Jean Malaquais: "Planet ohne Visum"

Ein legendärer Fluchthelfer als literarische Figur

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Das Cover des Buches von Jean Malaquais, "Planet ohne Visum". Es zeigt ein coloriertes Schwarz-weiß-Fotos eines Hafens, darüber stehen der Name des Autors und der Titel.
© Edition Nautilius

Jean Malaquais

Aus dem Französischen von Nadine Püschel

Planet ohne VisumEdition Nautilius, Hamburg 2022

661 Seiten

32,00 Euro

Von Marko Martin · 25.10.2022
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Marseille Anfang der Vierzigerjahre: Hier spielt Jean Malaquais´ packender Flucht- und Exilroman „Planet ohne Visum“. Ein literarisches Ereignis, gefeiert als Jahrhundertwerk. Nun gibt es ihn endlich auch auf Deutsch - 75 Jahre nach dem Erscheinen.
Anfang der Vierzigerjahre war Marseille ein bedrohtes Refugium zahlloser Emigranten – auf der Flucht vor den vorrückenden Nazi-Truppen.
Nach dem deutschen Sieg über Frankreich befand sich die Hafenstadt ab 1940 für zwei Jahre in der sogenannten „freien Zone“, ehe dann auch dort die Okkupanten einmarschierten. Bereits zuvor aber waren viele Flüchtlinge der Miliz des kollaborierenden Vichy-Regimes ins Netz gegangen, wurden in das berüchtigte Lager Les Milles gepfercht und danach der Gestapo ausgeliefert.
In den Romanen und Zeitzeugenberichten des 20. Jahrhunderts nimmt Marseille eine eminent wichtige Rolle ein. Hatte man deshalb gemeint, über diese Jahre und diesen Ort schon beinahe alles zu wissen – aus den autobiografischen Büchern von Alfred Döblin, Arthur Koestler und Hans Sahl? Aus der Fluchtgeschichte Georg Stefan Trollers, aus Anna Seghers' berühmtem Roman „Transit“ oder aus „Auslieferung auf Verlangen“, dem packenden Bericht des amerikanischen Fluchthelfers Varian Fry?

In Warschau geboren

Nun ist – 75 Jahre nach seinem Erscheinen – mit dem über sechshundertseitigen „Planet ohne Visum“ ein beeindruckender Flucht- und Exilroman erschienen: Er ist beileibe kein Appendix zu einer vermeintlich längst bekannten Geschichte, sondern ein literarisches Ereignis.
Geschrieben hat den Roman Jean Malaquais, der 1908 als Wladimir Malacki in einer jüdischen Familie in Warschau geboren wurde, der mit 17 Jahren auswanderte und durch die Welt zog, ehe er schließlich in Frankreich heimisch wurde – literarisch gefördert von keinem Geringeren als André Gide.
Als unorthodoxer Linker musste Malaquais ab 1940 in den Untergrund gehen und floh drei Jahre später via Marseille nach Venezuela und Mexiko. Während dieser Zeit schrieb er an seinem Panorama-Roman.

Geniale Übersetzung

Seltsam, dass dieses Jahrhundertbuch, das schließlich 1947 in Paris veröffentlicht wurde, erst jetzt auf Deutsch erscheint – und das nicht etwa in einem der großen Verlagshäuser, sondern in der Hamburger Edition Nautilus.
Umso größer die Lesefreude, mit welcher Sorgfalt die Übersetzerin Nadine Püschel, die auch das kenntnisreiche Nachwort beigesteuert hat, Malaquais' rasant wechselnde Tonlagen, sein Changieren zwischen Novelle und Reportage, Essay und stream of consciousness, Chronik, Dialogen und einem gleichsam literarisierten film noir aus dem Französischen übertragen hat.
Der legendäre Fluchthelfer Varian Fry ist bei Jean Malaquais zur literarischen Figur geworden: Als Aldous J. Smith, der in seinem Büro bis an den Rand des psychischen und körperlichen Zusammenbruchs versucht, so viele Arbeitsbescheinigungen, Visa, Affidavits und Schiffspassagen wie möglich zu besorgen, um Menschen zu retten.

Konkurrenz für Anna Seghers

Einer von ihnen war der berühmte russische Revolutionär, Gulag-Überlebende und Romancier Victor Serge, der hier im Buch Ivan Stépanoff heißt; unter anderen Namen taucht in der Handlung auch André Gide auf.
„Planet ohne Visum“ ist indessen keineswegs ein Schlüssel- oder Thesenroman, der heute lediglich Experten verständlich wäre. Im Gegenteil: Von den mitunter heftigen Wortwechseln dieser höchst gefährdeten und doch innerlich freien Männer und Frauen lesend, dämmert einem langsam die Erkenntnis, dass Anna Seghers' bis dato als der Exilroman betrachtete „Transit“ gleichsam wie mit angezogener Handbremse geschrieben war – politisch, aber auch literarisch.
Denn über welche Menschenkenntnis und Stilmittel verfügt dieser in Warschau geborene Autor; wie tief und niemals didaktisch gräbt er sich in die Seele kollaborierender französischer Provinz-Notablen und diabolischer Kommissare; wie prägnant ist das seelisch Verkantete deutscher Offiziere beschrieben? Wie lebendig die Dialoge, wie plausibel die Verfolgungsjagden durch die Gassen eines atmosphärisch dichten Marseille und wie psychologisch nuanciert auch die inneren Konflikte seiner zahlreichen Helden und Heldinnen – Menschen, die man nach der Lektüre nie wieder vergessen wird.
Es ist, als hätten Döblins „Berlin Alexanderplatz“ und John Dos Passos' „Manhattan Transfer“ längst ein ebenso herausragendes Pendant. Höchste Zeit, „Planet ohne Visum“ nun auch hierzulande zu entdecken.

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