Lene Albrecht: "Wir, im Fenster"

Zerplatzte Träume zweier ungleicher Mädchen

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Cover des Buchs "Wir, im Fenster" von Lene Albrecht vor einem Aquarellhintergrund mit Orange.
In Lene Albrechts erstem Roman erinnert sich eine junge Frau an eine Mädchenfreundschaft. © Aufbau Verlag / Deutschlandradio
Von Anne Kohlick · 11.10.2019
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In "Wir, im Fenster" erzählt Debütantin Lene Albrecht von der Freundschaft zweier Mädchen unterschiedlicher Herkunft in Berlin Anfang der 90er-Jahre. Ein Coming-of-Age-Roman mit eindringlichen Bildern - und Anklängen an einen Ferrante-Bestseller.
"S.O.S." schreibt Laila ans Fenster – mit dem pflaumenfarbenen Lippenstift ihrer Großmutter, aus Spaß, auch wenn sie weiß, dass sie dafür Ärger bekommen wird. Neben dem dunkelhaarigen Mädchen steht ihre beste Freundin Linn und schaut hinaus auf die Straßen von Berlin-Kreuzberg Anfang der 90er-Jahre. Ob jetzt jemand kommt und uns mitnimmt?, fragen sich die beiden. Und wenn ja, wohin?
In ihrem Debütroman "Wir, im Fenster" erzählt Lene Albrecht, Jahrgang 1986, Absolventin des Leipziger Literaturinstituts, von zwei ungleichen Freundinnen, die beide am Gleisdreieckpark aufwachsen: von Laila, die bei ihrer türkischen Oma lebt, und der blonden Linn. Deren Eltern haben sie extra in einen anderen Berliner Bezirk umgemeldet, bevor sie in die Schule kam – "damit du nicht mit den ganzen Assis wie mir in einer Klasse festsitzt", ist sich Laila sicher.
An diese Freundschaft erinnert sich Ich-Erzählerin Linn mit Anfang 30: Gerade ist sie in eins der neuen Häuser gezogen, die rund um den Gleisdreieckpark seit den Nuller-Jahren aus dem Boden schießen. Laila ist da schon lange aus ihrem Leben verschwunden, obwohl die beiden als Kinder unzertrennlich waren. Eine schmerzhafte Leerstelle, die aufreißt, als Linn am Anfang des Romans zwei Mädchen in der U-Bahn sieht: Sie lassen eine Flasche Limo von Mund zu Mund wandern, spielen mit dem Haar der anderen, als wäre es das eigene. Auf einmal ist Laila wieder in Linns Kopf und setzt sich dort fest.

Kluges Buch über unsere Erinnerung

Was die Freundinnen verband und später auseinandertreibt, davon erzählt Lene Albrecht in bruchstückhaften Flashbacks. Permanent wechselt die Geschichte zwischen der Gegenwart und verschiedenen Zeitpunkten in der Vergangenheit. Für Linns Erinnerungen findet die Autorin eindringliche Bilder, die sie detailreich, aber ohne jeden Schnörkel schildert: Zwei Mädchen, die sich wegträumen aus ihrem Kiez, in dem die Prostituierten und Zuhälter der Kurfürstenstraße nicht weit sind und die Junkies im Park noch näher – weit weg, in ein Haus am Meer, wo sie als Erwachsene zusammen wohnen wollen.
Warum sind diese Träume zerplatzt? Lailas Abwesenheit verleiht dem Roman von Anfang an Spannung. Was ist aus ihr geworden? Kann und will Linn sie wiederfinden? Das Szenario erinnert an den ersten Band von Elena Ferrantes Bestseller-Reihe um Lila und Lenù, "Meine geniale Freundin". Auch hier verschwindet die beste Freundin der Ich-Erzählerin am Anfang des Romans, es geht um zwei Mädchen mit ungleichen Chancen und familiärem Hintergrund.
Wie Ferrante gelingt es Lene Albrecht, ihren Hauptfiguren ganz nah zu kommen. Sie schildert Freundschaft mit beeindruckender Intensität in diesem Coming-of-Age-Roman. "Wir, im Fenster" erzählt von der Pubertät, dem Entdecken des eigenen Körpers, der mitunter fatalen Dynamik in Teenager-Cliquen, davon, wie Familien auseinanderbrechen und sich Berlins Mitte seit der Wende verändert hat. Vor allem aber ist es ein kluges Buch über unsere Erinnerung – ein Fenster in die Vergangenheit, das immer nur einen Ausschnitt des Ganzen zeigt. Das Meiste bleibt verborgen.

Lene Albrecht: "Wir, im Fenster"
Aufbau Verlag, Berlin 2019
223 Seiten, 20 Euro

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