren, neu leben muss. Und das ist die männliche Seite.

Deutschlandradio Kultur: Darüber werden wir im zweiten Teil der Sendung sehr ausführlich reden. Erst mal zu einem anderen Buch, dessen Autor nicht da ist, aber auch im zweiten Band mitvertreten ist: Arne Hoffmann, er hat ein Buch herausgebracht: "Rettet unsere Söhne. Wie den Jungs die Zukunft verbaut wird und was wir dagegen tun können", erschienen im Pendo-Verlag.
Frau von Friesen, Sie haben es gelesen. Was sind die Kernthesen von Herrn Hoffmann?

Astrid von Friesen: Arne Hoffmann schreibt in einer sehr gut zu lesenden Art und Weise, dass kleine und auch große Jungs Bildungsopfer geworden sind, Gesundheitsopfer und auch Gewaltopfer. Das Interessante ist, dass vor 40 Jahren das Gleiche über Mädchen geschrieben worden ist. Denn seit 40 Jahren kämpfen wir Feministinnen ja dafür, dass es Mädchen besser geht. Aber eigentlich haben wir nicht intendiert oder die meisten von uns Feministinnen nicht, dass es daraufhin Jungs schlechter geht. Mittlerweile geht es Jungs katastrophal. Sie sind Bildungsverlierer in allen Sparten, in der Grundschule, in der Mittelschule, in der Oberschule, auf dem Gymnasium, auch beim Studium sind sie überall schlechter als die Mädchen. Sie brechen sehr viel häufiger die Schule ab. Sie sind stärker arbeitslos, zu 35 % als Jugendliche, stärker arbeitslos als die Mädchen. Und eine der schrecklichsten Zahlen: Sie nehmen sich zwölfmal häufiger im Teenageralter das Leben als Mädchen.

Das heißt, Jungen werden ja, bis sie zehn Jahre alt sind, fast ausschließlich von Frauen erzogen – von Müttern, von Kindergärtnerinnen zu 96 %, von Grundschullehrerinnen zu 85 %. Das heißt, die weibliche Erziehung hat katastrophal versagt. Das müssen wir uns unbedingt anschauen und auf die Agenda schreiben und etwas dagegen tun. Und Arne Hoffmann beschreibt das in zehn Punkten. Er fordert zum Beispiel, dass Kitas und Schulen jungengerechter werden. Er fordert eine Jungs- und Männerforschung, die ganz vehement jetzt endlich mal loslegen sollte. Er fordert eine Leseförderung. Er möchte, dass die Männerverachtung, die negativen Bilder in den Medien Männern gegenüber, endlich nachlassen. Er möchte, dass mehr männliche Personen in diesen Erziehungsalltag, gerade für kleine Kinder, Einzug halten, um endlich ein Gleichgewicht, nämlich 50:50 % zu bekommen.

Er gibt uns Zahlen vor, dass die Alleinerziehung bei Vätern, im Gegensatz zur Alleinerziehung bei Müttern, in 30 Punkten, die untersucht worden sind bei amerikanischen Untersuchungen, besser gelingt. Das heißt, Kinder, die nur bei den Vätern aufwachsen, sind in vielen Schulfächern, sind ansonsten im Leben sehr viel positiver, sehr viel besser gestimmt, sind weniger aggressiv.

Deutschlandradio Kultur: Das sind ja sehr, sehr viele Fakten, die Arne Hoffmann in diesem Buch hat. Aber Sie haben vorhin einen Satz gesagt, der war kausal gesetzt. Sie sagten: "Es geht den Jungs schlechter, weil es den Mädchen besser geht durch die Förderung." Ist das tatsächlich diese Kausalität? Kann man die ziehen oder geht es ihnen unabhängig davon schlechter, weil sie nicht gefördert wurden?

Paul-Hermann Gruner: Was diesen Punkt konkret anbelangt, Schlechterstellung der Jungs, ist im Grunde das eingetreten, was vor 25, vor 30 Jahren ganz offen gefordert worden ist. Ich erinnere an Autorinnen, wie Marianne Grabrucker oder auch die allseits bekannte Alice Schwarzer, die gesagt haben: Wenn es Mädchen besser gehen soll, dann muss es für die Jungs schwerer gemacht werden, und zwar tatsächlich an allen Stellen. Und genau das ist eingetreten.

Deutschlandradio Kultur: Sie sind auch Pädagogin, Frau von Friesen. Ist das wirklich so passiert in den letzten 30 Jahren? Ist es Jungen schwerer gemacht worden?

Astrid von Friesen: Ja, es ist Jungen schwerer gemacht worden. Wir sehen es überall. Es gibt Mädchenförderungsveranstaltungen – nicht nur den Girls Day in der letzten Woche, sondern auch Mädchenförderung in den Schulen. Das wird unterstützt mit sehr viel Geld, mit sehr viel Energie, aber die Jungs werden links liegen gelassen. Hinzu kommt ja die Feminisierung der Schulen. Das heißt, Jungs lernen zum Beispiel schlechter lesen, wenn sie das von Lehrerinnen beigebracht bekommen.

Es gibt ein hübsches Experiment. Da wurde Jungs und Mädchen das Lesen durch einen Lesecomputer beigebracht. Diesen Lesecomputer haben beide Geschlechter gleich angenommen. Und das Resultat war, dass Jungs sehr viel besser lesen konnten als Mädchen nach Abschluss dieses Experimentes. Aber als sie dann wieder von Lehrerinnen unterrichtet wurden, ging ihr Leseverhalten wieder zurück.

Deutschlandradio Kultur: Woraus wir jetzt nicht den Schluss ziehen sollten, dass alle Kinder von Computern unterrichtet werden.

Astrid von Friesen: Nein, das nicht, aber dass es auf das Geschlecht des Lehrers ankommt, das wissen wir. Vor 100 Jahren waren es fast ausschließlich Männer, die Lehrer waren. Jetzt sind es fast ausschließlich Frauen.

Deutschlandradio Kultur: Frauen und Männer, Männer und Frauen, wie sind die Verhältnisse gelagert? Sind sie eindeutig, uneindeutig, zweideutig? Das ist das Thema unserer heutigen Sendung. Darüber reden wir. Machen wir an dieser Stelle einen kleinen Schnitt im Gespräch und hören ein paar andere berühmte Stimmen zu diesem Thema. Brigitte Neumann hat ein paar Ansichten zur Geschlechterdifferenz eingefangen und lässt sie in ihrem Beitrag aufeinandertreffen:

Hatte Freud noch von der Frau als dem dunklen, unbekannten Kontinent gesprochen und den Mann als Wesen klarer Verhältnisse dargestellt, so sieht es inzwischen ganz danach aus, als verhielte sich die Sache genau umgekehrt. "Das andere Geschlecht" ist nicht die Frau, wie noch von Simone de Beauvoir in ihrem all-time-bestseller beschworen. Das andere Geschlecht ist der Mann. Warum?

Die französische Philosophin Elisabeth Badinter schreibt in ihrem Buch XY - Die Identität des Mannes:

"Gott hat Frauen das Privileg zuteil werden lassen, von ihresgleichen geboren zu werden. Damit hat er ihnen die Mühen der Differenzierung und des Gegensatzes erspart, die das Schicksal des Mannes unauslöschlich prägen. ... Solange Frauen Männer gebären und solange XY sich im Schoße von XX entwickelt, wird es immer ein bisschen länger dauern und ein bisschen schwieriger sein, einen Mann zu machen, als eine Frau.
Als die Männer sich dieses naturgegebenen Nachteils bewusst wurden, erdachten sie sich einen kulturellen Ausweg von ungeheurer Tragweite: das patriarchalische System.

…Ich denke, dass wir alle erschöpft sind."


Der Mann ist eine künstliche kulturelle Figur. Er muss seine Männlichkeit erfinden und immer wieder absichern. In allen traditionellen Gesellschaften gibt es Männlichkeit als Aufgabe. Wer sie verfehlt, verliert seine Ehre, seinen Status, sein Image – und das macht Stress. Der Mann ist zum Problem geworden, schreibt der – inzwischen verstorbene - Hamburger Anglist und Bestsellerautor Dietrich Schwanitz in seinem Buch mit dem Titel "Männer".

"Der evolutionäre Prozess hat dazu geführt, dass eben Männlichkeit nicht mehr gefragt ist. Man braucht das, was Männlichkeit bedeutet hat – nämlich Aggressivität und Muskelkraft und erhöhte Abenteuerlust – nicht mehr. Stattdessen ist die Gesellschaft so organisiert worden, dass man eben Kommunikationstugenden braucht. Also, die Dienstleistungsgesellschaft braucht einfach Kommunikationsfähigkeit und Liebenswürdigkeit und – feminine Tugenden. Auf diese Weise sind die Frauen sozusagen normal geworden und die Männer erklärungsbedürftig und eigentlich auch unnötig."

Dietrich Schwanitz sah ‚den Stern Maskulinias sinken’, wie er sich ausdrückte. Und die vielen männlichen Randalierer, Gewalttäter, Krieger, die Millionen kleiner Jungs, die täglich in Videospielen ihre Feinde vernichten, um endlich Sieger zu sein, waren für ihn nichts anderes als verzweifelt um ihre Männlichkeit ringende Opfer.

Die Krise der männlichen Identität ist ein weltweites Phänomen von immenser Folgewirkung. Einige Wirtschaftskommentatoren interpretieren die derzeitige Wirtschaftskrise als Ausdruck männlicher Hybris. Der Wiener Historiker Philipp Blom zeigt in seinem eben erschienen Werk "Der taumelnde Kontinent. Europa zwischen 1900 und 1914" eine parallele Entwicklung zwischen der Vorkriegzeit des letzten Jahrhunderts und der Gegenwart. Er schreibt: "Damals wie heute ist die globale politische Landschaft geprägt von in Frage gestellter Männlichkeit".

Die Kölner Pädagogen Schnack und Neutzling zeigen in ihrem herzzerreißenden und schon 1990 erschienenen Buch "Kleine Helden in Not", dass das Dilemma mit der Männlichkeit dort beginnt, wo der kleine Junge versucht, sich aus der ursprünglich erlebten Herrschaft der Mutter radikal zu befreien und in Rollen zu schlüpfen, die sein Geschlecht als das Überlegenere imaginiert. Von der Welt erhält er die Rückmeldung, dass er sein Leben lang so weiter machen muss, wenn er ein Mann sein will. Die Folge: Gefühle wie Schwäche, Ohnmacht, Neid dürfen nicht mehr vorkommen. Gefühle überhaupt müssen unter Verschluss gehalten werden.

Der französische Soziologe Pierre Bourdieu schreibt in seinem Buch "Die männliche Herrschaft":

"Die Übersteigerung der männlichen Werte hat ihre Schattenseite in den Befürchtungen und Ängsten, die die Weiblichkeit hevorruft: Einmal, weil die Frauen schwach und die Ursache von Schwäche sind, dann aber auch, weil sie im Umgang mit den Waffen der Schwäche zugleich stark sind. So trägt alles dazu bei, aus dem unmöglichen Ideal der Männlichkeit das Prinzip einer außerordentlichen Verletzlichkeit zu machen."

Zwischen den Geschlechtern entwickelt sich ein tragisches und bewusstloses Verwirrspiel: Der Mann sucht eine Frau, will ihr aber nicht nahe kommen und ersetzt die tatsächliche Person durch das Trugbild seiner Phantasie. Die Französin Virginie Despentes, die mit ihrem feministischen Film Baise-moi Furore machte, ist perplex, wie hartnäckig Männer und Frauen an einem falschen Bild voneinander festhalten.

"Als ich mit der Prostitution anfing, war ich fasziniert von der Faszination der Männer für hohe Absätze, kurze Röcke, das Geld, das sie bereit waren zu zahlen, um das zu sehen. Und in welchem Maße es sie verrückt gemacht hat. Da waren Männer dabei, die waren woanders ganz nette Typen. Aber die benahmen sich bei mir wie nach einer Gehirnwäsche. Und sie haben keine Kontrolle darüber. Sie glauben an etwas, das nicht existiert. Sie glauben an Frauen als Königinnen. Und gleichzeitig wollen sie diese Frauen runterziehen, sie schmutzig machen, sie besitzen, aber sie sind es in Wirklichkeit die Betrogenen. Dieser Handel ist wirklich bizarr."

Fay Weldon, britische Ex-Feministin und Autorin etlicher Bestseller, darunter dem Roman "Die Teufelin" sieht die Schuld für die dauernde Ent-Täuschung zwischen den Geschlechtern eher auf Frauenseite:

"Es ist die Gegensätzlichkeit, die Männer und Frauen normalerweise zusammenbringt. Frauen aber suchen heutzutage nur noch eine Freundin in Männergestalt. Sie suchen jemanden, um ins Kino zu gehen, zu klatschen und über ihr Make up zu fachsimpeln. Aber Männer sind anders. Frauen wollen alles auf einmal, in einer Person. Die ganzen alten männlichen Qualitäten sind unmodern geworden: Verantwortung übernehmen, erobern, sich kümmern, Das wird alles so runtergemacht. So dass junge Männer heute auf verlorenem Posten stehen, und versuchen, wie Frauen zu sein."

Schwierig zu sagen, wie wir aus diesem Dilemma jemals herausfinden sollen. Fay Weldon meint, die Männer bräuchten dringend eine eigene Bewegung, um sich selbst zu stärken. Schwanitz empfand das Geschlechterverhältnis als einen Fluch, unter dem beide Seiten leiden. Aber nur eine Seite spreche darüber, sagte er:

''Männer beteiligen sich an diesem Gespräch ja gar nicht, sie operieren nicht mit Auskünften über Beziehungen, das machen immer nur die Frauen. Das heißt, sie führen einen Monolog unter Frauen über Männer – und Männer sollten sich da mal einmischen."

Männer sollten sich mal einmischen. Das war Brigitte Neumann mit einem Beitrag über das Geschlechterverhältnis. Lesart Spezial heute mit zwei Büchern über die Benachteilung von Männern. Zu Gast im Studio dazu die Therapeutin, Publizistin und Journalistin Astrid von Friesen und der Journalist, Autor und Herausgeber Paul-Hermann Gruner.

Von Ihnen nun ein paar Worte zitiert: "Der Feminist ist der erlaubte Mann. Der Feminist ist aber keineswegs bösartig, er ist nur faul. Er hat eine plausibel erscheinende Interpretation von Wahrheit und Wirklichkeit übernommen, akzeptiert, verinnerlicht" – so geschrieben im Vorwort zum Buch "Befreiungsbewegung für Männer". Waren Sie mal ein erlaubter Mann, Herr Gruner, und sind jetzt ein unerlaubter?

Paul-Hermann Gruner: Ich war mal ein sehr freudig begrüßter Feminist. Ja, das gebe ich sehr gerne zu. Ich bin jetzt 49. Und wenn man das ein bisschen zurückrechnet, dann weiß man, dass ich in den 80er Jahren die Ehre hatte Hochschulen besuchen zu dürfen. In dieser Zeit war ein milder, gelinder Zwang da, sich zumindest feministenfreundlich zu äußern, wenn nicht gleich auch selbst einer zu sein oder zu werden. Man kommt in diese Phase also zwangsläufig hinein, wenn man in dieser Generation lebt. Aber ich habe, als ich etwa 30 wurde, gedacht: So einfach, so schlicht, so banal und mitunter borniert und so schnell die Wahrheiten da aus diesem Bereich des organisierten Feminismus kamen, so schnell und einfach und wirklich zutreffend können sie eigentlich gar nicht sein, weil Realitäten multifaktoriell sind, multikomplex. Ab dieser kleinen Erkenntnis habe ich begonnen weiterzudenken. Das hat dann auch zu diesem Buch geführt.

Deutschlandradio Kultur: Frau von Friesen, Sie haben vorhin dezidiert gesagt: "Wir Feministinnen." Nun ist das Buch von Arne Hoffmann an einigen Stellen noch stark antifeministisch, zumindest was den verfassten organisieren Feminismus angeht. Warum haben Sie gesagt, "wir Feministinnen"?

Astrid von Friesen: Ich komme aus Westdeutschland aus der feministischen Bewegung. Ich habe 1972 angefangen in Hamburg zu studieren. Da gehörte man als junge wache Studentin einfach auch dazu. Und es war mir immer ein Anliegen, für die Rechte von Frauen zu kämpfen. Und jetzt ist es mir seit ungefähr zehn Jahren ein Anliegen, für die Rechte von Männern und kleinen Jungs zu kämpfen, weil ich sehe, dass es da katastrophale Zustände gibt.

Nehmen wir allein das Sorgerecht. Die Situation nach Scheidung ist für Männer einfach eine Katastrophe. Und Kinder leiden unglaublich darunter, das sage ich als Erziehungswissenschaftlerin, aber auch als Psychotherapeutin, wenn sie nicht mit ihren Vätern aufwachsen dürfen. Das sind ja Langzeitfolgen.

Ich habe viele Patienten, die im fortgeschrittenen Erwachsenenalter sind. Die hatten keine Väter, durften mit ihren Vätern keinen Kontakt pflegen, weil die Mütter das verboten haben und verunmöglichten und die Männer schlecht machten. Das sind lebenslange Wunden und Traumata.

Deutschlandradio Kultur: In dem Reader, in dem großen Sammelband von über 400 Seiten "Befreiungsbewegung für Männer", sind ja viele, viele Themen aufgespießt. Was sind die zentralen Themen, Herr Gruner?

Paul-Hermann Gruner: Bei so vielen Beiträgen haben wir natürlich ein Kaleidoskop von Beobachtungen, Empirien, Fallstudien und auch Forderungen und Thesen. Letztendlich geht es einfach darum, dass das, was seit Jahrzehnten sichtbar ist, endlich einmal wahrgenommen werden soll. Wir haben nämlich ein starkes Wahrnehmungsdefizit in dieser, unserer Gesellschaft. Ob es um Fragen der Obdachlosigkeit geht, um Fragen der Jugendarbeitslosigkeit, Fragen der wirklich unschönen reputationsfreien, aufstiegsarmen Berufswelt, die nämlich permanent und gänzlich männlich ist, oder um die Frage des Problems des Suizids in Deutschland. Wir haben 10.000 Suizide im Jahr. Das sind mehr Todesopfer als im Straßenverkehr. Drei Viertel davon sind männlich. Und wenn diese drei Viertel männlich sind, und sie sind es nicht erst seit der vergangenen Statistik des Bundesamts für Statistik, sondern sie sind es seit vielen Jahrzehnten, dann muss man sich fragen, ob dieses, was wir so gerne Patriarchat nennen, überhaupt als solches existiert. Ich habe ja pointiert auch in diesem Buch davon gesprochen, dass ich keines mehr sehe, außer dass wir es als solches bezeichnen.

Wenn man dann fragt, wenn auf dieser Flasche Patriarchat steht, dann muss auch Patriarchat drin sein, dann sieht man, es ist eigentlich fast gar nix drin oder es ist Etikettenschwindel. Also, nehmen wir nur einmal diese 25, wirklich schlecht bezahlten Berufe, die wir ja in Deutschland auch haben – vom Schlachter über den Gerüstbauer, über den Straßenbauer, den Kanalreiniger oder den Lastwagenfahrer, der eine Woche oder zwei Wochen am Stück unterwegs ist, das sind ja alles Berufe, in die keine Frau ernsthaft hinein will. Dann muss man sagen dürfen, dass dem so ist und diese Wahrnehmung auch Rückschlüsse fordert, nämlich auf die davon abhängigen Korrelationen Alter, Mortalität, Krankheit, alles das, was auch wieder statistisch sehr schön nachweisbar ist. Ich erinnere daran: Sieben Jahre sterben Männer noch früher, in Russland sind es augenblicklich 13 Jahre.

Deutschlandradio Kultur: Da gibt es in dem Buch eine erhellende Studie, die vor allem deswegen so erhellend ist, weil sie tatsächlich wissenschaftlich sauber die Faktoren auseinanderdividieren kann, warum Männer und Frauen unterschiedlich früh versterben. Es ist eine Klosterstudie in reinen Frauenklöstern und in reinen Männerklöstern. Was hat diese Studie hervorgebracht?

Paul-Hermann Gruner: Interessanterweise gibt es diese Studie ja nicht erst mit der Veröffentlichung dieses Buches, sondern es gibt sie über Jahre hinweg ganz breit sichtbar und ausgebreitet im Internet. Sie wird nur permanent aktualisiert. Es ist tatsächlich so: Wenn die Lebens- und Arbeitswirklichkeiten von Männern und Frauen absolut bzw. beinahe – es gibt immer nur ein Beinahe im Leben – gleich gestaltet werden, dann merkt man auch, dass die Lebensalter ganz nahe zueinander rücken. Es besteht dann noch ein halbes Jahr Lebenserwartungsunterschied zwischen Männern und Frauen. Das heißt natürlich im Umkehrschluss: Außerhalb der Kostermauern gibt es wohl verschiedene Belastungen, die zu verschiedenen Mortalitäten führen.

Astrid von Friesen: Ich finde, dann müssen wir mal nach Amerika schauen. Da gibt es Zahlen, dass schwarze Frauen vier Jahre weniger lang als weiße Frauen leben. Da wissen wir, dass das was mit Rassismus und schlechten Lebensbedingungen zu tun hat. Wenn wir uns aber die Statistik weiter anschauen, dann stellen wir fest, dass weiße Frauen für bis sieben Jahre länger leben als weiße Männer und elf länger leben als schwarze Männer. Da wird es deutlich, dass es nicht rassistisch ist, sondern sexistisch.

Deutschlandradio Kultur: Es gibt keinen, das sagt diese Studie klipp und klar, biologischen Faktor, der den Mann sozusagen als Material schlechter macht, warum er früher sterben muss. Es sind psychosoziale Belastungen.

Astrid von Friesen: Ja. Ich denke, gerade Männer lernen es sehr wenig, für sich selbst zu sorgen. Das können wir durch die Jahrhunderte auch schon beobachten oder die Literatur hat es uns nahe gebracht. Das wissen wir aus der preußischen Erziehung, aus der nationalsozialistischen Erziehung. Männer wurden immer in Härte gegen sich selbst erzogen, um sozusagen im Leben zu bestehen, in Kriegen zu bestehen, um für Frau und Kinder in harter körperlicher Arbeit auch das Geld zu verdienen.

Das führte dazu, dass sie ihre eigenen Gefühle unterdrückten, dass sie alles Weiche unterdrückten und unterdrücken mussten. Und das führt dazu, dass sie sich selbst nicht so ernst nehmen und auch ihre körperlichen Malessen nicht ernst nehmen. Frauen gehen zum Beispiel sehr viel häufiger zum Arzt, Männer sehr viel weniger. Frauen gehen zum Beispiel bei Eheproblemen sehr viel häufiger zum Paartherapeuten, aber – das stellen wir immer wieder fest – sind sehr viel weniger bereit, Paarprobleme zu 50 % auf die eigenen Schultern zu nehmen.

Deutschlandradio Kultur: Aber das läuft im Bild ja so ein bisschen auf den berühmten Softi der 80er Jahre hinaus, von dem man ja weiß, wenn es denn um die Wahl des Sexual- oder Ehepartners geht, nicht gerade die erste Stelle bei den Frauen einnimmt. Herr Gruner, ist das neue Männerbild der Softi? Nein, das wollen Sie nicht …

Paul-Hermann Gruner: Der Softi ist ein Etikett. Und Etiketten beeindrucken mich eigentlich vergleichsweise wenig. Ich brauche wahre Menschen. Ich brauche Menschen, die in ihrer Identität verwurzelt sind und die vor allem wissen, was für sie gut ist, nicht nur, welche Rolle sie gefälligst doch möglichst knackig zu erfüllen haben, sondern was für sie persönlich gut ist und darüber hinaus für das soziale Kollektiv, dem sie immer angehören. Also, Softi oder nicht, das sind alles 80er-, 90er-Jahre-Debatten. Die haben für mich überhaupt keinen Wert. Eine Männlichkeit gibt es sowieso nicht. Es gibt einen Plural. Es gibt Männlichkeiten. Auf diese weist dieses Buch auch ganz konzentriert in mehrfacher Hinsicht hin. Und diese lebbaren Männlichkeiten sind alle kompatibel. Wenn darunter auch ein Softi sein sollte, dann wird er deswegen nicht vom Leben ausgeschlossen. Er darf es ein, aber er ist jetzt wirklich nun kein Idealbild des Mannes.

Astrid von Friesen: In der Erziehung streben wir das ja an, dass Kinder gefördert werden sollen nach ihren Begabungen, nach ihren Fähigkeiten, nach ihren Ressourcen. Aber bezogen auf die Jungs, weil es einfach zu wenig männliche Erzieher gibt, zu wenige Väter usw., funktioniert das einfach nicht. Jungen lernen schlechter durch Frauen – Punkt, aus! Ich fordere als Erziehungswissenschaftlerin seit 20 Jahren, dass in den Schulen halt 50 % Lehrer eingestellt werden.

Deutschlandradio Kultur: Ist der Lehrerberuf, Grundschullehrer, für Männer attraktiv? Ist er nicht irgendwie mit einem sozialen Makel behaftet?

Astrid von Friesen: Ich glaube, wir müssen ganz viele Boys Days machen, um Jungs sozusagen an die erziehenden Berufe heranzubringen. Das wäre doch wunderbar. Und warum sollen Jungen nicht daran Spaß haben, von Kindern geliebt zu werden? Alle Zivis, die in Kindergärten oder Grundschulen mitarbeiten, die erleben das ja, dass die Kinder an ihnen kleben. Kinder sind ja männerhungrig ohne Ende. Männer bekommen ja auch, genauso wie Frauen, ganz viel durch die Arbeit mit Kindern, weil sie, wenn sie nett sind und kompetent, von Kindern geliebt werden. Aber das muss natürlich Männern nahe gebracht werden, wie es früher Mädchen nahe gebracht werden musste, dass Mathematik und Naturwissenschaften und das Ingenieurwesen nichts per se Schreckliches ist.

Paul-Hermann Gruner: Da gibt es gleich noch ein Ergänzungsargument. Nicht nur, dass wir Boys Days brauchen, Jungentage. Wir brauchen sie dringlichst. Auch hier gibt es ein Wahrnehmungsdefizit. Wir sehen, Jungs haben großartige Probleme. Sie sind zwei Drittel in der Sonderschule präsent. Sie stellen die meisten Schulabbrecher. Sie haben die schlechteren Abiturzeugnisse, wenn sie überhaupt eins machen. In Hessen ist augenblicklich der Stand: 42 % der Abiturienten sind männlich. Also, das ist nicht eine zukunftsfähige Statistik. Das können wir nicht noch weiter in den Keller fahren lassen. Wir sehen also hier überall Defizite, aber wir sehen nicht, dass administrativ oder von Institutionen konzentriert etwas dagegen getan wird. Und ist denn ein Grundschullehreramt, ein Posten dieser Art oder eine Kita-Erzieherstelle oder eine Stelle in der Krabbelstube attraktiv für Männer? Kriegen die da nicht viel zu wenig Geld? Also, meine lieben Leute, da kann ich nur sagen: Dann schaut euch den Schlachter an, der als russischer Leiharbeiter in Brandenburger Schlachthöfen für 3 Euro die Stunde eine sehr gefährliche Arbeit macht, eine Arbeit, mit der er mit Sicherheit im Kollektiv, in dem er ist, nicht angeben kann, in der er nicht aufsteigen kann, in der er allerhöchstens ein Mobbingopfer ist, aber kein Mobbing austeilen kann. Wenn dieser Mann für 3 Euro arbeitet und andere im Bauwesen, Bauarbeiter etc. auch zu Bedingungen und zu Löhnen, die wir alle für lachhaft halten, dann brauchen wir über dieses Geldargument nicht sprechen. Es ist ein vorgeschobenes und vernebelt die Angelegenheit, statt sie aufzuklären.

Deutschlandradio Kultur: Stichwort "institutionalisierte Förderung". Nun gibt es seit ein paar Jahren einen Begriff, den kein Mensch versteht. Er kommt aus dem Englischen und heißt Gender Mainstreaming. Man weiß im Grunde genommen überhaupt nicht, was das ist. Wenn man etwas wacher Zeitungen liest, merkt man vielleicht, dass da etliche Gelder hineinfließen. Was bitte – Sie haben einen Aufsatz darüber – ist Gender Mainstreaming? Was passiert da?

Paul-Hermann Gruner: Ich sage ja immer zu Gender Mainstreming gleich GM. Es ist für mich ein ebenso großer Abwrackfall wie das große, inzwischen weltweit bekannte Automobilunternehmen aus Detroit, weil es sich auch wieder im Grunde um einen Etikettenschwindel handelt.

Wer sich die Ursprungspapiere zu Gender Mainstreaming wirklich durchliest, das ist eine Mühe, der man sich unterziehen kann, die aber durchaus ihre Wirkungen und ihre Ergebnisse zeitigt, dann sieht man, dass es durchaus zu Beginn beabsichtigt war, Lebenswirklichkeiten von Männern wie von Frauen insoweit abzubilden oder zu untersuchen, dass sie beide gleichzeitig davon profitieren, von dem, was dann GM-Programmatik wurde.

Im Realfall, in dem, was wir letztendlich von der EU, von Brüssel oder von Berlin aus oder von jeder einzelnen Gemeinde in diesem Lande her erleben, ist GM nur ein neues Label für Frauenunterstützung, Frauenförderung geworden, also hat kein Mann bis dato ernsthaft von GM trotz dieses neuen Titels profitiert. Das muss man einfach ganz nackt so darstellen.

Astrid von Friesen: Und man kann auch hinzufügen: Neuestens heißen ja die frauenbeauftragten Frauen "Gleichstellungsbeauftragte". Ich finde aber in den meisten Fällen, da ist Dresden vielleicht eine Ausnahme, diese Beauftragten sind nicht beauftragt für beide Geschlechter. Sie kommen ihrer Aufgabe, vom Steuerzahler bezahlt, auch gar nicht nach. Die müssten sich beauftragt fühlen, genauso viele Kurse und Angebote und Vorträge und Programme und Plakate für beide Geschlechter zu machen, wenn es irgendwelche Dollpunkte gibt – und die gibt es ja.

Deutschlandradio Kultur: Unsere Zeit läuft leider schon wieder dem Ende zu. Es ist Regel bei uns: die Gäste in der Sendung Lesart Spezial haben immer einen Buchtipp zum Schluss der Sendung, ein besonders empfehlenswertes Buch, das ihnen sehr gut gefällt. Frau von Friesen, was haben Sie mitgebracht?

Astrid von Friesen: Ich möchte eines empfehlen von Michael Morpurgo, einem britischen Schriftsteller. Das Buch heißt "Mein Bruder Charlie", ist im Carlson Verlag erschienen. Es ist eine Liebesgeschichte. Sie spielt Anfang des 20. Jahrhunderts in einem englischen Dorf und mündet im 1. Weltkrieg auf der englischen Seite. Es ist eine wunderschöne Liebesgeschichte, die zu Tränen rührt, und zwar die Liebe zwischen zwei Brüdern – ein großer Bruder und ein kleiner Bruder. Der große Bruder geht bis in den Tod. Er wird standrechtlich erschossen, weil er sich für seinen kleinen Bruder und für seine anderen Kriegskameraden einsetzt. Ein Buch für junge Leser, Mädchen wie Jungen, und für alle Erwachsenen.

Deutschlandradio Kultur: Ist das ein Buch, das Jungen lesen werden?

Astrid von Friesen: Ja, das glaube ich.

Deutschlandradio Kultur: Herr Gruner, was haben Sie mitgebracht?

Paul-Hermann Gruner: Ich habe eine neue Publikation von Gabrielle Barilli aus Wien mitgebracht, ein literarisches Multitalent, wie wir wissen. Sein neuer Roman heißt "Echtzeit" und ist so eine Art Roman über die Generation Internet geworden, ein Roman 180, relativ kurze Seiten lang, als literarischer Sog in eine Endzeitstimmung hinein. Die Protagonistin, um die es geht, ist gefangen in einer digitalen Kommunikationswelt und es fehlt jede Echtheit. Innerhalb dieser Gefangenheit ist sie eine erschöpfte Selbstbetrügerin. Mehr will ich nicht verraten, aber es ist ein sehr bewegendes Buch.

Deutschlandradio Kultur: Ungerechtigkeit entsteht nicht nur dort, wo man Gleiches ungleich behandelt, sondern auch dort, wo nicht Gleiches gleich behandelt wird. Das ist ein, wie ich finde, zentraler Satz, der in Ihrem Reader in einem Interview geäußert wird, übrigens von einer Frau.

Das war Lesart Spezial am 1. Mai, heute ein Gespräch über Männerbelange. Ich danke meinen beiden Studiogästen Astrid von Friesen und Paul-Hermann Gruner. Hier noch mal zur Orientierung die beiden Titel, über die wir geredet haben. Das war einmal Arne Hoffmann "Rettet unsere Söhne. Wie den Jungs die Zukunft verbaut wird und was wir dagegen tun können", erschienen im Pendo Verlag, 204 Seiten, und der dicke Reader "Befreiungsbewegung für Männer. Auf dem Weg zur Geschlechterdemokratie", herausgegeben von Paul-Hermann Gruner und Eckhard Kuhla, erschienen im Psychosozial-Verlag. Das Buch hat 430 Seiten.

Eine neue Ausgabe der Lesart gibt es am kommenden Sonntag um 12.30 Uhr. Es verabschiedet sich Florian Felix Weyh und wünscht noch einen gelungenen Feiertag für beide Geschlechter.