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Herfried Münkler und Wilhelm von Sternburg im Gespräch mit Michael Gerwarth |
Der Berliner Politologe Herfried Münkler stellte in dem Gespräch auf der Leipziger Buchmesse sein neues Werk "Die Deutschen und ihre Mythen" vor. Außerdem präsentierte der Schriftsteller Wilhelm von Sternburg seine Joseph-Roth-Biografie.
Deutschlandradio Kultur: Heute sind wir auf der Leipziger Buchmesse. Herzlich willkommen. Ich bin Michael Gerwarth. Meine Gäste sind Herfried Münkler, Politikwissenschaftler von der Berliner Humboldt-Universität und erfolgreicher Buchautor von heute schon Klassikern wie zum Beispiel "Imperien oder die neuen Kriege". Hier in Leipzig präsentiert er sein neues Buch "Die Deutschen und ihre Mythen". Hier in Leipzig hat er auch gerade den angesehenen Buchpreis bekommen. Herzlichen Glückwunsch noch mal und willkommen, Herr Münkler.

Und ich freue mich auf Wilhelm von Sternburg, Schriftsteller, Publizist, Drehbuchautor. Vor allem seine Biografien über Konrad Adenauer, Lion Feuchtwanger oder Arnold Zweig und Erich-Maria Remarque wurden von der Kritik und vom Publikum stark beachtet. Nun liegt sein neues Buch vor. Es ist eine - sag ich jetzt schon mal vorab - sehr packende Biographie über Joseph Roth. Herzlich willkommen, Herr von Sternburg.

Herr Münkler, da haben Sie sich ja wirklich ein brisantes Thema ausgedacht. Sie schreiben über die Deutschen und ihre Geschichte im Spiegel ihrer Mythen. Dabei holen Sie kühn alte Sagen ans Tageslicht, wie etwa die Nibelungen, besichtigen schicksalhafte Orte wie Weimar, Nürnberg oder den Rhein, und lassen auch historische Persönlichkeiten, wie Hermann den Cherusker, Friedrich den Großen oder den Papst auftreten. Selbst die D-Mark fehlt nicht in diesem Reigen. Sie wollen, wenn ich das mal zusammenfassen darf, zeigen, dass und wie Mythen unsere nationale Identität geformt haben, wo sie mobilisierend und motivierend wirken. Nennen Sie uns doch selbst mal ein wichtiges Beispiel, um das zu verdeutlichen.

Herfried Münkler: Nehmen wir Barbarossa. Das ist eine Erzählung, zunächst eine Sage, die ja sehr weit zurückgreift, die ein Wandermotiv aufgreift, nämlich von einer herausragenden Persönlichkeit, sie sei nicht wirklich gestorben - vivit et non vivit -, die also in einem Berg oder in einem Krater sitzt und irgendwann wieder kehrt und dann die Welt verändern und retten wird. Dieses Motiv verbindet sich, nachdem es zeitweilig mit dem zweiten Friedrich verbunden war, mit dem ersten Friedrich, also dem mit dem roten Barte.

Und man hat ihn allerorten gesichtet, in der Nähe von Salzburg, in der Nähe von Kaiserslautern, vor allen Dingen aber im Kyffhäuser. Und dort verbindet sich die Vorstellung, er wird wiederkehren und das Reich wieder errichten. Das ist der Anfang dieser Erzählung, die dann fort erzählt wird, entweder dass man sagt, man braucht keinen Kaiser, oder dass man sagt, wann kommt er denn endlich. So entsteht ein buntes Gemisch von Stimmen bis dann hin zu dem Endpunkt "Unternehmen Barbarossa", Angriff auf die Sowjetunion.

Deutschlandradio Kultur: Interessant wäre in diesem Zusammenhang aber zu fragen, wie Vorstellungen und Ideen die Massen ergreifen, um mal den bärtigen Philosophen aus Trier in den Zeugenstand zu rufen. Wann also wird eine Geschichte zum Mythos?

Herfried Münkler: Zum politischen Mythos oder gar zum Nationalmythos dann, wenn sie ihre lokale Beschränktheit überwindet, also nicht mehr nur in der Umgebung des Kyffhäusers aufscheint, wenn also beispielsweise die Brüder Grimm unterwegs sind und deutsche Sagen sammeln. Das ist ein Gesichtspunkt. Ein anderer Gesichtspunkt ist, wenn ein Literat daher kommt oder in diesem Fall ein Lyriker und die Sage in Gedichtform gießt, sodass es also in den Schulunterricht eingehen kann und die Jahrgangskohorten das lernen und sich damit herumschlagen müssen. Dann bekommt es eine Bedeutung im kollektiven Gedächtnis eines politischen Verbandes.

Deutschlandradio Kultur: Aber warum, Herr von Sternburg, sind Mythen eigentlich so vielschichtig erzählbar? Kann sich da jeder was raussuchen, was er gerne möchte?

Wilhelm von Sternburg: Ja, man muss natürlich erst mal fragen: Brauchen wir überhaupt Mythen? Meine Antwort wäre: na ja. Also, man muss sehr vorsichtig damit umgehen. Mythen sind bisher von den Historikern und von den Politikern - lassen Sie mich das mit der pauschalen Formulierung sagen -, von den Mächtigen ständig missbraucht worden zur Ideologie.

Eigentlich sind die meisten Mythen dann gefährlich geworden, wenn sie politisch-ideologisch besetzt worden sind. Viele schöne Beispiele, die Herr Münkler in seinem Buch bringt, zeigen in bestimmten historischen Momenten, welchen dramatisch negativen Einfluss diese Mythen auf das Denken einer Elite hat, nicht einer Gesamtgesellschaft - da wirken Mythen schon wieder anders -, aber einer Elite, also Siegfried, also Nibelungensage, also Barbarossa und das Reich zu einigen usw.

Er hat ja wunderbare Beispiele gebracht, auch kritische. Ich will das gar nicht mal etwa sagen, Herr Münkler wäre da in seinem Buch auf dem Wege, die Mythen zu feiern. Nein, aber man muss es vielleicht noch kritischer sagen. Man muss sagen: Mythen waren eigentlich der Bodensatz der Ideologen. Sie haben uns auf die Pfade geführt, die sie gerne wollten. Und damit wir auch wirklich diesen Pfaden folgten, haben sie uns die großen Mythen erzählt. Und die veränderten sich dann immer jeweils nach der historischen Situation, in der die Mythen wieder neu bewertet wurden.

Deutschlandradio Kultur: Das heißt also, Herr Münkler, in der deutschen Geschichte gingen Politik und Mythen Hand in Hand?

Herfried Münkler: Sie gingen zeitweilig Hand in Hand, wobei man sagen muss, dass dieser Überschuss an Mythen im 19. Jahrhundert natürlich auch eine kompensatorische Reaktion darauf war, dass die Deutschen keinen realen Nationalstaat hatten, ein bisschen neidisch nach Frankreich hinübergeschaut hatten. Die hatten nicht nur einen Nationalstaat, sondern hatten auch noch den großen Gründungsmythos der Französischen Revolution und des Sturms auf die Bastille. Und so sind also die deutschen Mythen von Barbarossa über Siegfried und Faust eingeschlossen gleichsam zu einem Stellvertreter der fehlenden Nationalstaatsbildung geworden.

Wilhelm von Sternburg: Aber, Herr Münkler, darf ich fragen: Was hat den Franzosen der Mythos der Französischen Revolution gebracht? Die Französische Revolution ist leider ganz anders verlaufen, wie das, was der Mythos dann aus dieser Revolution gemacht hat. Und wenn das deutsche 19. Jahrhundert so voller Neid auf den Nationalismus der Franzosen, den - wie die Deutschen meinten - gelungenen Nationalismus der Franzosen brachte, frage ich wieder: Was hat es den Deutschen gebracht? Was hat der Mythos den Franzosen gebracht? Haben beide sich nicht im Nationalismus verloren? Und dieser Nationalismus hatte seine Grundlage in den Mythen.

Herfried Münkler: Ja gut, wenn man vom Ende des 19. Jahrhunderts und insbesondere vom 1. Weltkrieg, als der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, her das betrachtet, dann mag das so ausschauen. Aber zunächst einmal geht es ja darum, einem politischen Verband, einer Nation Handlungsmächtigkeit zu erzählen, wobei die Mythen an die Stelle der Herrschermythen treten. Im 16., 17., auch 18. Jahrhundert ist der Mythos eigentlich etwas, was die Geschichte dieses Herrschergeschlechtes erzählt und was dann auch in den Schlossfassaden seinen Niederschlag findet.

Wilhelm von Sternburg: Weil es die Mythen brauchte, um zu herrschen.

Herfried Münkler: Das die Mythen brauchte, um zu herrschen. Und jetzt wird sozusagen der kollektive Körper durch die Erzählung versammelt und versammelt sich darunter.

Deutschlandradio Kultur: Dann würde ich es gerne noch mal anders fassen, Herr Münkler. "In politischen Mythen wird das Selbstbewusstsein eines politischen Verbandes zum Ausdruck gebracht", schreiben Sie. Da schimmert dann doch auch die bange Frage durch: Was hält denn eigentlich ein politisches Gemeinwesen auf Dauer zusammen, wenn es nicht auf ein abrufbares Reservoir an mythologischen Großerzählungen zurückgreifen kann, wenn man Ihnen folgt?

Herfried Münkler: Zunächst einmal, als Politikwissenschaftler würde ich sagen, ein Set von institutionellen Arrangements von der Verfassung bis über die entsprechend ausdifferenzierten Institutionen und, und, und. Nun geraten solche institutionellen Systeme aber gelegentlich in Krisen.
Und dann brauchen sie gewissermaßen einen Hintergrund, der Institutionen Transformation ermöglicht. In diesem Sinne beschreibe ich auch, wie der bundesdeutsche Gründungsmythos, also die Erzählung vom Wirtschaftswunder nach der vorangegangenen Währungsreform, eigentlich der glücklichste Mythos der deutschen Geschichte ist, insofern er dem damaligen Bundeskanzler Kohl das Zutrauen in seine eigene Handlungsmächtigkeit gibt, den Vereinigungsprozess managen zu können. Und genau nach diesem Fahrplan: Währungsunion, dann blühende Landschaften. Oskar Lafontaine steht dabei und rechnet und denkt eigentlich, es ist unbezahlbar.
Also, es gibt in der deutschen Geschichte, Herr von Sternburg, das nur noch als Anmerkung, nicht nur die verheerenden Geschichten, sondern es gibt auch ein paar Sachen, wo man sagen kann, das haben wir ganz gut gemacht.

Wilhelm von Sternburg: Weil Sie das Beispiel nennen, Frühgeschichte der Bundesrepublik: Ist der Mythos Soziale Marktwirtschaft wirklich nicht verhindernd gewesen? Haben wir nicht den Mythos soziale Marktwirtschaft geschaffen, um bestimmte strukturelle ökonomische, gesellschaftliche Momente zu verhindern - zum Beispiel Mitbestimmungsbewegungen etc., etc.? Ich frage das mehr. Ich weiß, dass das ein Mythos ist. Ich weiß auch, dass Adenauer ein Mythos geworden ist. Ich weiß auch, dass wir eine schöne Geschichte in der Bundesrepublik hatten. Aber vielleicht hätte sie ohne die Mythen auch ein Stück besser sein können.

Herfried Münkler: Vielleicht hätte sie auch schlechter sein können.

Wilhelm von Sternburg: Selbstverständlich. Aber vielleicht sind Mythen, darf ich es mal überspitzt sagen, nicht vielleicht gesellschaftliche Lügen?

Herfried Münkler: Ja, also, wenn Sie gewissermaßen Mythos als Gegenbegriff zu Tatsache oder Wahrheit konturieren, dann wird man immer sagen können, der Mythos entspricht nicht 100 Prozent dem, was die fleißigen Historiker dann rekonstruieren können. Aber der Mythos unterscheidet sich von der puren Beschreibung - sagen wir mal - der physischen Vorgänge zum Zeitpunkt X darin, dass er den Sinn eines Geschehens aufspürt oder hinein erzählt. Also, in diesem Sinne ist er immer ein Mehr und ein Bestätigen und etwas, was Zutrauen und Vertrauen schafft zu unserer Handlungsmächtigkeit.

Sie haben völlig recht, wenn Sie sagen, der Wirtschaftswundermythos war letzten Endes auch ein Instrument in den Händen der CDU. Die SPD hat darauf nie vergleichbaren politischen Zugriff gehabt und leidet bis zum heutigen Tag darunter. Na gut, das ist halt so. Das gehört gewissermaßen zum Feld, das wir zu beobachten haben.

Deutschlandradio Kultur: Herr Münkler, was Sie für die Bundesrepublik mit dem Wirtschaftswunder als Mythos herausgeholt haben, haben Sie für die DDR mit dem ‚antifaschistischen Schutzwall’ getan. Das eine oder andere Mal habe ich gelesen, gehört, das wäre recht kümmerlich. Was sagen Sie dazu?

Herfried Münkler: Was ich dargestellt habe oder was die DDR erzählt …

Deutschlandradio Kultur: Was die DDR-Erzählung betrifft.

Herfried Münkler: Ja gut, die DDR-Erzählung ist natürlich problematisch. Weil: So toll war der antifaschistische Widerstand in Deutschland ja bekanntlich nicht. Und auch die Selbstbefreiung des Konzentrationslagers Buchenwald, die innerhalb der Gründungsmythen der DDR eine ganz zentrale Rolle hat, ist ein von den Historikern inzwischen zerpflückter Vorgang von großer Bescheidenheit und auch von sehr egoistischem Parteiinteresse der KP-Funktionäre und derlei mehr. Das kann man alles sehen. Es ist halt seitens der DDR der Versuch gewesen, sich gewissermaßen den Schrecken der Kontingenz weg zu erzählen, der darin bestand, dass natürlich die Führung in Pankow zunächst immer denken musste: Ja, wenn den Herren im Kreml eine andere Idee kommt und sie wollen Deutschland lieber neutralisieren, dann sind wir weg.

Deutschlandradio Kultur: Aber noch mal zur Auswahl, Herr Münkler. Manch einer Ihrer Leser wird sich fragen: Fehlt da nicht was bei den Mythen, die die Nachkriegsgeschichte betreffen? Zum Beispiel ist mir aufgefallen: Die Geschichte der Bundesrepublik wird ja immer wieder thematisiert in jedem Film über das Dritte Reich mit einem Mythos, nämlich dem Mythos vom Führerbunker, von der Reichskanzlei. Absichtlich rausgelassen? Wenn ja, würde es mich sehr interessieren und unsere Hörer sicher auch, warum Sie das gemacht haben.

Herfried Münkler: Ja, Herr Gerwarth, der Führerbunker ist schon drin, und zwar in dem Teil über den Großen Friedrich. Da sitzt also Hitler unten drin.

Deutschlandradio Kultur: Das ist der Preußen-Mythos.

Herfried Münkler: Genau, und guckt immer wieder den Friedrich an und denkt an das Mirakel des Hauses Brandenburg und den Zerfall der Koalition. Also, ich würde sagen: Im Rahmen dessen, was ich als Anlage dieses Buches gewählt habe, nämlich die Narrativierung, ist der Führerbunker dabei. Ansonsten soll man den nicht überbewerten. Der Hitler hat ja nur ein paar Monate drin gesessen. Ansonsten war er ja in Rastenburg oder in Ziegenhain, also in seinen anderen Hauptquartieren. Okay, es ist der Schlusspunkt.

Deutschlandradio Kultur: Herr von Sternburg, fehlt Ihnen was?

Wilhelm von Sternburg: Ich wollte nur noch eine Ergänzung machen zu dem Mythos der DDR. Die haben ja verschiedene Mythen. Überhaupt, der Marxismus baute ja letztlich insgesamt auf einem Mythos auf. Wir haben natürlich genauso in der Bundesrepublik … Die einen haben gesagt, wir sind die Antifaschisten - Mythos DDR. Wir haben gesagt: Na ja, das war der Adolf Hitler, wir selbst konnten eigentlich gar nichts dafür, dass dieses Reich so schrecklich untergegangen ist und alle diese Dinge passiert sind. Wir haben den Mythos des Opfers sehr schnell in den Westrepubliken, in den alten Bundesländern aufgestellt.

Und wir haben lange gebraucht, bis wir diesen Mythos weggeschoben haben. Im Grunde war das Volk unschuldig im Dritten Reich. Im Grunde war es nur eine kleine Elite, am Ende nur Adolf Hitler. Verstehen Sie? Beide Staaten, beide Staaten - und gerade weil sie geteilte Staaten waren, gerade weil sie unbedingt eine Legitimation brauchten - haben sie natürlich besonders stark mit Mythen gearbeitet.

Herfried Münkler: Sie haben völlig recht. Es gehört auch der Mythos der sauberen Wehrmacht dazu, der sich ja lange durch die Geschichte der Bundesrepublik gezogen hat und eigentlich erst mit der Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht des Hamburger Instituts definitiv beendet worden ist.

Deutschlandradio Kultur: Sie sagen dann, stellen fest, Herr Münkler, dass Deutschland heute ein mythenarmes Land geworden ist. Ist das bedauerlich oder ist das ein Segen?

Herfried Münkler: Wenn man diese furchtbaren verhängnisvollen, Opfer kostenden Mythen der Vergangenheit nennt, ist das natürlich eher gut für uns. Wie soll ich sagen? Wer so mythisch infiziert war, wie Deutschland, muss eine zeitlang auf die Quarantänestation, wo es gar keine Mythen gibt.

Andererseits allerdings täte es unserem Land in der gegenwärtigen Situation ganz gut, wenn man solche sinnstiftenden Erzählungen hat. Wenn man sie nicht hat, ist man im Prinzip offen für den Einfluss anderer Länder. Also, die Gier, in der wir uns zurzeit an Barack Obama und einer bestimmten Form amerikanischer Heilsversprechen geradezu berauschen, bringt auch zum Ausdruck: Defizitanzeige bei uns.

Deutschlandradio Kultur: Auf der anderen Seite sprechen ja auch linke Intellektuelle inzwischen von einem "unverkrampften Umgang mit dem Patriotismus in Deutschland".

Wilhelm von Sternburg: Ja, gut, das ist ja auch ihr gutes Recht darüber zu reden. Ich meine, ich kann mit Begriffen wie Patriotismus etc. nicht viel anfangen. Ich meine, ich liebe meine Heimat, ich liebe meine Stadt, ich liebe meine Familie. Ob ich mein Vaterland nun so unbedingt patriotisch sehe … Wo haben denn die deutschen Eliten in den letzten fünf Jahren das Vaterland gesehen? Ich sehe eine Bankenkrise. Ich sehe dramatische Untergänge ökonomischer Art, die auf den Egoismus von einer ganz kleinen Ordnungselite dieses Staates aufgebaut hat. Und dann kommt der gleichzeitig am Sonntagmorgen im Fernsehen und sagt, ich soll patriotisch sein? Verstehen Sie? Ich sage noch mal: Ich liebe meine Heimat. Aber schon so Begriffe, "ich bin stolz" oder "ich muss deutsch sein" sind alles für mich so zutiefst fremde Formulierungen. Wissen Sie, ich will, dass die Arbeiter Arbeit haben. Ich will, dass die Studenten einen Job kriegen. Da bin ich patriotisch. Da will auch gerne für dieses Land kämpfen, aber doch nicht für irgendeinen Mythos, der wieder aufgebaut wird. Wir müssen irgendetwas doch machen, damit wieder die Werte in diesem Land wachsen etc. - halte ich für Quatsch.

Deutschlandradio Kultur: Stehen wir in dieser Frage völlig allein, Herr Münkler? Die anderen Länder, Frankreich, das Beispiel, wurde genannt, England, die USA, die können ja auf eine reichhaltige erfolgreiche Geschichte zurückgreifen. Wir haben keine Revolution vorzuweisen.

Herfried Münkler: Hätten wir eigentlich schon. Wir hätten die friedliche Revolution, die zum Ende der DDR geführt hat. Mit ihr aber hat sich die politische Elite der alten Bundesrepublik nicht sonderlich anfreunden können, jedenfalls nicht damit, den 9. November zum politischen Feiertag zu machen, und hat deswegen den 3. Oktober gewählt, wo sie sich selber feiern konnten. Das zeigt einmal mehr das Unglück der Deutschen im Umgang damit. Denn es gehört ja gewissermaßen auch zu den Misere-Erzählungen der Linken, dass die Revolution nie geklappt hat - 48 nicht, 18 nicht usw. Hier hätte man eine, die geklappt hat und die obendrein nicht mal einen Tropfen Blut gekostet hat. Das haben wir verschenkt. Also, sozusagen die fehlende Sensibilität dafür kostet dann auch was.

Deutschlandradio Kultur: "Die Deutschen und ihre Mythen" heißt das Buch von Herfried Münkler. Erschienen ist es im Rowohlt Verlag. Jetzt wollen wir sprechen über die Joseph-Roth-Biografie von Wilhelm von Sternburg.

Wilhelm von Sternburg: Einen Satz erlauben Sie mir doch noch, weil Sie eben gesagt haben, "die anderen Länder haben doch ihre Geschichte, auf die sie stolz zurückblicken". Glauben Sie, dass die Franzosen glücklich sind mit der Verdrängung ihrer Kolonialkriege, dass die Engländer keine Probleme haben, die Briten mit ihrer Kolonialgeschichte, mit den Massenmorden in Afrika oder in Indien? Ich glaube, gerade wenn man etwas in der Bundesrepublik alt in den Siebziger- und Achtzigerjahren gemacht hat, was uns tatsächlich mal ein Stück von anderen im positiven Sinne unterschieden hat, dann war es der Versuch, mit der eigenen Geschichte wirklich mit harter Aufklärung umzugehen. Das haben die Engländer, das haben die Amerikaner, das haben die Franzosen zum Teil noch ein gutes Stück vor sich.

Deutschlandradio Kultur: Jetzt sprechen wir aber tatsächlich über die Joseph-Roth-Biografie. Welch ein Leben, kann man da nur sagen, Herr von Sternburg, vom jüdischen Außenseiter aus Ostgalizien zum Wiener Studenten und Weltkriegssoldaten, vom Starjournalisten der Weimarer Republik und Reisereporter zum österreichischen Literaten mit Weltruhm - und dann als verlorener ärmlicher Trinker im Pariser Exil gestorben. 70 Jahre ist das nun her. Nach seinem Tod wollen Sie sein Leben jetzt noch mal erzählen. Ich habe vorhin schon gesagt, Sie haben eine Reihe von Biografien geschrieben. Was fasziniert Sie an Roth?

Wilhelm von Sternburg: Zunächst einmal haben sich fast alle meine Bücher mit dieser Zeit beschäftigt, mit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, vor allem natürlich auch mit Exilliteratur. Für mich war die Exilliteratur als junger Mensch immer das andere Deutschland. Das war die Literatur, in der ich immer so ein bisschen die Zeichen sah: Gott, wenn wir diesen Weg gegangen wären, er wäre vielleicht auch nicht der vollendete gewesen, aber vielleicht etwas glücklicher.
Joseph Roth, ich muss es zu meiner Schande gestehen, ist eigentlich erst mal eine Auftragsarbeit gewesen. Ein Verlag kam auf mich zu und hat mich gefragt nach einer Remarque-Biografie, die ich für den Verlag schrieb, ob ich nicht auch über Joseph Roth schriebe. Das habe ich gerne getan. Joseph Roth ist ein glänzender Romancier. Joseph Roth ist ein Starjournalist. Er ist ein brillanter Feuilletonist. Joseph Roth hat ein für den Biografen dramatisches Leben - Alkoholiker, Frau wahnsinnig, Vater wahnsinnig, Exilant, ein Bohemienleben. Der schrieb seine Romane und Artikel am Caféhaustisch. Er hatte Schnapsgläser vor sich stehen. Jeder Biograf wird natürlich sagen: Endlich kann ich ein Leben erzählen!

Deutschlandradio Kultur: Aber kaum ein Schriftsteller des 20. Jahrhunderts war auch so widersprüchlich wie Joseph Roth. Und er war souverän darin, seine Haltung ständig neu zu erfinden. Ist das ein Zeichen von Opportunismus? Bedeutet diese ständig veränderte Sichtweise das Fehlen - heute würden wir sagen - eines politischen Standpunkts? Was ist das?
Wilhelm von Sternburg: Nein. Seine Gegner werfen ihm natürlich in diesen Fragen einen gewissen Opportunismus vor. Ich finde, jeder Intellektuelle muss bereit sein, heute zu sagen, so habe ich gedacht. Morgen kommt die Gegenthese, und damit wird er sich auch beschäftigen. Und da kommt er auch manchmal zu anderen Schlüssen. Es gibt nicht ein Zu-Ende-Denken von irgendwelchen politischen, gesellschaftlichen oder literarischen Problemen.

Zweitens, wenn ich sagen darf, Joseph Roth ist selbstverständlich eine politisch zersplitterte Figur gewesen, erklärbar aus der Zeit. Für ihn war das existenzielle Erlebnis der Erste Weltkrieg. Er kam als liberaler Sozialist aus dem Ersten Weltkrieg. Er sah genau, wer daran schuld war, dass die "Urkatastrophe", wie Herr Münkler eben gesagt hat, stattgefunden hat. Er schrieb für die Kriegsversehrten in seinen Artikeln, für die Armen, für die Inflationsgeschädigten etc.

Deutschlandradio Kultur: Aber er sehnte sich auch nach dem Habsburger Reich zurück - viel später.

Wilhelm von Sternburg: Das ist auch ein kleiner Mythos über Joseph Roth, dass er nur mit dieser Nostalgie zurückgeblickt hätte auf das Habsburgreich. Sein bedeutendster Habsburgroman "Radetzkymarsch" ist voller kritischer Anmerkungen und voller spöttischer, ironischer Anmerkungen über ein untergehendes Reich. Er hat als Journalist Anfang der Zwanzigerjahre scharfe Kritik an der Politik des späten Habsburgstaates geführt.

Dann kam für ihn das große Erlebnis 33, das heißt, das Versagen der Weimarer Republik, das Versagen der westlichen Demokratien, Appeasement-Politik etc., das hat ihn fälschlicherweise dazu geführt, nicht mehr in den demokratischen Strukturen eine positive Entwicklung zu sehen, natürlich nicht in diktatorischen - er war von Anfang der Zwanzigerjahre ein scharfer Gegner des Nationalsozialismus -, sondern in der Monarchie.

Deutschlandradio Kultur: Parallel zur verstärkten Habsburgsehnsucht, Herr Sternburg, belegt Roth aber auch die intellektuelle Linke mit Spott. Er macht ihnen unfassbare Vorwürfe. Allen Ernstes gibt er Lion Feuchtwanger oder Arnold Zweig oder Carl von Ossietzky eine gewisse Mitschuld am Aufstieg des Nationalsozialismus. Wie kann man?

Wilhelm von Sternburg: Ja, das hat Herr Heiner Geißler auch mal in den Siebzigerjahren gemacht. Das ist natürlich nur zu erklären aus den scharfen Auseinandersetzungen, die in den Dreißigerjahren innerhalb des deutschen Exilkreises waren. Leider war es ja nicht so, dass die deutschen Intellektuellen aus dem Scheitern der Weimarer Republik unbedingt etwas gelernt haben. Sondern sie gingen ins Exil und ihre ideologischen Auseinandersetzungen - links, rechts, Kommunismus, Sozialismus – sie führten sie beinahe weiter genau in dem Stil. Roth griff die Linke sehr stark an. Der Grund ist einmal: Er ist scharf. Unter Alkohol hat er diese Artikel zum Teil geschrieben. Er war sehr emotional in diesen Fragen. Und er warf der Linken natürlich vor: Ihr streitet euch hier im Exil und seht nicht, wen ihr damit eigentlich fördert. Er hat sich da geirrt, Roth. Seine Kritik an Feuchtwanger, der im Übrigen genauso scharf Roth kritisiert hat, war sicher übertrieben.

Deutschlandradio Kultur: Herr Münkler, was haben Sie für ein Verhältnis zu Joseph Roth?

Herfried Münkler: Also, ich habe einige seiner Sachen gelesen. Das, was Herr von Sternburg eben sehr schön beschrieben hat, bringt ja auch zum Ausdruck die bittere Enttäuschung, die daraus erwächst, dass der Zerfall des Völkergefängnisses nicht dazu führt, dass auf seinem Gebiet florierende Demokratien entstehen. Sondern als das Ganze dann in die Krise gerät, sind das bis auf die Tschechoslowakei ja alles Diktaturen und diktaturähnliche Regime, sodass also in der Retrospektive gerade für jüdische Autoren eigentlich das Habsburger Reich ein Eldorado von Freiheit gewesen ist. Das muss man dazu sehen.

Wilhelm von Sternburg: Insbesondere auch für die jüdische Bevölkerung.

Herfried Münkler: Ja, natürlich.

Wilhelm von Sternburg: Roth hat das sehr stark empfunden, was auch nicht so ganz der Wirklichkeit entsprach, aber er sah zum Beispiel in seinem Kaiser Franz-Joseph einen Verteidiger der Habsburger Judenschaft. Das heißt, sein großer Gegner waren die Antisemiten. Er hat von Anfang an der Antisemitismus als eine zentrale Feindidee bei ihm da gewesen. Und in seinem Österreich, in der Erinnerung hatte er das Gefühl, was tatsächlich von Joseph II. bis zum letzten Habsburger ging, dass es den Juden in Österreich besser ging als beispielsweise in Russland oder in Polen …

Herfried Münkler: Das mag ja auch richtig gewesen sein.

Deutschlandradio Kultur: Das mag für Sie vielleicht nur eine Kleinigkeit gewesen sein, aber in Ihrem Buch fand ich es nicht nur nachdenkenswert, sondern auch sehr pessimistisch. Er ruft ja Heinrich von Kleist auf, wenn er die Ausdrucksmöglichkeiten der Sprache beklagt. "Die Sprache", schreibt er, "tauge nicht als Mittel zur Verständigung, weil sie die Seele nicht malen könne. Sie gebe nur zerrissene Bruchstücke wieder" - erstaunlich pessimistisch für einen Literaten, dessen Handwerkszeug doch die Sprache ist.

Wilhelm von Sternburg: Joseph Roth war einfach ein zutiefst gespaltener Mensch. Die letzten Jahre sind einfach geprägt durch die Tragödie der Politik, die er so als Tragödie empfand, durch den Wahnsinn seiner Frau, wo er ein ungeheures Schuldbewusstsein hatte, und von der Alkoholikerkarriere. Dieser Mann schrieb seine Briefe - und viele Formulierungen dieser Art finden wir auch in seinen Briefen eben - immer sehr stark unter dem Rausch. Und in diesem Rausch hat er sich zu Formulierungen hinreißen lassen, die zwar für den Biografen wunderbar sind, aber die ihn natürlich doch auch wieder nicht realistisch zeigen.

Er war am Ende seines Lebens, die letzten zehn Jahre ein tiefer Kulturpessimist. Er glaubte, Amerika, die westlichen Demokratien, der Fortschritt, die Aufklärung, die Technologie, Flugzeuge, Hollywood-Filme, das ist das Ende der Welt. Da kommt der Antichrist, der das alles bringt. Das sind mythische Vorstellungen, die er da zum Teil auch vertritt. Und ich glaube, dieser Kulturpessimismus, der ja nicht nur bei Roth zu erkennen war in diesen Dreißigerjahren verständlicherweise, der hat ihn häufig verzweifeln lassen, letztlich auch an Sprache.

Deutschlandradio Kultur: Kulturpessimismus als Mythos, Herr Münkler?

Herfried Münkler: Ja, ich meine, die Betrachtung der Geschichte als die Geschichte eines Verfalls ist eine mythische Konstruktion, genauso wie die bedingungslose Aufbügelung des geschichtlichen Verlaufs auf die Idee des Fortschritts - auch das ein Mythos. Würde heißen: Wir kommen gewissermaßen aus diesen vereinfachenden Schematisierungen letzten Endes doch nicht raus, wenn wir uns nicht gewissermaßen im Mosaik der Einzelheiten verlieren wollen.

Deutschlandradio Kultur: Zu dieser Sendung gehört auch wie immer eine Buchempfehlung. Herr Münkler, was legen Sie uns ans Herz?

Herfried Münkler: Philip Gourevitch, "Abu Ghraib", in der Hamburger Edition erschienen.

Deutschlandradio Kultur: Ein paar Worte dazu noch?

Herfried Münkler: Es ist eine Analyse der Entwicklungen, die die Amerikaner zum Scheitern ihrer Irak-Politik gebracht haben und die in dem Gefängnis von Abu Ghraib und insbesondere in diesem Kapuzenmann ja gleichsam zur Ikone, auch zu einer bildlichen Verdichtung ihres Scheiterns geworden ist, eine sehr sorgfältige Analyse, auch sehr fair gegenüber den einfachen kleinen Gefreiten und Soldaten, die dann in Abu Ghraib gewissermaßen zu den Helfershelfern der Politik geworden sind.

Deutschlandradio Kultur: Herr von Sternburg, Sie haben auch einen Buchtipp.

Wilhelm von Sternburg: Natürlich Joseph Roth, der wunderbare, der größte seiner Romane: "Hiob", die Geschichte eines Juden aus der osteuropäischen Welt, der hinüber geht nach Amerika, der mit seinem Gott hadert, dessen Familie zerbricht – und der das Hohelied Joseph Roths, einmal auf das Ostjudentum, zweimal auf das menschliche Leben und zum Dritten auf das Scheitern, das wir alle erleben müssen, zurückgeht - ein wunderbarer Roman.

Deutschlandradio Kultur: Meine Damen und Herren, die Zeit ist leider um. Das war Lesart Spezial von der Leipziger Buchmesse. Meine Gäste waren Herfried Münkler mit seinem Buch "Die Deutschen und ihre Mythen", erschienen im Rowohlt Verlag, und Wilhelm von Sternburg, der seine "Joseph-Roth-Biographie" vorstellte. Kiepenheuer & Witsch ist der Verlag.
Ich bin Michael Gerwarth, danke für Ihr Interesse an dieser Sendung, und wünsche ein schönes Wochenende.