Les Murray ist tot

Australien verliert seinen bedeutendsten Dichter

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Schriftstellerportrait Leslie Allan Murray, australischer Dichter und Literaturkritiker. Foto vom 08.05.2012 in der Literaturwerkstatt Berlin
Autor betörend schöner und feinfühliger Verse: der verstorbene Dichter Les Murray (1938 - 2019) © imago / gezett
Von Tobias Wenzel · 30.04.2019
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Les Murray war neben Derek Walcott und Seamus Heaney der wichtigste zeitgenössische Dichter der englischsprachigen Welt. Jahrelang zählte er zum Kreis der Favoriten für den Literaturnobelpreis. Am 29. April starb Murray im Alter von 80 Jahren.
"Prosa ist Schwerstarbeit, Dichtung nicht, Dichtung ist Singen", sagte der australische Schriftsteller Les Murray bei einem Besuch in Berlin im Jahr 2011, als sein Lyrikband "Größer im Liegen" gerade auf Deutsch erschienen war. Leise Töne schlug der sehr beleibte Les Murray in seinen letzten Gedichten an, in wundervoll melodiösen Versen:
Wollhaargras
Einfach wie Flechtwerk fast das ganze Jahr
erwacht dieses zerzauste Gras im Oktober
entlang den Landstraßen in einer Wolke von
Sagoblüten, von rötlich-braunen Knoten
geknüpft in einem formlos wolligen Plasma
doch bring das Gespinst vor die Sonne
und es entflammt rosé geschliffene
Kelche und Krüge. In Gottes Namen
flüssiger Opal von einem Parallelufer,
blendender Tau zu jeder Tageszeit.

"Die Frauen haben bessere Nasen als ich"

Gott - hier und da ließ der Katholik Murray ihn auch in seine Verse hinein. Allerdings dezent und unaufdringlich. Als Erklärung für die unfassbare Schönheit der Natur. Oder, wie im Gedicht "Die letzte Begrüßung", um seinen verstorbenen Vater vor atheistischen Bekehrern in Schutz zu nehmen. In fast allen seinen Gedichten ist das lyrische Ich mit Les Murray gleichzusetzen. Was er dichtend beschrieb, hatte er selbst erlebt oder erfahren: die komische Bemerkung eines autistischen Jungen ebenso wie den Selbstmord einer Kollegin seiner Frau oder die Klänge, Farben und, wenn auch eingeschränkt, die Gerüche der Natur, der Umwelt.
"Die Frauen haben bessere Nasen als ich", stellte er fest. "Meine Frau schnüffelt, was ich zum Mittagessen gehabt habe. Ein Sinn, dessen ich mächtig bin, ist das Gehör. Die Hörwelt ist in ihrer Art und Weise bunt. Und die Sichtwelt. Aber meine Geruchswelt ist begrenzt."

Immer wieder wurde Murray von Depressionen heimgesucht

Les Murray wurde 1938 in der australischen Kleinstadt Nabiac geboren und wuchs auf einem nicht weit entfernten Bauernhof auf - in einer Gegend, in der seit dem 19. Jahrhundert auch deutsche Auswanderer leben. Das stellte sich 1998 als gute Voraussetzung für "Fredy Neptune" heraus, Les Murrays von der Kritik gefeiertes Versepos über einen Australier deutscher Herkunft. 1957 ging Les Murray nach Sydney, um dort moderne Sprachen, darunter Deutsch, zu studieren. Während des Studiums, das er nie abschloss, nahm er sich eine Auszeit, verkaufte alles, was er besaß, um als Tramper Australien zu erkunden. Wie in Trance sei er herumgereist, sei schließlich weltfremd nach Sydney zurückgekehrt und dann in der Zivilisation depressiv geworden. Mit seiner Depression setzte sich Les Murray in dem 2011 erschienenen Sachbuch "Killing the Black Dog" auseinander. Mit 49 Jahren dann, er war längst ein angesehener Dichter, kehrte er aufs Land zurück, um sich um seinen sterbenden Vater zu kümmern. Die Folge: Les Murrays schwerste Depression.
"Komischerweise, wenn man zurück geht an einen Ort, wartet da etwas auf einen, und es ist gewöhnlich das Verrücktwerden, mit Depression. Meine Dämonen warteten auf mich in dem Landstück. Und ich musste eine Abrechnung mit denen erreichen. Und die Dämonen sind kühne Geschöpfe, aber die sagen einem nicht, wo der Hund begraben liegt: 'Wo ist mein Hund begraben?' - 'Nein! Wir wissen das. Das musst du aber selbst rausfinden!'"

Ruhm war ihm nicht geheuer

Klagende Gedichte entstanden in dieser Zeit. Von Tragik bis Komik, von feinen Beobachtungen bis lautmalerischen Spielereien reichten Les Murrays Verse. Seit der schweren Depression fehlte dem Australier die Kraft für Prosa. Davor hatte er noch einen Roman und auch längere Prosatexte veröffentlicht. Aber für weltweites Ansehen hatten immer seine geschmeidigen Verse gesorgt. Prosa sei ohnehin nur Journalismus, die wahre Kunst sei die Lyrik, sagte Les Murray einmal. Mit dieser oder ähnlichen Äußerungen konnte er Menschen genauso vor den Kopf stoßen wie mit seiner launischen Art. So fiel es manchmal schwer, den mitunter mürrischen Autor mit seinen feinfühligen, betörend schönen Versen zusammenzubringen. Murray hingegen fiel es umso leichter, den Glauben und die Dichtung, seine zwei Leidenschaften, in einem Epigramm zu vereinen:
Spiritualität?
schnaubte sie. Und Poesie?
Die sind wie Gelb und Gold.
Unruhig wurde Les Murray, wenn man ihn daran erinnerte, dass er bald den Literaturnobelpreis erhalten könnte. Denn der damit verbundene Ruhm oder, wie er sagte: "fame", war ihm nicht geheuer: "Wenn man so ein halbautistisches Einzelkind ist, dann ist 'fame' eine Drohung. Aber ohne 'fame' wäre es ja noch schlimmer."
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