Lesart Spezial - Bildung
Die Pädagogin und Professorin für Erziehungswissenschaften Käte Meyer-Drawe plädiert in ihrem Buch dafür, dem Begriff des Lernens seine Komplexität zurückzuerstatten. Ulrich Schreiterer erklärt in seinem Band, wodurch sich US-amerikanische und deutsche Hochschulen unterscheiden.
Alexander Schuller: Herzlich willkommen zur Lesart, unserem politischen Buchmagazin. Am Mikrofon begrüßt Sie Alexander Schuller.
Unsere Sendung widmet sich heute einem Thema, das in Deutschland gern als Mittel gegen alle möglichen gesellschaftlichen Probleme aufgerufen wird: Der Bildung. An ihre Heilkraft wird noch immer geglaubt, und doch ist ihr Zustand schlechter geworden. In Bologna begann einst die Geschichte der europäischen Universität, und dort wurde sie nun auch begraben. Wir reformieren unser Bildungssystem kaputt. "Bildung durch Wissenschaft" haben wir längst nicht mehr, sondern nur noch "Beruf statt Wissenschaft". In Großbritannien etwa oder in den USA sieht die Sache ganz anders aus – warum?
Darüber und vor allem über Bücher möchte ich in unserer ‚Lesart Spezial’ mit zwei ausgewiesenen Experten sprechen. Ich begrüße Jürgen Kaube, Leiter der Redaktion Geisteswissenschaften der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.
Mein zweiter Gast ist Ulrich Schreiterer, er ist Soziologe und Hochschulexperte, arbeitet am Wissenschaftszentrum Berlin in den Bereichen Evaluationsforschung und Wissenschaftspolitik. Ulrich Schreiterer hat ein Buch geschrieben über die "Traumfabrik Harvard", in dem er erklärt, warum amerikanische Universitäten so anders sind. Ein zweites Buch soll uns beschäftigen: Es heißt "Diskurse des Lernens" von Käte Meyer-Drawe und ist vor allem eine bildungs- und lernphilosophische Schrift. Mit diesen beiden Texten haben wir das weite Spektrum der Bildungsdiskussion vor uns – und Sie – Herr Schreiterer – möchte ich zunächst fragen, wie Sie das Buch von Käte Meyer-Drawe einschätzen.
Ulrich Schreiterer: Ich habe jetzt fünf Jahre in Amerika gelebt und mich etwas - wie man das sagen würde - entkulturiert, also auch an einen bestimmten Schreib-, Sprach- und Denkstil gewöhnt. Ich muss sagen: Vor diesem Hintergrund wäre ein solches Buch in Amerika nicht erschienen. Es hätte keinen Publikationsort gefunden. Warum nicht? Es fehlt eine Linie. Es fehlt eine These. Es ist eine Mischung aus einer Anklageschrift gegenüber den Technizitäten der modernen Welt, einen technisch verkürzten Lernbegriff, sehr sympathisch in weiten Teilen, eine Attacke gegen die Neurowissenschaften und die Vermessung der Welt, gegen den Kontrollstaat, aber eine Attacke, die sozusagen mit einem Munitionsbesteck aus wirklich allen Bereichen der Philosophie gefahren wird - von Platon bis Plessner, Sokrates bis Singer wird alles zitiert, allerdings, wie ich meine, eben in einer nicht gut bekömmlichen, nicht verdaulichen, nicht durchdachten Art und Weise. Aber das Leben, die Anschauung bleibt draußen.
Alexander Schuller: Herr Kaube, wollen Sie dem Buch zur Rettung kommen?
Jürgen Kaube: Ein bisschen vielleicht. Herr Scheiterer hat schon recht. Die Autorin steht sich ein bisschen im Wege, und zwar mit ihrer Bildung selbst. Zu ihrer These oder Antithese, die sie hat, fallen ihr zu viele Autoren ein. Aber vielleicht kann man ja sagen, dass trotzdem die Stoßrichtung des Buches - Sie hatten es ja auch angedeutet - doch eine ganz wertvolle ist. Frau Meyer-Drawe, die ja Erziehungswissenschaftlerin ist, wenn ich das richtig sehe, und in Bochum unterrichtet und dort wahrscheinlich einen Lehrstuhl für Philosophie der Erziehung haben dürfte, dass sie nun ihrerseits genervt ist durch so eine Beschallung, die wir in den letzten fünf, sechs, sieben Jahren erfahren haben, auch im öffentlichen Raum, mit Motiven wie: "Neurodidaktik", "das Zeitfenster der kleinen Kinder", das unbedingt genutzt werden muss, die "Plastizität der jungen Gehirne", das "Lernen des Lernens", ein ewiger Klassiker, das wichtiger sei als das Lernen von etwas, "Ganzheitlichkeit der Erziehung". Das geht sie so Punkt für Punkt durch und beschießt es mit Dingen, die man aus der Tradition schon wissen kann, z.B., dass Lernen immer lernen von etwas ist. Diese Art von Polemik finde ich hilfreich. Es ist eigentlich ein Buch primär kritischer Absicht.
Alexander Schuller: Herr Scheiterer, Sie hatten sich ja sehr heftig geäußert. Es wundert mich auch eigentlich. In der letzten Konsequenz war ja die Hauptthese von Meyer-Drawe in Linie mit einem Ihrer Hauptargumente, nämlich Ihrem Plädoyer für das amerikanische College, als dem Bereich, in dem eben nicht anwendungsbezogen, berufsbezogen, pragmatisch gearbeitet wird. Da sehe ich eine Ähnlichkeit zwischen Ihnen beiden.
Ulrich Schreiterer: Ich denke schon, dass es eine ähnliche Stoßrichtung gibt. Auch die Menschenbildung ist mein Anliegen, dass man es nicht nur über den Kopf macht, wie auch Frau Meyer-Drawe sagen würde. Die in kleine Pieces zerlegte, zerhackselte Bildung oder Lerntheorie ist sicherlich nicht das, was uns als etwas, worüber wir froh sein könnten, vor Augen stehen mag.
Alexander Schuller: Ich finde ja Ihre Kritik an dem Buch von Meyer-Grawe in vielen Punkten auch berechtigt, aber in der Grundposition, finde ich, ist die Meyer-Drawe ganz wichtig, weil sie nämlich tatsächlich in dem Kontext der deutschen Universität, die ja zu einer bürokratisierten, wie ich denke, auch ein bisschen verspießerten Universität geworden ist, ein Gegengewicht stellt, nämlich eines, das uns daran erinnert, dass es eine Tradition gibt, auf die auch Humboldt rekurriert. Ich finde, es ist ein Gegenmittel gegen das exzellenzfanatische Betreiben, das der Universität auch eigentlich den Geist austreibt. Oder wollen Sie dazu was sagen, Herr Kaube?
Jürgen Kaube: Vielleicht stellt sich das aus amerikanischer Perspektive ein bisschen anders dar oder ist die Frontstellung, die sie aufmacht, nicht so dringlich. Aber man muss doch sagen, dass die Universitätsreform, auch die Schulreform doch ganz stark von diesen Kräften, die sie hier attackiert, betrieben wird, also von den Erziehungswissenschaften selbst, die ja eine extrem formalistische Disziplin sind, die extrem auf Tricks und Technologien und weniger auf Gegenstände setzen. Die glauben, dass es so was gibt wie eine Optimierung von Didaktik, die gerne den neuesten Clou anderer Disziplinen, z.B. Verhaltensforschung oder Psychologie oder eben Hirnforschung als den letzten Schrei, aufsaugen und dann am Ende ein sehr formales und in Bürokratie und in modulhafte Erziehung hineinlaufen, das Bild von "Beschulung" gewissermaßen haben. Ein bisschen spürt man diesem Buch die Last an, also das Umstelltsein einer solchen Autorin, die andere Traditionen im Blick hat, durch diese Art von apparatehaftem Zugriff auf Erziehungsprozesse. Diese ganze Vorstellung, dass eben schon die kleinsten Kinder eigentlich als Gehirne betrachtet werden sollten, obwohl - wie Frau Meyer-Drawe - völlig zurecht sagt, das Ich immer auch dabei ist. Nicht das Gehirn lernt. Das Ich lernt. Was an dem Buch durchaus auch mühevoll ist, ist ein bisschen der Tatsache geschuldet, dass 90 % aller Erziehungswissenschaftler und Schulreformer und Universitätsreformer ein bisschen so denken wie die Leute, die sie hier angreift.
Alexander Schuller: Wie können wir denn von dem amerikanischen Modell lernen? Von Harvard wird ja in Deutschland ununterbrochen geschwärmt, obwohl die meisten, die davon schwärmen, noch nie da waren. Was ist eigentlich das Kontrastprogramm? Und inwiefern - das wäre jetzt meine These - verwirklicht Harvard und die amerikanische Tradition, von der Sie sprechen, das Humboldtsche Erbe besser als die deutsche Universität heute?
Jürgen Kaube: Das eine ist die Frage: Was ist eingegangen in gewisse Seiten der amerikanischen Universität? Ein großer Vorzug des Buchs von Herrn Schreiterer ist ja, dass er die ganze Vielfalt dieses sehr, sehr heterogenen Systems, das viele Institutionen enthält, die wir niemals im Leben als Universitäten, wahrscheinlich noch nicht mal als Hochschulen bezeichnen würden, also diese ganze Varianz sehr anschaulich und fast wie ein Handbuch schildert. Wenn man wissen will, was es in Amerika alles gibt, dann kann man dieses Buch zur Hand nehmen. Das ist also die eine Frage: Was ist in diese Spitzenuniversitäten von diesem Humboldtschen Geist eingegangen? Frau Drawe würde vielleicht sagen: Das Motiv der Langeweile nutzend, des sich ein bisschen etwas Aussuchens in diesen zwei, drei, vier Jahren, wie lange die dann immer auf dem College sind, das sind Motive, die sicherlich eingegangen sind aus einem Humboldtschen Ideal der nicht zu speziellen Ausbildung, der nicht zu berufsorientierten Ausbildung, der Menschenbildung, der Erziehung.
Wir tendieren ja dazu nicht zu sagen: Studenten werden an Universitäten erzogen. Wir sagen: Sie werden gebildet, weil sie sind erwachsen und Erwachsene erzieht man nicht. Mein Eindruck von dem Buch und von den Beschreibungen her ist, dass Amerikaner stärker ein ganz natürliches Verhältnis dazu haben, dass natürlich diese jungen Leute da erzogen werden - und Erziehung auch nicht als Vorwurf gegen ihre eigene Familie begreifen, dass sie sie dann noch mal für viel Geld auf so ein College z.B. schicken.
Das andere ist die Frage, was wir davon lernen können. Das amerikanische System hat so viele Elemente, die man importieren müsste und gar nicht importieren könnte: die Gebühren, die Privatheit dieser Erziehung, unglaublich teuer, im Prinzip eine Erziehung, die auf unser Abitur noch mal drauf sattelt und sagt, wir machen jetzt noch mal drei Jahre Abitur. Die ganze Struktur der Verwaltung, der Forschungsförderung, des Ansehens der Professoren, des freien Markts der Universitäten, da hätten wir sehr, sehr viel zu adaptieren. Wenn man ein bisschen Soziologe ist, sieht man auch Lerngrenzen eines Systems. Das zu imitieren, was wir ja im Schulbereich dann immer mit Finnland versuchen, kommt doch sehr schnell an Grenzen. Oder man müsste jedenfalls sagen, damit wären erhebliche Zumutungen verbunden.
Alexander Schuller: Ein wichtiger Punkt bei dem, was Sie beide diskutieren, ist ja die Übertragbarkeit. In Ihrem Buch fand ich sehr hilfreich, dass sie auch auf die Strukturen sehr ausführlich eingehen, aber dass Sie eben auch auf den kulturellen Kontext eingehen. Kultureller Kontext ist ja auch fast ein eigenes Kapitel bei Ihnen. Mir scheint, das ist eigentlich die Krux der Differenz. Denn Institutionen kann man notfalls verändern, aber kulturellen Kontext kann man eigentlich nicht verändern.
Die Atmosphäre der deutschen Universität ist eine gelassene, resignierte Langeweile. Was ist mit dem Moment - das kommt bei Ihnen ja auch vor, wenn auch nicht so explizit, wie ich es mir gewünscht hätte - diese hohe Motivation, diese Begeisterung der Studenten für das, was sie angeboten bekommen?
Ulrich Schreiterer: Das Paradoxe an der amerikanischen Universität, auch der Forschungsuniversitäten ist ja, dass sie in der Tat nicht nur dieses deutsche Forschungsideal haben, für das nun mal Humboldt steht. Sondern die amerikanische Universität oder das College insbesondere auch, und das macht ihren Charme aus, ist ja eine Amalgamierung von englischen Traditionen und deutschen Forschungstraditionen. Englische Traditionen stehen für Erziehung, und Erziehung eben nicht als Zurichtung, Erziehung nicht als Kadettenanstalt, sondern als freie geistige Tätigkeit. Man hat dafür zwei wunderbare Worte, die Sie in allen Curricula der amerikanischen Colleges finden. Erstens geht es um ein so genanntes Furniture of Mind. Das heißt, die Studenten sollen etwas lernen. Das beantwortet Frau Meyer-Drawes Frage nach dem Was. Es geht also um Inhalte, an denen sich das Lernen üben soll, und nicht um das Lernen des Lernens.
Das Zweite ist die Discipline of Mind. Sie sollen sich also darin üben, Dinge strukturiert zu sehen. Dazu zählt dann eben auch, präsentieren zu können, gut zu schreiben, etwas, was hier in Deutschland auch vor einigen Jahren entdeckt worden ist, pflegt man dort schon lange.
Und ein letztes Argument, ein Punkt, der in Deutschland überhaupt nicht auf dem Schirm ist, vielleicht auch, weil der Begriff kontaminiert ist: Die guten amerikanischen Colleges legen sehr viel Wert auf das, was dort Leadership genannt wird. Was verstehen wir darunter? Im Grunde genommen nicht sehr viel mehr, als das, was dort anders heißt, make a difference, dass die Studenten also dazu angehalten werden sollten, nicht einfach der Masse zu folgen, sondern eine Verantwortung zu übernehmen.
Alexander Schuller: Was wir sehen sollten, ist, dass es primär eigentlich nicht in unserem Sinne um Inhalte geht, sondern um eine Persönlichkeit, um ein Menschenbild. Sie haben ja von Leadership gesprochen. Das darf man auch gar nicht ins Deutsche übersetzen. Dann heißt es gleich Führerschaft. Dann kommt wieder was Furchtbares dabei raus. Ein Aspekt, der als Flankenfaktor wichtig ist, ist die Rolle, die der Sport an den amerikanischen Universitäten spielt. Ich finde, dass der Sport eigentlich Teil dieses griechischen Bildungsmodells ist, indem eben nicht nur der Kopf, sondern auch der ganze Mensch zur Bildung gewissermaßen herangezogen wird und der ganze Mensch zum Blühen gebracht werden soll.
Jürgen Kaube: Wobei vielleicht der Unterschied zu so einer griechischen Ganzheitsvorstellung ist, dass die ja ein bisschen diese Tätigkeit kognitiv, körperlich dann doch auf bestimmte Studentengruppen verteilen. Es gibt Studenten, die sind da wegen des Sports. Aufgrund ihrer sportlichen Leistung kriegen die da so ein bisschen Nachhilfe, wenn man so will, und werden eben als Helden da gefeiert. Der Rest ist dann doch eher Publikum. Und die studieren. Die, die Publikum sind, müssen echt studieren. Ich glaube, ein Grund, warum wir hier die Universitäten haben, die wir haben, ist, dass wir dieses Selektivitätsideal nicht pflegen. Wir haben nicht die Vorstellung, dass Universitäten sehr scharf auswählen sollen. Selbst bei den Exzellenzuniversitäten ist bisher noch niemand auf die Idee gekommen zu sagen, die zeichnen sich in Zukunft vor allem dadurch aus, dass sie wenige Studenten haben.
Die Amerikaner, habe ich den Eindruck aus ihrem Buch entnommen, haben auch ein inklusives Ideal, aber das bezieht sich auf das Gesamtsystem, dass überhaupt möglichst alle irgendwie studieren sollten. Dann muss man die Fächerangebote auch so machen. Die müssen in manchen Universitäten auch so aussehen, dass da eben jeder studieren kann.
Wir haben eher die Vorstellung, die Universität ist wissenschaftsangeleitet, muss dann aber jeden nehmen - mit den entsprechenden Folgen.
Alexander Schuller: Ich habe Sport genannt. Aber Sport ist ja eigentlich nur pars pro toto. Es gibt Rhetorikkurse, es gibt Writing-Kurse. Warum ist das in Amerika wichtig? Weil es in der Tat die griechische Tradition fortführt. Das ist das Menschenbild, das Ideal, an dem es orientiert wird. Und da bekommt das Wort von Führungspersönlichkeit, von Leadership dann einen ganz neuen Sinn, nicht im Sinn eines autoritären Führers, sondern jemand, der selber auch begeistert und begeistern kann. Das, denke ich, ist ein großer Unterschied.
Wir waren beim Wort Menschenbild. Ich denke, der Hauptunterschied zwischen der deutschen und der amerikanischen Universität ist, dass sie beide ganz unterschiedliche Menschenbilder verkörpern und dass wir in Deutschland über diese Frage des unterschiedlichen Menschenbildes eigentlich gar nicht diskutieren. Übertragen wird nicht das, was im Wesen der amerikanischen Universität so exzellent ist, sondern das, was eigentlich nur die formale Struktur ist.
Jürgen Kaube: Ich glaube, ein Grund dafür, dass das vielleicht so ist, dass wir diese menschenbildnerische Funktion jahrzehntelang eigentlich dem Gymnasium zugewiesen haben und jahrelang in der Vorstellung gelebt haben, das Gymnasium leiste diese umfassende Allgemeinbildung, an die dann sofort - wenn man so will - wissenschaftlicher Unterricht oder Unterricht durch Wissenschaft anschließen kann. Da war vielleicht das amerikanische Bildungssystem realistischer oder erweist sich heute als realistischer, das man sagt, dieser Grad an Ausreifung ist mit 18 noch nicht der Fall. Ich bin nicht ganz sicher, ob man wirklich sagen kann, dass diese Begeisterung für Kognition, für Erkenntnis völlig gleich verteilt ist über diese ganzen Universitäten hinweg.
Man muss auch sagen, die Universitätsreform von Bologna versucht ja gerade Rhetorikkurse, Schreibkurse, Sozialkompetenzen - heute heißt das dann eben Schulung in Powerpoint. Dann ist man schon mal nicht so euphorisch in Bezug auf diese, wenn man so will, metawissenschaftlichen Fähigkeiten.
Ich glaube, die deutsche Universität leidet ein bisschen an dieser Vorstellung, dass sie in einer Institution, die relativ homogen ist, alle möglichen dieser Aspekte realisieren kann, während die Amerikaner doch stärker auf Differenzierung des Gesamtsystems und auch Differenzierung an einer Universität setzen. Es gibt an einer Universität Spitzenforschung und eine Hotelschule, wo die Leute zu guten Hotelmanagern ausgebildet werden. Das ist bei uns mit den Wissenschaftsidealen schwer zu begreifen, weil es keine Hotelwissenschaft gibt. Wir versuchen so ein bisschen das Unmögliche, im Rahmen einer sehr wissenschaftlichen Ausbildung gleichzeitig diese anderen Funktionen - Ausbildung für einen Beruf, Menschenbildung - irgendwie unterzubringen. Und dann wird das so ein merkwürdiger Kompromiss, den alle Beteiligten dann eigentlich nicht gut finden. Aber wir halten trotzdem daran fest, weil wir diese Differenzierung selber eigentlich nicht zulassen. Im Wettbewerb um die Exzellenz hieß es, das ist ein Wettbewerb, bei dem es nur Sieger gibt. Das wäre der erste Wettbewerb der Welt, würde wahrscheinlich ein Amerikaner sagen, bei dem es nur Sieger gibt und am Ende nicht starke Unterschiede. Wir sind so unterschiedsempfindlich in Deutschland.
Ulrich Schreiterer: Der letzte Punkt ist zweifellos sehr treffend, und zwar auch unterschiedlich beflissen im Blick auf - wenn Sie so wollen - Regularien. Das und das gehört nicht an diese Universität oder diese Hochschule. Hotelmanagement gehört nicht an eine Universität, sondern an eine Fachschule oder vielleicht Fachhochschule. Früher durften Ingenieure nicht promovieren. Erst 1900 nach riesigen Standeskämpfen mit der Universitätsmafia bekamen sie den Doktor, aber dann eben nicht mit dem Lateinischen, sondern mit dem Bindestrich - Dr. der Ingenieurwissenschaften, groß geschrieben. Solche Geschichten ziehen sich durch die ganze deutsche Universitätstradition, der Hochschultradition, wo es in Amerika doch einen Pragmatismus gibt, der sich wohltuend davon unterscheidet. Nämlich: Irgendwie passiert es. Irgendeine Einrichtung nimmt sich dieser Probleme an. Und man sieht gewissermaßen, was kommt am Ende dabei raus.
Lassen Sie mich noch ein Wort zum Menschenbild sagen: In Deutschland denkt man Erziehung oder Bildung oder Hochschule im Allgemeinen doch immer sehr stark in Techniken, in Modulen, in etwas, was zu managen ist, was man gewissermaßen in einem Lehrplan aufstellen kann. Die Diskussion und das Nachdenken über das, was da geschehen soll, welche Produkte man haben möchte, außer dass die beschäftigungsfähig sind, fällt etwas dabei hinten über.
Alexander Schuller: Wenn wir die beiden Universitätssysteme vergleichen, haben wir im amerikanischen System etwas - das haben Sie ja auch sehr schön betont in Ihrem Buch -, ein evolutionäres Konzept, ein Konzept, wo sich die Universitäten über die letzten 200 oder 150 Jahre ganz allmählich und in einer, wie wir uns alle offenbar einig sind, guten Richtung entwickelt haben. In Deutschland wird in einer geradezu hysterischen Weise ununterbrochen reformiert. Erste Metafrage: Warum wird eigentlich bei uns ununterbrochen reformiert? Warum wird alles umgestülpt? Was ist da geistesgeschichtlich oder ideologisch entstanden, dass es diese absolut verzweifelte Tendenz gibt, immer wieder was Neues zu machen? Und die Reformwelle läuft weiter und sie ist eigentlich, wenn ich das Fazit wagen darf, destruktiv. Alle Neuerungen zum Besseren sind eigentlich Neuerungen zum Schlechteren. Warum ist das so?
Jürgen Kaube: Der permanente Reformeifer setzt natürlich ein staatliches Universitätssystem voraus. Das Reformerische kommt einerseits ein bisschen durch den starken Staatsanteil und durch diese Gleichheitsvorstellung, die dahinter steckt.
Alexander Schuller: Warum will der Staat andauernd reformieren? Was kneift ihn denn?
Jürgen Kaube: Wir haben einerseits ein Regime von internationalen Vergleichen. Irgendwann gibt es ein Ungenügend und dann sagt man, wir möchten so werden wie andere - Schulen wie in Finnland, Universitäten wie in der Schweiz oder in den Vereinigten Staaten, obwohl die Schweiz oder die Vereinigten Staaten ganz unterschiedliche Universitäten haben. Und wir haben natürlich inzwischen auch, das muss man ja sagen, so was wie eine Reformklasse. Wir haben Hunderte von Leuten, die sich eigentlich nur noch damit beschäftigen, die Universität zu reformieren. Die Hochschulrektorenkonferenz hat da so einiges im Angebot an Dauerreformen. Es gibt ja nichts, was nicht umgedreht wird: die Semesterzeiten, die Gehälter hat der Staat reformiert, die Studiengänge, den Juniorprofessor, die Habilitationsordnung, die Gebühren - rein, raus, jetzt in Hessen z.B. Also, wir haben Leute, die eigentlich ihr Leben damit bestreiten, der Universität Reformen anzudienen, so eine Art Unternehmensberatung im universitären Bereich. Diese permanente Beunruhigung, die von diesen Dingen ausgeht, das gilt ja auch für die Schulen. Es gibt ja keinen Abitursjahrgang in Deutschland, der unter denselben Bedingungen Abitur macht wie die fünf Jahre vor ihm. Das hängt auch damit zusammen, dass wir ein ganzes Reformestablishment haben, das nach der Regel vorgeht: Nicht so, wie gerade eben!
Alexander Schuller: Ist das nicht ein wirklich bisher nicht dechiffrierbares destruktives Element, was da vorliegt? Es stellt sich als positiv dar, es hat auch durchaus positive Dimensionen, aber wenn ich das mit dem amerikanischen System vergleiche, mit der Behutsamkeit, mit der geändert wird - nur als ein Beispiel, das ich gut kenne: Das Kennedy-Institut in Harvard ist angegliedert worden, das ist ein Versuch, sozusagen die Verbindung zwischen Wissenschaft und Politik, Politikberatung meinetwegen, auch herzustellen. Andere Universitäten haben das auch gemacht. In Amerika geht es so. Bei uns geht es nicht so. Was ist eigentlich in Deutschland los, dass wir nur etwas Altes zerstören müssen, um was Neues zu machen oder es einfach bleiben lassen?
Ulrich Schreiterer: Ich bin mir nicht sicher, ob man in Deutschland im Dauerreformstress ist und man in Amerika zurückgelehnt den Dingen ihren Lauf lässt. Der Unterschied scheint mir wirklich das Draufgucken zu sein, nämlich hier dieses, was Kaube meinte, staatliche System, wo es dann immer darum geht, gleich einen Masterplan zu haben, so dass jedes Jahr eine neue Kuh durchs Dorf getrieben wird, und die Politisierung, die damit einher geht. Jede Reform ist ein politischer Streit, den es in dieser Form in Amerika nicht gibt. Sondern da gibt es sozusagen die Frage: Ist das zweckmäßig für diese Institution? Passt das zu der institutionellen Kultur? Wie würde sich dieser Laden verändern, wenn wir das so oder so machen? Müssen wir das vielleicht, weil das andere tun?
Wenn Sie sich anschauen, dass gerade die Eliteuniversitäten eifersüchtig darauf achten, was die anderen machten, und immer sehr schnell dabei sind das zu wiederholen. Was gerade in Harvard verkündet wurde, muss in Princeton dann auch gemacht werden. Also, da haben Sie eine dezentralisierte Gemengelage von Institutionen, die sich - über den Markt vermittelt - dann konkurrierend über Prestige, konkurrierend natürlich über Geld, aber nicht nur, dann ins Benehmen setzen und den Anforderungen stellen. Wohingegen Sie dann hier einmal den Generalkriegsmarschall haben und das dann als großes Projekt gemacht wird.
Es stimmt, dass diese Organe zugenommen haben, dass sich in Deutschland viele hauptberuflich mit Managementfragen, Reformfragen, professionelle Reformer beschäftigen. Nur, wenn Sie nach Amerika schauen, sehen Sie, dass das dort eine Lichtjahre weiter gegangene Entwicklung ist, dass beispielsweise die Positionen im Management der Hochschulen auf jeder Ebene um ein Vielfaches rascher gewachsen sind als die Positionen im akademischen Bereich. Nur es gibt nicht dieses aufgeregte Geschrei um die Reformen. Es gibt auch nicht diesen ideologischen Grabenkampf. Es ist entpolitisierter.
Alexander Schuller: Eine wesentliche Differenz zwischen der amerikanischen und der deutschen Universität. Die deutsche Universität ist politisch oder anpolitisiert. Die amerikanische Universität ist eigentlich völlig unpolitisch. Jeder einzelne Professor kann durchaus links, rechts oder ganz unpolitisch sein, die Studenten auch, aber die Universität als solche ist wirklich jenseits des politischen Raums. Das finde ich auch aus meiner Sicht ein großes Positivum. So habe ich auch Ihren Text verstanden.
Die deutsche Universität ist zumindest latent eine politische Einrichtung. Und die Frage ist, ob dieses Politische nicht mit diesem Reformwillen irgendwie doch verknüpft ist. Die Vorstellung, dass Bildung auch ein politischer Akt ist, da sehe ich einen Grund für diese Reformwütigkeit.
Jürgen Kaube: Das ist sicherlich richtig. Man muss nur sehen, dass - wenn man so ein dezentrales System haben will, das stärker über das Kopieren einzelner Organisationsmodelle, was machen die in Yale, was machen die in Princeton gerade - dieses Modell eben sehr marktförmig ist. Und die Preise sind ja erheblich, um nicht zu sagen erschreckend. Es gibt einen hohen Faktor von Ungleichheit. Es gibt eine riesige Debatte in Amerika über die Frage, wer studiert denn eigentlich noch in den guten Universitäten. Das wäre sicherlich dann die Zukunft, wenn wir auf so etwas umstellen würden. Denn wir wären dann die Paradoxie los, dass wir im Augenblick sagen, die Universitäten sollen autonom sein. Die Autonomiesemantik haben wir inzwischen, dieses Vokabular. Wir kombinieren es nur leider mit einer nach wie vor sehr homogenen Auffassung, weil eben so viel politisch auf dem Spiel steht, weil wir eben sagen, wir brauchen eine Studierquote von 60 %, es können gar nicht genug studieren, und gar nicht fragen, was sind denn das noch für Studien, wenn wir sie so ausdehnen, ohne dass wir die Mittel wesentlich erhöhen.
Alexander Schuller: Stichwort: Demokratisierung der Universität. Jeder soll studieren können. Das wird in Amerika völlig anders gehandhabt. Die Differenz ist nämlich, dass es auf Leistung und auf Qualität ankommt, in Deutschland eben nicht. In Amerika ist Leistung, auch wenn man demokratisierende Tendenzen fördert, ein wichtiges Kriterium. Und ich denke, eines der Dinge, die wir in Amerika erleben, ist, dass es eine sehr vorsichtige Repräsentanz von verschiedenen Minderheiten in den Universitäten gibt. In Amerika wird auch unter dem Diktum von Demokratisierung ausgewählt. Immer wieder sind Minderheiten, Mehrheiten, ist das politische Argument in der deutschen Diskussion ganz wichtig. Ich möchte eigentlich ganz gerne von Ihnen beiden hören: Was bewirkt das in der deutschen Universität und jeweils in der amerikanischen Universität?
Ulrich Schreiterer: Wir reden über sehr unterschiedliche Dinge, weil Demokratisierung in Deutschland immer aufgeladen ist mit Mitbestimmung von dieser oder jener Gruppe, die definiert ist mit bestimmten Inhalten, sozusagen herrschaftskritisch, einer bestimmten Provenienz. In Amerika kann man das nicht entdecken. Ein Punkt ist natürlich bei diesem System, dass es gewissermaßen zwei sehr schwer miteinander zu vereinbarende Prinzipien miteinander in Einklang bringen muss.
Auf der einen Seite jedem diesen Zugang zu eröffnen - jeder hat das Recht auf Bildung und Bildung ist etwas, was Opportunities liefert. Auf der anderen Seite wird dieses System auch gedacht, dass es dann gewissermaßen legitimerweise Positionen zuordnet. Denn wenn ich ein solches Bildungszertifikat habe, zeigt das, dass ich hard working, ehrgeizig, leistungsfähig bin.
Der neueste Trend dazu ist, von Diversity zu sprechen, das heißt, dass also auch Einrichtungen, die aufgrund ihrer Anforderungen an Studentenzulassungen tendenziell sozial homogen sind, sich bemühen müssen in ihrer Außendarstellung und um z.B. ihre Steuerprivilegien nicht zu verlieren, ein möglichst breites Spektrum von sozialen, ethnischen Gruppen an dieser Hochschule repräsentiert zu haben. Das funktioniert nicht immer gut. Es ist nicht etwa so, dass man gewissermaßen Quoten vorgeben würde, die dem Bevölkerungsquerschnitt entspricht.
Jürgen Kaube: Ein Unterschied, der hier auffällt, ist, dass es in Amerika offenbar um Zuteilung ethnischer, wenn nicht Quoten, so doch irgendwie Ausgleichsmaßnahmen geht. Das haben wir hier gar nicht. Wenn bei uns dieses Thema ansteht, dann wird davon gesprochen, wie viele Arbeiterkinder an den Universitäten sind und dass es zu wenig sind, gemessen am Bevölkerungsanteil. Das hat u.a. den Nachteil, dass es gar nicht so leicht festzustellen ist, was ein Arbeiterkind überhaupt ist. Das ist bei so ethnischen Zuschreibungen, von denen wir auch wissen, dass es Konstrukte sind, doch etwas leichter. Und man hat den Eindruck, dass das amerikanische System diese inklusive Tendenz eher dadurch realisiert, dass es sagt, jeder sollte irgendwo einen Studienplatz haben. Aber die Betonung liegt auf "irgendwo". Er sollte studiert haben, um ein Mensch im Vollsinne zu werden.
Es käme letztlich niemand auf die Idee, dass jeder einen Anspruch darauf hat, im Chicago College unterrichtet zu werden. Schon die Preise sorgen dafür, dass das nicht der Fall ist. Aber es gibt auch natürlich nicht diese merkwürdige Vorstellung, dass man lieber die Leistungskriterien an diese Wünschbarkeiten anpasst, als zu den Leuten sagt: Bitte, wenn du möchtest, mach diesen Test. Du kriegst auch ein Stipendium. Die Bemessungsgrenzen sind ja sehr großzügig, gerade von den absoluten Topp-Universitäten. Von Princeton habe ich gehört, 180.000 Dollar im Jahr. Wenn die Eltern das verdienen, dann fällt man ja auf die Stipendienseite, sofern man die Leistung erbringt bzw. die Begabung zeigt, interessant ist für die Universität.
Und das ist natürlich etwas, was wir wenig haben, diese Vorstellung, dass die Universität hergeht und sagt: Wer ist denn interessant für unsere Fächer? Und wer ist nicht interessant? Denn das ist ja die harte Seite davon. Und wenn das dann so ausgeht, dass Jugendliche aus Elternhäusern, bei denen schon Sozial- und Bildungskapital da ist, durch die Frage, wer ist denn interessant, begünstigt werden, dann gibt es in Amerika nicht so ein Geschrei. Es gibt eine Debatte, aber es gibt nicht so eine normative Empörung über diesen soziologisch eigentlich trivialen Tatbestand, dass natürlich Kinder aus Elternhäusern, die Bücher haben, eine größere Wahrscheinlichkeit haben, diese Begabungsgesichtspunkte zu realisieren als andere.
Ulrich Schreiterer: Das ist ein interessantes Stichwort, was ich kurz ergänzen möchte. Die Diskussion, die wir vorhin geführt hatten, war eine, die sich auf dieses Elitesegment beschränkt hat, nämlich: Wie differenziert ist es sozial dort oder ethnisch dort? Soziale Differenzierung spielt dort auch eine große Rolle, es geht allerdings nicht um den Status Arbeiter, Angestellte, Beamte, sondern wie viel Geld macht die Familie. Und da gibt’s sozusagen dann auch die Klassenlinien.
Der Punkt scheint mir noch mal zu sein, dass das ganze System so funktioniert, dass sich jede Einrichtung letztlich überlegen will, welche Art von Studenten möchte ich haben. Und es gibt eben solche, die - auch historisch herausgebildet - sich nur an schwarze Studenten, nur an Frauen, nur an solche aus No-Income-Familys, nur an asiatische Gruppen oder sonst wie wenden. In den umfassenden, breiter aufgestellten Hochschulen gilt das dann aber in ähnlicher Regel. Nämlich welche Mischung von Personen möchten wir haben? Was möchten wir mit denen machen?
Dann kommt es beispielsweise dazu, dass es eine Regel ist, dass Studienbewerber, die perfekte Zeugnisse, perfekte Testergebnisse haben, nicht zugelassen werden, selbst nicht am MIT, wo man das eher noch vermuten würde, weil es heißt, die passen hier nicht hin. Solche Nerds, also solche nicht besonders lebenserfahrenen Menschen möchten wir nicht. Wir möchten welche haben, die etwas beitragen können, die sich irgendwie umtun, die kregel sind und nicht nur in ihren Datenmengen vergraben. Das ist übrigens einer der Punkte, warum in den Bewerbungsunterlagen, die man einreichen muss, um ans College zu kommen, eigentlich bei fast allen Schulen und Hochschulen, also nicht nur den Topp 10, gefordert ist, dass man Essays schreibt, dass man irgendwo Motivationsschreiben macht oder irgendwo zeigt, dass man etwas anderes als nur die Schule gemacht hat und Interessen formuliert hat.
Meine Herren, unsere Zeit ist leider um, ich bedanke mich für die engagierten Diskussionsbeiträge bei Jürgen Kaube und bei Ulrich Schreiterer. Sein Buch "Traumfabrik Harvard" ist erschienen im Campus Verlag, Frankfurt. Das Buch von Käte Meyer-Drawe wurde verlegt bei Wilhelm Fink, Paderborn.
Unsere Sendung widmet sich heute einem Thema, das in Deutschland gern als Mittel gegen alle möglichen gesellschaftlichen Probleme aufgerufen wird: Der Bildung. An ihre Heilkraft wird noch immer geglaubt, und doch ist ihr Zustand schlechter geworden. In Bologna begann einst die Geschichte der europäischen Universität, und dort wurde sie nun auch begraben. Wir reformieren unser Bildungssystem kaputt. "Bildung durch Wissenschaft" haben wir längst nicht mehr, sondern nur noch "Beruf statt Wissenschaft". In Großbritannien etwa oder in den USA sieht die Sache ganz anders aus – warum?
Darüber und vor allem über Bücher möchte ich in unserer ‚Lesart Spezial’ mit zwei ausgewiesenen Experten sprechen. Ich begrüße Jürgen Kaube, Leiter der Redaktion Geisteswissenschaften der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.
Mein zweiter Gast ist Ulrich Schreiterer, er ist Soziologe und Hochschulexperte, arbeitet am Wissenschaftszentrum Berlin in den Bereichen Evaluationsforschung und Wissenschaftspolitik. Ulrich Schreiterer hat ein Buch geschrieben über die "Traumfabrik Harvard", in dem er erklärt, warum amerikanische Universitäten so anders sind. Ein zweites Buch soll uns beschäftigen: Es heißt "Diskurse des Lernens" von Käte Meyer-Drawe und ist vor allem eine bildungs- und lernphilosophische Schrift. Mit diesen beiden Texten haben wir das weite Spektrum der Bildungsdiskussion vor uns – und Sie – Herr Schreiterer – möchte ich zunächst fragen, wie Sie das Buch von Käte Meyer-Drawe einschätzen.
Ulrich Schreiterer: Ich habe jetzt fünf Jahre in Amerika gelebt und mich etwas - wie man das sagen würde - entkulturiert, also auch an einen bestimmten Schreib-, Sprach- und Denkstil gewöhnt. Ich muss sagen: Vor diesem Hintergrund wäre ein solches Buch in Amerika nicht erschienen. Es hätte keinen Publikationsort gefunden. Warum nicht? Es fehlt eine Linie. Es fehlt eine These. Es ist eine Mischung aus einer Anklageschrift gegenüber den Technizitäten der modernen Welt, einen technisch verkürzten Lernbegriff, sehr sympathisch in weiten Teilen, eine Attacke gegen die Neurowissenschaften und die Vermessung der Welt, gegen den Kontrollstaat, aber eine Attacke, die sozusagen mit einem Munitionsbesteck aus wirklich allen Bereichen der Philosophie gefahren wird - von Platon bis Plessner, Sokrates bis Singer wird alles zitiert, allerdings, wie ich meine, eben in einer nicht gut bekömmlichen, nicht verdaulichen, nicht durchdachten Art und Weise. Aber das Leben, die Anschauung bleibt draußen.
Alexander Schuller: Herr Kaube, wollen Sie dem Buch zur Rettung kommen?
Jürgen Kaube: Ein bisschen vielleicht. Herr Scheiterer hat schon recht. Die Autorin steht sich ein bisschen im Wege, und zwar mit ihrer Bildung selbst. Zu ihrer These oder Antithese, die sie hat, fallen ihr zu viele Autoren ein. Aber vielleicht kann man ja sagen, dass trotzdem die Stoßrichtung des Buches - Sie hatten es ja auch angedeutet - doch eine ganz wertvolle ist. Frau Meyer-Drawe, die ja Erziehungswissenschaftlerin ist, wenn ich das richtig sehe, und in Bochum unterrichtet und dort wahrscheinlich einen Lehrstuhl für Philosophie der Erziehung haben dürfte, dass sie nun ihrerseits genervt ist durch so eine Beschallung, die wir in den letzten fünf, sechs, sieben Jahren erfahren haben, auch im öffentlichen Raum, mit Motiven wie: "Neurodidaktik", "das Zeitfenster der kleinen Kinder", das unbedingt genutzt werden muss, die "Plastizität der jungen Gehirne", das "Lernen des Lernens", ein ewiger Klassiker, das wichtiger sei als das Lernen von etwas, "Ganzheitlichkeit der Erziehung". Das geht sie so Punkt für Punkt durch und beschießt es mit Dingen, die man aus der Tradition schon wissen kann, z.B., dass Lernen immer lernen von etwas ist. Diese Art von Polemik finde ich hilfreich. Es ist eigentlich ein Buch primär kritischer Absicht.
Alexander Schuller: Herr Scheiterer, Sie hatten sich ja sehr heftig geäußert. Es wundert mich auch eigentlich. In der letzten Konsequenz war ja die Hauptthese von Meyer-Drawe in Linie mit einem Ihrer Hauptargumente, nämlich Ihrem Plädoyer für das amerikanische College, als dem Bereich, in dem eben nicht anwendungsbezogen, berufsbezogen, pragmatisch gearbeitet wird. Da sehe ich eine Ähnlichkeit zwischen Ihnen beiden.
Ulrich Schreiterer: Ich denke schon, dass es eine ähnliche Stoßrichtung gibt. Auch die Menschenbildung ist mein Anliegen, dass man es nicht nur über den Kopf macht, wie auch Frau Meyer-Drawe sagen würde. Die in kleine Pieces zerlegte, zerhackselte Bildung oder Lerntheorie ist sicherlich nicht das, was uns als etwas, worüber wir froh sein könnten, vor Augen stehen mag.
Alexander Schuller: Ich finde ja Ihre Kritik an dem Buch von Meyer-Grawe in vielen Punkten auch berechtigt, aber in der Grundposition, finde ich, ist die Meyer-Drawe ganz wichtig, weil sie nämlich tatsächlich in dem Kontext der deutschen Universität, die ja zu einer bürokratisierten, wie ich denke, auch ein bisschen verspießerten Universität geworden ist, ein Gegengewicht stellt, nämlich eines, das uns daran erinnert, dass es eine Tradition gibt, auf die auch Humboldt rekurriert. Ich finde, es ist ein Gegenmittel gegen das exzellenzfanatische Betreiben, das der Universität auch eigentlich den Geist austreibt. Oder wollen Sie dazu was sagen, Herr Kaube?
Jürgen Kaube: Vielleicht stellt sich das aus amerikanischer Perspektive ein bisschen anders dar oder ist die Frontstellung, die sie aufmacht, nicht so dringlich. Aber man muss doch sagen, dass die Universitätsreform, auch die Schulreform doch ganz stark von diesen Kräften, die sie hier attackiert, betrieben wird, also von den Erziehungswissenschaften selbst, die ja eine extrem formalistische Disziplin sind, die extrem auf Tricks und Technologien und weniger auf Gegenstände setzen. Die glauben, dass es so was gibt wie eine Optimierung von Didaktik, die gerne den neuesten Clou anderer Disziplinen, z.B. Verhaltensforschung oder Psychologie oder eben Hirnforschung als den letzten Schrei, aufsaugen und dann am Ende ein sehr formales und in Bürokratie und in modulhafte Erziehung hineinlaufen, das Bild von "Beschulung" gewissermaßen haben. Ein bisschen spürt man diesem Buch die Last an, also das Umstelltsein einer solchen Autorin, die andere Traditionen im Blick hat, durch diese Art von apparatehaftem Zugriff auf Erziehungsprozesse. Diese ganze Vorstellung, dass eben schon die kleinsten Kinder eigentlich als Gehirne betrachtet werden sollten, obwohl - wie Frau Meyer-Drawe - völlig zurecht sagt, das Ich immer auch dabei ist. Nicht das Gehirn lernt. Das Ich lernt. Was an dem Buch durchaus auch mühevoll ist, ist ein bisschen der Tatsache geschuldet, dass 90 % aller Erziehungswissenschaftler und Schulreformer und Universitätsreformer ein bisschen so denken wie die Leute, die sie hier angreift.
Alexander Schuller: Wie können wir denn von dem amerikanischen Modell lernen? Von Harvard wird ja in Deutschland ununterbrochen geschwärmt, obwohl die meisten, die davon schwärmen, noch nie da waren. Was ist eigentlich das Kontrastprogramm? Und inwiefern - das wäre jetzt meine These - verwirklicht Harvard und die amerikanische Tradition, von der Sie sprechen, das Humboldtsche Erbe besser als die deutsche Universität heute?
Jürgen Kaube: Das eine ist die Frage: Was ist eingegangen in gewisse Seiten der amerikanischen Universität? Ein großer Vorzug des Buchs von Herrn Schreiterer ist ja, dass er die ganze Vielfalt dieses sehr, sehr heterogenen Systems, das viele Institutionen enthält, die wir niemals im Leben als Universitäten, wahrscheinlich noch nicht mal als Hochschulen bezeichnen würden, also diese ganze Varianz sehr anschaulich und fast wie ein Handbuch schildert. Wenn man wissen will, was es in Amerika alles gibt, dann kann man dieses Buch zur Hand nehmen. Das ist also die eine Frage: Was ist in diese Spitzenuniversitäten von diesem Humboldtschen Geist eingegangen? Frau Drawe würde vielleicht sagen: Das Motiv der Langeweile nutzend, des sich ein bisschen etwas Aussuchens in diesen zwei, drei, vier Jahren, wie lange die dann immer auf dem College sind, das sind Motive, die sicherlich eingegangen sind aus einem Humboldtschen Ideal der nicht zu speziellen Ausbildung, der nicht zu berufsorientierten Ausbildung, der Menschenbildung, der Erziehung.
Wir tendieren ja dazu nicht zu sagen: Studenten werden an Universitäten erzogen. Wir sagen: Sie werden gebildet, weil sie sind erwachsen und Erwachsene erzieht man nicht. Mein Eindruck von dem Buch und von den Beschreibungen her ist, dass Amerikaner stärker ein ganz natürliches Verhältnis dazu haben, dass natürlich diese jungen Leute da erzogen werden - und Erziehung auch nicht als Vorwurf gegen ihre eigene Familie begreifen, dass sie sie dann noch mal für viel Geld auf so ein College z.B. schicken.
Das andere ist die Frage, was wir davon lernen können. Das amerikanische System hat so viele Elemente, die man importieren müsste und gar nicht importieren könnte: die Gebühren, die Privatheit dieser Erziehung, unglaublich teuer, im Prinzip eine Erziehung, die auf unser Abitur noch mal drauf sattelt und sagt, wir machen jetzt noch mal drei Jahre Abitur. Die ganze Struktur der Verwaltung, der Forschungsförderung, des Ansehens der Professoren, des freien Markts der Universitäten, da hätten wir sehr, sehr viel zu adaptieren. Wenn man ein bisschen Soziologe ist, sieht man auch Lerngrenzen eines Systems. Das zu imitieren, was wir ja im Schulbereich dann immer mit Finnland versuchen, kommt doch sehr schnell an Grenzen. Oder man müsste jedenfalls sagen, damit wären erhebliche Zumutungen verbunden.
Alexander Schuller: Ein wichtiger Punkt bei dem, was Sie beide diskutieren, ist ja die Übertragbarkeit. In Ihrem Buch fand ich sehr hilfreich, dass sie auch auf die Strukturen sehr ausführlich eingehen, aber dass Sie eben auch auf den kulturellen Kontext eingehen. Kultureller Kontext ist ja auch fast ein eigenes Kapitel bei Ihnen. Mir scheint, das ist eigentlich die Krux der Differenz. Denn Institutionen kann man notfalls verändern, aber kulturellen Kontext kann man eigentlich nicht verändern.
Die Atmosphäre der deutschen Universität ist eine gelassene, resignierte Langeweile. Was ist mit dem Moment - das kommt bei Ihnen ja auch vor, wenn auch nicht so explizit, wie ich es mir gewünscht hätte - diese hohe Motivation, diese Begeisterung der Studenten für das, was sie angeboten bekommen?
Ulrich Schreiterer: Das Paradoxe an der amerikanischen Universität, auch der Forschungsuniversitäten ist ja, dass sie in der Tat nicht nur dieses deutsche Forschungsideal haben, für das nun mal Humboldt steht. Sondern die amerikanische Universität oder das College insbesondere auch, und das macht ihren Charme aus, ist ja eine Amalgamierung von englischen Traditionen und deutschen Forschungstraditionen. Englische Traditionen stehen für Erziehung, und Erziehung eben nicht als Zurichtung, Erziehung nicht als Kadettenanstalt, sondern als freie geistige Tätigkeit. Man hat dafür zwei wunderbare Worte, die Sie in allen Curricula der amerikanischen Colleges finden. Erstens geht es um ein so genanntes Furniture of Mind. Das heißt, die Studenten sollen etwas lernen. Das beantwortet Frau Meyer-Drawes Frage nach dem Was. Es geht also um Inhalte, an denen sich das Lernen üben soll, und nicht um das Lernen des Lernens.
Das Zweite ist die Discipline of Mind. Sie sollen sich also darin üben, Dinge strukturiert zu sehen. Dazu zählt dann eben auch, präsentieren zu können, gut zu schreiben, etwas, was hier in Deutschland auch vor einigen Jahren entdeckt worden ist, pflegt man dort schon lange.
Und ein letztes Argument, ein Punkt, der in Deutschland überhaupt nicht auf dem Schirm ist, vielleicht auch, weil der Begriff kontaminiert ist: Die guten amerikanischen Colleges legen sehr viel Wert auf das, was dort Leadership genannt wird. Was verstehen wir darunter? Im Grunde genommen nicht sehr viel mehr, als das, was dort anders heißt, make a difference, dass die Studenten also dazu angehalten werden sollten, nicht einfach der Masse zu folgen, sondern eine Verantwortung zu übernehmen.
Alexander Schuller: Was wir sehen sollten, ist, dass es primär eigentlich nicht in unserem Sinne um Inhalte geht, sondern um eine Persönlichkeit, um ein Menschenbild. Sie haben ja von Leadership gesprochen. Das darf man auch gar nicht ins Deutsche übersetzen. Dann heißt es gleich Führerschaft. Dann kommt wieder was Furchtbares dabei raus. Ein Aspekt, der als Flankenfaktor wichtig ist, ist die Rolle, die der Sport an den amerikanischen Universitäten spielt. Ich finde, dass der Sport eigentlich Teil dieses griechischen Bildungsmodells ist, indem eben nicht nur der Kopf, sondern auch der ganze Mensch zur Bildung gewissermaßen herangezogen wird und der ganze Mensch zum Blühen gebracht werden soll.
Jürgen Kaube: Wobei vielleicht der Unterschied zu so einer griechischen Ganzheitsvorstellung ist, dass die ja ein bisschen diese Tätigkeit kognitiv, körperlich dann doch auf bestimmte Studentengruppen verteilen. Es gibt Studenten, die sind da wegen des Sports. Aufgrund ihrer sportlichen Leistung kriegen die da so ein bisschen Nachhilfe, wenn man so will, und werden eben als Helden da gefeiert. Der Rest ist dann doch eher Publikum. Und die studieren. Die, die Publikum sind, müssen echt studieren. Ich glaube, ein Grund, warum wir hier die Universitäten haben, die wir haben, ist, dass wir dieses Selektivitätsideal nicht pflegen. Wir haben nicht die Vorstellung, dass Universitäten sehr scharf auswählen sollen. Selbst bei den Exzellenzuniversitäten ist bisher noch niemand auf die Idee gekommen zu sagen, die zeichnen sich in Zukunft vor allem dadurch aus, dass sie wenige Studenten haben.
Die Amerikaner, habe ich den Eindruck aus ihrem Buch entnommen, haben auch ein inklusives Ideal, aber das bezieht sich auf das Gesamtsystem, dass überhaupt möglichst alle irgendwie studieren sollten. Dann muss man die Fächerangebote auch so machen. Die müssen in manchen Universitäten auch so aussehen, dass da eben jeder studieren kann.
Wir haben eher die Vorstellung, die Universität ist wissenschaftsangeleitet, muss dann aber jeden nehmen - mit den entsprechenden Folgen.
Alexander Schuller: Ich habe Sport genannt. Aber Sport ist ja eigentlich nur pars pro toto. Es gibt Rhetorikkurse, es gibt Writing-Kurse. Warum ist das in Amerika wichtig? Weil es in der Tat die griechische Tradition fortführt. Das ist das Menschenbild, das Ideal, an dem es orientiert wird. Und da bekommt das Wort von Führungspersönlichkeit, von Leadership dann einen ganz neuen Sinn, nicht im Sinn eines autoritären Führers, sondern jemand, der selber auch begeistert und begeistern kann. Das, denke ich, ist ein großer Unterschied.
Wir waren beim Wort Menschenbild. Ich denke, der Hauptunterschied zwischen der deutschen und der amerikanischen Universität ist, dass sie beide ganz unterschiedliche Menschenbilder verkörpern und dass wir in Deutschland über diese Frage des unterschiedlichen Menschenbildes eigentlich gar nicht diskutieren. Übertragen wird nicht das, was im Wesen der amerikanischen Universität so exzellent ist, sondern das, was eigentlich nur die formale Struktur ist.
Jürgen Kaube: Ich glaube, ein Grund dafür, dass das vielleicht so ist, dass wir diese menschenbildnerische Funktion jahrzehntelang eigentlich dem Gymnasium zugewiesen haben und jahrelang in der Vorstellung gelebt haben, das Gymnasium leiste diese umfassende Allgemeinbildung, an die dann sofort - wenn man so will - wissenschaftlicher Unterricht oder Unterricht durch Wissenschaft anschließen kann. Da war vielleicht das amerikanische Bildungssystem realistischer oder erweist sich heute als realistischer, das man sagt, dieser Grad an Ausreifung ist mit 18 noch nicht der Fall. Ich bin nicht ganz sicher, ob man wirklich sagen kann, dass diese Begeisterung für Kognition, für Erkenntnis völlig gleich verteilt ist über diese ganzen Universitäten hinweg.
Man muss auch sagen, die Universitätsreform von Bologna versucht ja gerade Rhetorikkurse, Schreibkurse, Sozialkompetenzen - heute heißt das dann eben Schulung in Powerpoint. Dann ist man schon mal nicht so euphorisch in Bezug auf diese, wenn man so will, metawissenschaftlichen Fähigkeiten.
Ich glaube, die deutsche Universität leidet ein bisschen an dieser Vorstellung, dass sie in einer Institution, die relativ homogen ist, alle möglichen dieser Aspekte realisieren kann, während die Amerikaner doch stärker auf Differenzierung des Gesamtsystems und auch Differenzierung an einer Universität setzen. Es gibt an einer Universität Spitzenforschung und eine Hotelschule, wo die Leute zu guten Hotelmanagern ausgebildet werden. Das ist bei uns mit den Wissenschaftsidealen schwer zu begreifen, weil es keine Hotelwissenschaft gibt. Wir versuchen so ein bisschen das Unmögliche, im Rahmen einer sehr wissenschaftlichen Ausbildung gleichzeitig diese anderen Funktionen - Ausbildung für einen Beruf, Menschenbildung - irgendwie unterzubringen. Und dann wird das so ein merkwürdiger Kompromiss, den alle Beteiligten dann eigentlich nicht gut finden. Aber wir halten trotzdem daran fest, weil wir diese Differenzierung selber eigentlich nicht zulassen. Im Wettbewerb um die Exzellenz hieß es, das ist ein Wettbewerb, bei dem es nur Sieger gibt. Das wäre der erste Wettbewerb der Welt, würde wahrscheinlich ein Amerikaner sagen, bei dem es nur Sieger gibt und am Ende nicht starke Unterschiede. Wir sind so unterschiedsempfindlich in Deutschland.
Ulrich Schreiterer: Der letzte Punkt ist zweifellos sehr treffend, und zwar auch unterschiedlich beflissen im Blick auf - wenn Sie so wollen - Regularien. Das und das gehört nicht an diese Universität oder diese Hochschule. Hotelmanagement gehört nicht an eine Universität, sondern an eine Fachschule oder vielleicht Fachhochschule. Früher durften Ingenieure nicht promovieren. Erst 1900 nach riesigen Standeskämpfen mit der Universitätsmafia bekamen sie den Doktor, aber dann eben nicht mit dem Lateinischen, sondern mit dem Bindestrich - Dr. der Ingenieurwissenschaften, groß geschrieben. Solche Geschichten ziehen sich durch die ganze deutsche Universitätstradition, der Hochschultradition, wo es in Amerika doch einen Pragmatismus gibt, der sich wohltuend davon unterscheidet. Nämlich: Irgendwie passiert es. Irgendeine Einrichtung nimmt sich dieser Probleme an. Und man sieht gewissermaßen, was kommt am Ende dabei raus.
Lassen Sie mich noch ein Wort zum Menschenbild sagen: In Deutschland denkt man Erziehung oder Bildung oder Hochschule im Allgemeinen doch immer sehr stark in Techniken, in Modulen, in etwas, was zu managen ist, was man gewissermaßen in einem Lehrplan aufstellen kann. Die Diskussion und das Nachdenken über das, was da geschehen soll, welche Produkte man haben möchte, außer dass die beschäftigungsfähig sind, fällt etwas dabei hinten über.
Alexander Schuller: Wenn wir die beiden Universitätssysteme vergleichen, haben wir im amerikanischen System etwas - das haben Sie ja auch sehr schön betont in Ihrem Buch -, ein evolutionäres Konzept, ein Konzept, wo sich die Universitäten über die letzten 200 oder 150 Jahre ganz allmählich und in einer, wie wir uns alle offenbar einig sind, guten Richtung entwickelt haben. In Deutschland wird in einer geradezu hysterischen Weise ununterbrochen reformiert. Erste Metafrage: Warum wird eigentlich bei uns ununterbrochen reformiert? Warum wird alles umgestülpt? Was ist da geistesgeschichtlich oder ideologisch entstanden, dass es diese absolut verzweifelte Tendenz gibt, immer wieder was Neues zu machen? Und die Reformwelle läuft weiter und sie ist eigentlich, wenn ich das Fazit wagen darf, destruktiv. Alle Neuerungen zum Besseren sind eigentlich Neuerungen zum Schlechteren. Warum ist das so?
Jürgen Kaube: Der permanente Reformeifer setzt natürlich ein staatliches Universitätssystem voraus. Das Reformerische kommt einerseits ein bisschen durch den starken Staatsanteil und durch diese Gleichheitsvorstellung, die dahinter steckt.
Alexander Schuller: Warum will der Staat andauernd reformieren? Was kneift ihn denn?
Jürgen Kaube: Wir haben einerseits ein Regime von internationalen Vergleichen. Irgendwann gibt es ein Ungenügend und dann sagt man, wir möchten so werden wie andere - Schulen wie in Finnland, Universitäten wie in der Schweiz oder in den Vereinigten Staaten, obwohl die Schweiz oder die Vereinigten Staaten ganz unterschiedliche Universitäten haben. Und wir haben natürlich inzwischen auch, das muss man ja sagen, so was wie eine Reformklasse. Wir haben Hunderte von Leuten, die sich eigentlich nur noch damit beschäftigen, die Universität zu reformieren. Die Hochschulrektorenkonferenz hat da so einiges im Angebot an Dauerreformen. Es gibt ja nichts, was nicht umgedreht wird: die Semesterzeiten, die Gehälter hat der Staat reformiert, die Studiengänge, den Juniorprofessor, die Habilitationsordnung, die Gebühren - rein, raus, jetzt in Hessen z.B. Also, wir haben Leute, die eigentlich ihr Leben damit bestreiten, der Universität Reformen anzudienen, so eine Art Unternehmensberatung im universitären Bereich. Diese permanente Beunruhigung, die von diesen Dingen ausgeht, das gilt ja auch für die Schulen. Es gibt ja keinen Abitursjahrgang in Deutschland, der unter denselben Bedingungen Abitur macht wie die fünf Jahre vor ihm. Das hängt auch damit zusammen, dass wir ein ganzes Reformestablishment haben, das nach der Regel vorgeht: Nicht so, wie gerade eben!
Alexander Schuller: Ist das nicht ein wirklich bisher nicht dechiffrierbares destruktives Element, was da vorliegt? Es stellt sich als positiv dar, es hat auch durchaus positive Dimensionen, aber wenn ich das mit dem amerikanischen System vergleiche, mit der Behutsamkeit, mit der geändert wird - nur als ein Beispiel, das ich gut kenne: Das Kennedy-Institut in Harvard ist angegliedert worden, das ist ein Versuch, sozusagen die Verbindung zwischen Wissenschaft und Politik, Politikberatung meinetwegen, auch herzustellen. Andere Universitäten haben das auch gemacht. In Amerika geht es so. Bei uns geht es nicht so. Was ist eigentlich in Deutschland los, dass wir nur etwas Altes zerstören müssen, um was Neues zu machen oder es einfach bleiben lassen?
Ulrich Schreiterer: Ich bin mir nicht sicher, ob man in Deutschland im Dauerreformstress ist und man in Amerika zurückgelehnt den Dingen ihren Lauf lässt. Der Unterschied scheint mir wirklich das Draufgucken zu sein, nämlich hier dieses, was Kaube meinte, staatliche System, wo es dann immer darum geht, gleich einen Masterplan zu haben, so dass jedes Jahr eine neue Kuh durchs Dorf getrieben wird, und die Politisierung, die damit einher geht. Jede Reform ist ein politischer Streit, den es in dieser Form in Amerika nicht gibt. Sondern da gibt es sozusagen die Frage: Ist das zweckmäßig für diese Institution? Passt das zu der institutionellen Kultur? Wie würde sich dieser Laden verändern, wenn wir das so oder so machen? Müssen wir das vielleicht, weil das andere tun?
Wenn Sie sich anschauen, dass gerade die Eliteuniversitäten eifersüchtig darauf achten, was die anderen machten, und immer sehr schnell dabei sind das zu wiederholen. Was gerade in Harvard verkündet wurde, muss in Princeton dann auch gemacht werden. Also, da haben Sie eine dezentralisierte Gemengelage von Institutionen, die sich - über den Markt vermittelt - dann konkurrierend über Prestige, konkurrierend natürlich über Geld, aber nicht nur, dann ins Benehmen setzen und den Anforderungen stellen. Wohingegen Sie dann hier einmal den Generalkriegsmarschall haben und das dann als großes Projekt gemacht wird.
Es stimmt, dass diese Organe zugenommen haben, dass sich in Deutschland viele hauptberuflich mit Managementfragen, Reformfragen, professionelle Reformer beschäftigen. Nur, wenn Sie nach Amerika schauen, sehen Sie, dass das dort eine Lichtjahre weiter gegangene Entwicklung ist, dass beispielsweise die Positionen im Management der Hochschulen auf jeder Ebene um ein Vielfaches rascher gewachsen sind als die Positionen im akademischen Bereich. Nur es gibt nicht dieses aufgeregte Geschrei um die Reformen. Es gibt auch nicht diesen ideologischen Grabenkampf. Es ist entpolitisierter.
Alexander Schuller: Eine wesentliche Differenz zwischen der amerikanischen und der deutschen Universität. Die deutsche Universität ist politisch oder anpolitisiert. Die amerikanische Universität ist eigentlich völlig unpolitisch. Jeder einzelne Professor kann durchaus links, rechts oder ganz unpolitisch sein, die Studenten auch, aber die Universität als solche ist wirklich jenseits des politischen Raums. Das finde ich auch aus meiner Sicht ein großes Positivum. So habe ich auch Ihren Text verstanden.
Die deutsche Universität ist zumindest latent eine politische Einrichtung. Und die Frage ist, ob dieses Politische nicht mit diesem Reformwillen irgendwie doch verknüpft ist. Die Vorstellung, dass Bildung auch ein politischer Akt ist, da sehe ich einen Grund für diese Reformwütigkeit.
Jürgen Kaube: Das ist sicherlich richtig. Man muss nur sehen, dass - wenn man so ein dezentrales System haben will, das stärker über das Kopieren einzelner Organisationsmodelle, was machen die in Yale, was machen die in Princeton gerade - dieses Modell eben sehr marktförmig ist. Und die Preise sind ja erheblich, um nicht zu sagen erschreckend. Es gibt einen hohen Faktor von Ungleichheit. Es gibt eine riesige Debatte in Amerika über die Frage, wer studiert denn eigentlich noch in den guten Universitäten. Das wäre sicherlich dann die Zukunft, wenn wir auf so etwas umstellen würden. Denn wir wären dann die Paradoxie los, dass wir im Augenblick sagen, die Universitäten sollen autonom sein. Die Autonomiesemantik haben wir inzwischen, dieses Vokabular. Wir kombinieren es nur leider mit einer nach wie vor sehr homogenen Auffassung, weil eben so viel politisch auf dem Spiel steht, weil wir eben sagen, wir brauchen eine Studierquote von 60 %, es können gar nicht genug studieren, und gar nicht fragen, was sind denn das noch für Studien, wenn wir sie so ausdehnen, ohne dass wir die Mittel wesentlich erhöhen.
Alexander Schuller: Stichwort: Demokratisierung der Universität. Jeder soll studieren können. Das wird in Amerika völlig anders gehandhabt. Die Differenz ist nämlich, dass es auf Leistung und auf Qualität ankommt, in Deutschland eben nicht. In Amerika ist Leistung, auch wenn man demokratisierende Tendenzen fördert, ein wichtiges Kriterium. Und ich denke, eines der Dinge, die wir in Amerika erleben, ist, dass es eine sehr vorsichtige Repräsentanz von verschiedenen Minderheiten in den Universitäten gibt. In Amerika wird auch unter dem Diktum von Demokratisierung ausgewählt. Immer wieder sind Minderheiten, Mehrheiten, ist das politische Argument in der deutschen Diskussion ganz wichtig. Ich möchte eigentlich ganz gerne von Ihnen beiden hören: Was bewirkt das in der deutschen Universität und jeweils in der amerikanischen Universität?
Ulrich Schreiterer: Wir reden über sehr unterschiedliche Dinge, weil Demokratisierung in Deutschland immer aufgeladen ist mit Mitbestimmung von dieser oder jener Gruppe, die definiert ist mit bestimmten Inhalten, sozusagen herrschaftskritisch, einer bestimmten Provenienz. In Amerika kann man das nicht entdecken. Ein Punkt ist natürlich bei diesem System, dass es gewissermaßen zwei sehr schwer miteinander zu vereinbarende Prinzipien miteinander in Einklang bringen muss.
Auf der einen Seite jedem diesen Zugang zu eröffnen - jeder hat das Recht auf Bildung und Bildung ist etwas, was Opportunities liefert. Auf der anderen Seite wird dieses System auch gedacht, dass es dann gewissermaßen legitimerweise Positionen zuordnet. Denn wenn ich ein solches Bildungszertifikat habe, zeigt das, dass ich hard working, ehrgeizig, leistungsfähig bin.
Der neueste Trend dazu ist, von Diversity zu sprechen, das heißt, dass also auch Einrichtungen, die aufgrund ihrer Anforderungen an Studentenzulassungen tendenziell sozial homogen sind, sich bemühen müssen in ihrer Außendarstellung und um z.B. ihre Steuerprivilegien nicht zu verlieren, ein möglichst breites Spektrum von sozialen, ethnischen Gruppen an dieser Hochschule repräsentiert zu haben. Das funktioniert nicht immer gut. Es ist nicht etwa so, dass man gewissermaßen Quoten vorgeben würde, die dem Bevölkerungsquerschnitt entspricht.
Jürgen Kaube: Ein Unterschied, der hier auffällt, ist, dass es in Amerika offenbar um Zuteilung ethnischer, wenn nicht Quoten, so doch irgendwie Ausgleichsmaßnahmen geht. Das haben wir hier gar nicht. Wenn bei uns dieses Thema ansteht, dann wird davon gesprochen, wie viele Arbeiterkinder an den Universitäten sind und dass es zu wenig sind, gemessen am Bevölkerungsanteil. Das hat u.a. den Nachteil, dass es gar nicht so leicht festzustellen ist, was ein Arbeiterkind überhaupt ist. Das ist bei so ethnischen Zuschreibungen, von denen wir auch wissen, dass es Konstrukte sind, doch etwas leichter. Und man hat den Eindruck, dass das amerikanische System diese inklusive Tendenz eher dadurch realisiert, dass es sagt, jeder sollte irgendwo einen Studienplatz haben. Aber die Betonung liegt auf "irgendwo". Er sollte studiert haben, um ein Mensch im Vollsinne zu werden.
Es käme letztlich niemand auf die Idee, dass jeder einen Anspruch darauf hat, im Chicago College unterrichtet zu werden. Schon die Preise sorgen dafür, dass das nicht der Fall ist. Aber es gibt auch natürlich nicht diese merkwürdige Vorstellung, dass man lieber die Leistungskriterien an diese Wünschbarkeiten anpasst, als zu den Leuten sagt: Bitte, wenn du möchtest, mach diesen Test. Du kriegst auch ein Stipendium. Die Bemessungsgrenzen sind ja sehr großzügig, gerade von den absoluten Topp-Universitäten. Von Princeton habe ich gehört, 180.000 Dollar im Jahr. Wenn die Eltern das verdienen, dann fällt man ja auf die Stipendienseite, sofern man die Leistung erbringt bzw. die Begabung zeigt, interessant ist für die Universität.
Und das ist natürlich etwas, was wir wenig haben, diese Vorstellung, dass die Universität hergeht und sagt: Wer ist denn interessant für unsere Fächer? Und wer ist nicht interessant? Denn das ist ja die harte Seite davon. Und wenn das dann so ausgeht, dass Jugendliche aus Elternhäusern, bei denen schon Sozial- und Bildungskapital da ist, durch die Frage, wer ist denn interessant, begünstigt werden, dann gibt es in Amerika nicht so ein Geschrei. Es gibt eine Debatte, aber es gibt nicht so eine normative Empörung über diesen soziologisch eigentlich trivialen Tatbestand, dass natürlich Kinder aus Elternhäusern, die Bücher haben, eine größere Wahrscheinlichkeit haben, diese Begabungsgesichtspunkte zu realisieren als andere.
Ulrich Schreiterer: Das ist ein interessantes Stichwort, was ich kurz ergänzen möchte. Die Diskussion, die wir vorhin geführt hatten, war eine, die sich auf dieses Elitesegment beschränkt hat, nämlich: Wie differenziert ist es sozial dort oder ethnisch dort? Soziale Differenzierung spielt dort auch eine große Rolle, es geht allerdings nicht um den Status Arbeiter, Angestellte, Beamte, sondern wie viel Geld macht die Familie. Und da gibt’s sozusagen dann auch die Klassenlinien.
Der Punkt scheint mir noch mal zu sein, dass das ganze System so funktioniert, dass sich jede Einrichtung letztlich überlegen will, welche Art von Studenten möchte ich haben. Und es gibt eben solche, die - auch historisch herausgebildet - sich nur an schwarze Studenten, nur an Frauen, nur an solche aus No-Income-Familys, nur an asiatische Gruppen oder sonst wie wenden. In den umfassenden, breiter aufgestellten Hochschulen gilt das dann aber in ähnlicher Regel. Nämlich welche Mischung von Personen möchten wir haben? Was möchten wir mit denen machen?
Dann kommt es beispielsweise dazu, dass es eine Regel ist, dass Studienbewerber, die perfekte Zeugnisse, perfekte Testergebnisse haben, nicht zugelassen werden, selbst nicht am MIT, wo man das eher noch vermuten würde, weil es heißt, die passen hier nicht hin. Solche Nerds, also solche nicht besonders lebenserfahrenen Menschen möchten wir nicht. Wir möchten welche haben, die etwas beitragen können, die sich irgendwie umtun, die kregel sind und nicht nur in ihren Datenmengen vergraben. Das ist übrigens einer der Punkte, warum in den Bewerbungsunterlagen, die man einreichen muss, um ans College zu kommen, eigentlich bei fast allen Schulen und Hochschulen, also nicht nur den Topp 10, gefordert ist, dass man Essays schreibt, dass man irgendwo Motivationsschreiben macht oder irgendwo zeigt, dass man etwas anderes als nur die Schule gemacht hat und Interessen formuliert hat.
Meine Herren, unsere Zeit ist leider um, ich bedanke mich für die engagierten Diskussionsbeiträge bei Jürgen Kaube und bei Ulrich Schreiterer. Sein Buch "Traumfabrik Harvard" ist erschienen im Campus Verlag, Frankfurt. Das Buch von Käte Meyer-Drawe wurde verlegt bei Wilhelm Fink, Paderborn.