Leitlinien in der Medizin

Goldstandard oder Goldesel?

30:00 Minuten
Illustration: Gesundheitspersonal im Krankenhaus. In den Köpfen der Ärzte stehen Zahlen und Kurven.
Leitlinien geben behandelnden Ärztinnen und Ärzten eine Orientierung. © imago / Ikon Images / Josh McKible
Von Hellmuth Nordwig  · 16.12.2021
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Ärztinnen und Ärzte sind frei in ihrer therapeutischen Entscheidung. Um eine optimale Behandlung sicherzustellen, orientieren sie sich dabei aber häufig an Leitlinien. Doch sind diese wirklich neutral und unabhängig von wirtschaftlichen Interessen?
"Gerade vor einer Stunde: Ein Patient saß hier mit einer Frage, die ich ad hoc nicht beantworten konnte. Ich werde das mit einem Kollegen besprechen, der da Expertise hat, aber ich habe auch schon die Leitlinie zurate gezogen. Und das ist etwas, was die meisten Ärzte mehrmals pro Woche machen", sagt der Neurologe Thomas Lempert.
"Es wird fast nicht möglich sein, eine Leitlinie zu erstellen mit Experten aus dem jeweiligen Fachgebiet, ohne dass man da viele Autoren findet, die Gelder der Pharmaindustrie bekommen haben", sagt der Allgemeinmediziner Thomas Rosemann.
"Nicht unter Neurologen generell, würde ich sagen. Aber im Bereich der MS-Immuntherapie sind es gerade die Experten, die eng mit der pharmazeutischen Industrie zusammengearbeitet haben“, sagt die Patientin Jutta Scheiderbauer.

Leitlinien-Diskurs beim jährlichen Kongress

Der 4. November 2021 ist ein düsterer Tag in Berlin, es regnet in Strömen. In einem Betonwürfel namens City Cube haben sich auf dem Messegelände trotz der Pandemie einige Neurologinnen und Neurologen versammelt. Eigentlich wäre gerade ihr jährlicher Kongress.
Nun dürfen nur die Vortragenden da sein – das soll den Zuschauern draußen wenigstens ein bisschen Kongressatmosphäre vermitteln. Eine der parallel laufenden Veranstaltungen ist an diesem Vormittag besonders gefragt.
Bernhard Hemmer ist aus München angereist. "Es geht um die Multiple Sklerose, es geht um die Leitlinie MS. Ich glaube, es ist ein wichtiges Symposium. Es ist auch wichtig, dass wir hier den Diskurs über die Leitlinie führen. Ich habe die Leitlinie koordiniert und werde deshalb heute die Frage adressieren: Warum so und warum nicht anders?“
Blick auf den CityCube der Messe Berlin
Trotz der Pandemie haben sich einige Neurologinnen und Neurologen im Berliner CityCube versammelt.© picture alliance / Eventpress Radke
Der Professor für Neurologie an der TU München stellt ein kontrovers diskutiertes Thema vor: Wie soll die Multiple Sklerose, kurz MS, am besten behandelt werden? So etwas wird in vielen Gebieten der Medizin in sogenannten Leitlinien niedergeschrieben. Über die Multiple Sklerose gab es schon eine; sie ist jetzt völlig überarbeitet und gerade neu veröffentlicht worden.

Aus der Leitlinie "Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose:
"Die Multiple Sklerose ist mit mehr als 250.000 Erkrankten in Deutschland die häufigste chronisch-entzündliche (...) Erkrankung des Zentralnervensystems junger Menschen. Eine Aktualisierung der 2012 erstellten (...) Leitlinie ist notwendig geworden, um die in den letzten Jahren aus intensiver Forschung und Entwicklung gewonnenen neuen Erkenntnisse und Therapiemöglichkeiten zu bewerten. (...) Die Diagnose und Therapie der MS und ihrer verwandten Erkrankungen braucht Entscheidungen, die von Therapeuten und Betroffenen gemeinsam gestaltet werden sollen. Um der Perspektive der Patienten mehr Gewicht zu verleihen, haben erstmals auch Betroffene an der Entstehung und Ausarbeitung dieser Leitlinie mitgearbeitet."

Grundsätze für eine gute Leitlinie

"Einer der zentralen Punkte war die Frage: Wie ist eigentlich die Leitlinienkommission zusammengestellt worden? Warum nahmen an der Erstellung der Leitlinie Betroffene und Vertreter nicht-neurologischer Fachgruppen teil? Und warum fehlen hier viele MS-Experten aus Deutschland? Und die Antwort findet man, wenn man sich die Grundsätze anschaut, was eine gute Leitlinie ausmacht", erklärt Bernhard Hemmer.
Genau diese Frage beschäftigt nicht nur die Neurologen. Denn die meisten Ärztinnen und Ärzte greifen auf Leitlinien zu. Es bleibt ihnen gar nichts anderes übrig, sagt Thomas Rosemann. Er ist Allgemeinmediziner und Direktor des Instituts für Hausarztmedizin an der Universität Zürich.
„Einer der Hauptgründe ist, dass die Fülle an medizinischem Wissen einfach so rapide zugenommen hat, dass sie eigentlich fast unüberblickbar geworden ist“, sagt er. „Die Hausärzte decken ja das gesamte medizinische Spektrum ab. Darum brauchen gerade die Hausärztinnen und Hausärzte eine Zusammenfassung der Erkenntnisse – und das leisten ja Leitlinien im Wesentlichen auch."
Etwa 750 dieser Empfehlungen haben Fachleute zusammengestellt - von A wie Adipositas, B wie Brennen beim Wasserlassen, über Hörsturz, Kreuzschmerzen, Müdigkeit bis Z wie Zysten der Nieren.
Sie sind im Internet veröffentlicht: auf der Website der AWMF, der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften. Es ist aber nicht so, sagt deren Leiterin Ina Kopp, dass Ärztinnen und Ärzte den Leitlinien einfach blind folgen sollen.
"Menschen kann man nicht standardisieren, Menschen haben individuelle Bedürfnisse und auch Hintergründe. Deshalb muss immer geschaut werden, ob eine Leitlinienempfehlung auf den Einzelfall passt“, sagt sie. „Und im Zweifel vor Gericht muss ein Gutachter entscheiden, ob die Anwendung im Einzelfall sinnvoll oder nicht sinnvoll gewesen wäre."

Orientierung statt strikte Vorgaben

Leitlinien sind also keine strikten Vorgaben, sondern eher Orientierungsplanken, zwischen denen sich die richtige Therapie bewegen sollte. Doch dazu müssen diese Empfehlungen zuverlässig sein. Und damit kommen wir zurück auf die Frage des Neurologen Bernhard Hemmer auf dem Kongress in Berlin: Was macht eine gute Leitlinie aus?
Er führt zwei Punkte aus. Erstens - dass sie neutral ist, unabhängig vor allem von Interessen der Pharmaindustrie. Dazu später mehr. Zweitens sollten repräsentative Vertreter aller Gruppen die Leitlinie erstellen, die sich mit einem Krankheitsbild wie der Multiplen Sklerose auskennen. Und dazu gehören nicht nur Ärztinnen und Ärzte. Sondern auch physiotherapeutisch Tätige, Pflegekräfte - und vor allem die Betroffenen.
"Weil es vorkommt, dass in der Situation, in der man ist – neu diagnostiziert oder schon ein paar Jahre, oder ein frischer Schub nach fünf Jahren: Dann fragt man drei Ärzte und kriegt drei verschiedene Empfehlungen", erzählt Jutta Scheiderbauer. Ihre Erfahrung kennen wohl viele Patientinnen und Patienten, nicht nur solche, die wie sie an Multipler Sklerose erkrankt sind.
„Und als Begründung bekommt man häufig auch schlechte Aufklärung. Es läuft häufig auf eine Drohkommunikation raus“, kritisiert sie. „Also dass, wenn man das zu genau wissen will als Patient und kritisch nachfragt, wie genau es denn belegt ist, man gefragt wird, ob man lieber im Rollstuhl sein will. Oder wenn man es absetzt, dass man dann in den Rollstuhl kommt oder dass ein großes Risiko für einen schweren Schub besteht."

Beteiligung von Betroffenen

Um die Erkrankten besser gegen solche Aussagen zu wappnen, hat Jutta Scheiderbauer an der Neufassung der Leitlinie mitgewirkt. Die Deutsche Multiple-Sklerose-Gesellschaft hat sie gebeten, als Patientenvertreterin dabei zu sein. Sie ist eine von drei Vorständinnen der MS-Stiftung Trier und selbst Ärztin.
Jutta Scheiderbauer hat sich auch für eine eigene Leitlinien-Ausgabe für Patientinnen und Patienten eingesetzt, die bald herauskommen wird: eine laienverständliche Darstellung der vielfältigen Behandlungsmöglichkeiten – mit Antworten, wann sie sinnvoll sind und wann nicht. Alles dargelegt aus Sicht der Betroffenen.
Ein Rollstuhl steht in einem Flur
Drohkulisse Rollstuhl: Jutta Scheiderbauer hat sich für eine MS-Leitlinien-Ausgabe für Patientinnen und Patienten eingesetzt.© picture alliance / dpa / BELGA / Benoit Doppagne
„Um Patienten in die Situation zu versetzen, dass sie mit ihrem Arzt angemessen diskutieren können, da muss dieses Wissensgefälle abgebaut werden. Man ist nämlich hilflos“, sagt Jutta Scheiderbauer.
„Als MS-Stiftung Trier kriegen wir eine Reihe von Anfragen, und es kommt immer wieder vor, dass zum Beispiel ein Patient erzählt, dass ihm nur ein bestimmtes Medikament empfohlen worden ist, obwohl es mehrere Vergleichsmedikamente gibt."
Die Betroffenen bei den Leitlinien einzubeziehen, das ist eine erfreuliche Entwicklung, findet Anke Bahrmann. Sie ist Oberärztin an der Uniklinik Heidelberg. Ihr Schwerpunkt: Diabetes im Alter. Ein Bereich, der mehr als vier Millionen Menschen in Deutschland betrifft, und trotzdem stammte die letzte Leitlinie aus dem Jahr 2004. Auch hier musste eine Neufassung her, deren Erstellung Anke Bahrmann koordiniert hat.
„Wir haben ein Inhaltsverzeichnis zunächst erstellt und überlegt: Welche Themenbereiche sind uns wichtig in der Leitlinie? Zum Beispiel Diagnostik des Diabetes: Was wollen wir weiter beleuchten? Therapie des Diabetes: Welche sind die Therapieziele? Lebensqualität oder der Stoffwechsel? Dann: Welche Begleiterkrankungen sind häufig bei Diabetes, welche wollen wir aufnehmen? Kardiovaskuläre Erkrankungen, Demenzerkrankungen, depressive Erkrankungen, kognitive Störungen, Schmerzen, ja oder nein“, erklärt sie.
„Und wir hatten uns auch zum Beispiel entschieden, ein Thema mit aufzunehmen und deshalb auch die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin mit aufgenommen: Therapiebegrenzung am Lebensende."

Interdisziplinäre Arbeit im Team

"Wir" - das sind Expertinnen und Experten, betraut von den beteiligten Fachgesellschaften, die Leitlinie zu erstellen. Und das sind einige, denn wenn ein älterer Mensch Diabetes hat, dann ist das selten seine einzige Krankheit. Oft nimmt er deshalb mehrere Medikamente, die sich gegenseitig beeinflussen. Möglicherweise liegen Herz- oder Nierenprobleme vor, vielleicht sind die Beweglichkeit oder die Psyche betroffen - all das hat Folgen für die Behandlung, die in der Leitlinie berücksichtigt wurden.
Ein interdisziplinäres Thema also, dem sich Ärztinnen und Ärzte gewidmet haben, Pflegekräfte, und auch hier: Patientenbeauftragte, deren manchmal abweichende Meinung ebenfalls dokumentiert wird.

Aus der Leitlinie "Diagnostik, Therapie und Verlaufskontrolle des Diabetes mellitus im Alter":
"Es ist davon auszugehen, dass ältere Menschen mit Diabetes durchaus dieselben Präferenzen des Diabetesmanagements wie junge haben. (...) Betroffene wünschen sich eine generell gute Lebensqualität. Eine Medikation, die keine Hypoglykämien verursacht und erst zuletzt eine Therapie, die Folgeerkrankungen verhindert. Zu komplizierte Therapieschemata schränken die erlebte Lebensqualität massiv ein (...).“

Die abweichende Sichtweise der Patientenvertreter findet sich auch in der Leitlinie:
„Diese Sichtweise wird von den beteiligten Patientenvertretern nicht geteilt. Die Aussage, wonach Patienten komplizierte Therapieschemata als größere Einschränkung der Lebensqualität erleben (...), halten wir für falsch. Außerdem ist die Studienlage hierzu aus unserer Sicht nicht gesichert."

"Das war Jahre lange Arbeit, kann man sagen. Es waren fünf Jahre. Und natürlich immer wieder zwischen den Sitzungen in kleinen Arbeitsgruppen Textentwürfe geschrieben, Studien gesichtet. Wir hatten eine sogenannte Dropbox, in der alle Literatur gesammelt wurde. Und das ist gerade im Rahmen der vielen Erkrankungen, die die Patienten haben, sehr wichtig. Da hat man sehr viele Studien zu sichten“, erzählt Anke Bahrmann.
„Man hat auch eine systematische Literaturrecherche gemacht, die dort auch eingestellt worden ist. Das hat die großen Studien der letzten zehn Jahre berücksichtigt. Da können Sie sich überlegen, wie viel Zeit man braucht, die alle zu lesen, zu analysieren, auszuwerten und daraus dann ein Konsensuspapier zu schreiben.“

"Wir bewerten diese Leitlinien“

Der hohe Aufwand lohnt sich. Was die Expertinnen und Experten nach Jahren schließlich zu Papier bringen, spiegelt das medizinische Wissen sehr gut wider, sagt Claudia Mischke. Sie beschäftigt sich am Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, kurz IQWiG, mit dem Thema Leitlinien.
"Wir bewerten tatsächlich diese Leitlinien. Wir merken bei Themen, die insgesamt weltweit in der Gesundheitsversorgung eine hohe Relevanz haben, dass da die Leitlinien deutlich besser sind als noch vor Jahren, dass wir die deutlich besser bewerten können“, sagt sie.
„Aber bei neuen Themengebieten – als Beispiel rheumatoide Arthritis oder Adipositas, das ist ja ein ganz aktuelles Thema – da merkt man einfach, dass die Fachgesellschaften in der Leitlinienerstellung vermutlich noch nicht so erfahren sind. Und da gibt es allein aus den Unterlagen, aus denen wir die Bewertung rausziehen, schon auch noch Mängel."
Um das zu ändern, haben die IQWiG-Fachleute damit begonnen, die Fachgesellschaften zu unterstützen. Die können eine Recherche zu konkreten Fragen an das Kölner Institut auslagern. Zum Beispiel, weil die Leitliniengruppe sich nicht darüber einig wird, wie hieb- und stichfest die Daten in der Literatur sind. Vielleicht gibt es auch neue Studien, bei denen unklar ist, was sie taugen - oder ganz neuartige Fragen, etwa zum Thema Cannabis in der Medizin.
Das wird gut angenommen, berichtet Claudia Mischke. Es entlaste diejenigen, die Leitlinien erstellen. Sie tun das nämlich ehrenamtlich. Für die Sitzungen stelle ihre Universität sie zwar frei, sagt Internistin Anke Behrmann. Aber trotzdem liest sie die nötige Fachliteratur in ihrer Freizeit und schreibt Textentwürfe am Wochenende.
"Ich arbeite glücklicherweise Teilzeit als Mutter und hatte da Gelegenheit, nachmittags mich auch mal an solche Projekte zu setzen oder auch mal einen Abend zu nutzen. Und ich glaube, ehrenamtliche Arbeit macht uns Wissenschaftler auch aus“, sagt sie.
„Wir sind sehr bestrebt, dass wir die Leitlinien verbessern, dass wir gute Behandlungsempfehlungen für unsere Patienten zusammenschreiben, da sehen wir auch eine Notwendigkeit in der Praxis."

Kritik an der Ehrenamtlichkeit

Die Leitlinien sind also wichtig, das sieht auch Anke Bahrmann so - aber Geld gibt es trotzdem keines für die Expertinnen und Experten. Von wem auch: Der Staat hält sich bei Leitlinien raus, ein Gesetz dazu gibt es nicht. Nur: Was bedeutet das für die Qualität? Man könnte auf die Idee kommen, dass die Arbeit weniger sorgfältig gemacht wird – schließlich findet sie unbezahlt in der Freizeit statt.
Diese Vermutung weisen zwar alle zurück, die selbst an Leitlinien mitarbeiten – sie würden ja ihren eigenen Ruf beschädigen, heißt es immer wieder. Aber es gibt auch unter ihnen Zweifel, dass es gut ist, bei dieser ehrenvollen Aufgabe ausschließlich auf ehrenamtliche Arbeit zu setzen.
"Auch für Ärzte ist es gut, wenn das Signal gegeben wird: Für die Wochenenden, die du dir ans Bein bindest mit dieser Leitlinie – und das ist enorm viel Arbeit –, kriegst du auch ein Honorar und musst nicht im Kopf die Verrechnung machen: Na, ich mache das jetzt ehrenamtlich, und dafür habe ich meine hoch bezahlten Sprecherjobs und Beraterjobs bei der Pharmaindustrie, und dann stimmt für mich wieder die Bilanz. So darf es nicht sein", sagt Thomas Lempert.
Er hat selbst an Leitlinien mitgewirkt. Zugleich ist er einer derjenigen, die Verbesserungen anmahnen. Vor allem eines kritisiert der Chefarzt für Neurologie an der Schlosspark-Klinik in Berlin: Die Empfehlungen für die beste Therapie seien oft alles andere als neutral.
"Auffällig ist, wie oft Leitlinienautoren finanzielle Verbindungen zur Industrie haben, zur Arzneimittelindustrie, eben zu den Herstellern der Produkte, die in den Leitlinien bewertet werden müssen. Bewertungen sollten immer neutral gemacht werden“, fordert er.
„Zum Beispiel Stiftung Warentest: Da ist es überhaupt keine Frage, dass die Prüfingenieure mit den Herstellern der ganzen Waschmaschinen und Stereoanlagen und so weiter nichts zu tun haben, sondern dass da ganz stark auf Neutralität geachtet wird."

Neutralität statt Interessenskonflikt

Der Berliner Arzt hat deshalb mit Gleichgesinnten das Projekt Leitlinienwatch ins Leben gerufen. Auf der gleichnamigen Website kann jeder nachsehen, ob bei einer Leitlinie Interessenkonflikte bestehen könnten - sprich: ob die Autorinnen und Autoren Geld von der Pharmaindustrie erhalten.
Verboten ist das nicht – so jedenfalls sehen es die Regeln der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften AWMF vor. Auf deren Webseite sind alle Leitlinien zu finden. Aber die Betreffenden müssten sich dann bei Abstimmungen enthalten, wenn etwa ein bestimmtes Medikament empfohlen wird, das in die Leitlinie aufgenommen wird.
Und das sollte alles nachvollziehbar dokumentiert werden, sagt Ina Kopp von der AWMF: "Im internationalen Vergleich werden wir sehr dafür gelobt, dass wir ein Interessenkonflikt-Management haben, das auch eine Regel ist. Aber natürlich ist es so, dass wir mit Menschen zu tun haben und dass vielleicht wirklich einmal vergessen wird, etwas zu dokumentieren. Oder dass der Eindruck entsteht, es ist auf einer Seite etwas publiziert worden, was auf einer anderen Seite eben nicht zu finden ist bei den Leitlinien. Da gibt es Maßnahmen, wie man Leitlinien schützen kann und die auch zunehmend wahrgenommen werden, bevor eine Leitlinie endgültig publiziert wird."
Ina Kopp meint damit die Möglichkeit, dass jeder eine Leitlinie kommentieren kann: den Entwurf vor der offiziellen Publikation ebenso wie auch alle späteren Versionen. Diese Kommentare werden ebenfalls veröffentlicht – und wenn nötig, in einer Neuauflage berücksichtigt.
Der Report zur neuen MS-Leitlinie enthält allein 75 Seiten mit solchen Kommentaren. Es gibt also durchaus Vorgaben, um Interessenkonflikte möglichst auszuschließen. Nur würden sie zu selten umgesetzt, sagt Claudia Mischke vom IQWiG, das die Qualität der Therapieempfehlungen bewertet.
"Man wird wahrscheinlich selten eine Gruppe finden, die komplett interessenfrei ist. Zentral meines Erachtens ist aber, dass die Leitliniengruppe Regeln aufstellt, wie sie mit solchen Interessenkonflikten umgeht. Beispielsweise diese einzelnen Personen bei bestimmten Entscheidungen nicht in die finale Entscheidungsfindung mit einzubinden“, erklärt sie.
„Das findet man leider schriftlich relativ wenig in den Leitlinien, Informationen dazu. Da gibt es sicherlich noch Ausbaufähigkeiten. Das machen manche internationalen Leitliniengesellschaften besser, aber es gibt auch welche, die es noch schlechter machen."

Ampelsystem schafft Transparenz

Wer die Seiten von Leitlinienwatch besucht, findet diese Einschätzung bestätigt. Ein Ampelsystem zeigt: Nur bei jeder fünften untersuchten Leitlinie sind mögliche Interessenkonflikte zufriedenstellend geregelt. Das sagt nicht zwangsläufig etwas über die inhaltliche Qualität aus. Wohl aber über finanzielle Zuwendungen von Pharmaherstellern an die Autorinnen und Autoren. Und damit über die Frage, ob der Inhalt von der Industrie beeinflusst sein könnte.
Tiefrot zeigt die Ampel bei den Leitlinien der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie. Eine davon hat – federführend für Deutschland – Ulf Landmesser mitverfasst. Er ist Direktor der Klinik für Kardiologie an der Berliner Charité.

"Die Leitlinie ist in dem Sinn keine persönliche Sache, weil ja sehr viele Kollegen an der Erstellung einer solchen Leitlinie beteiligt sind. Insofern ist das ein sehr breit abgestützter Prozess, wie solche Leitlinien entstehen", sagt er.
Konkret geht es um das Thema Cholesterin: Welcher Wert muss eingehalten werden, damit das Risiko für einen Herzinfarkt oder Schlaganfall möglichst gering ist?
"Der Hintergrund der neuen Leitlinie war, dass wir einfach sehr viel klarer aufgrund vieler Studien in den letzten Jahren gesehen haben, welche Ansätze wirklich effektiv sind in der Vermeidung des Herzinfarkts und des Schlaganfalls“, sagt Ulf Landmesser.
„Da hat sich aufgrund verschiedener Studienprogramme herausgestellt, dass das LDL-Cholesterin eben ein kausaler Faktor ist in der Progression der klinischen Erkrankung. Und die neuen Studiendaten, die in den letzten Jahren dazugekommen sind, haben eben gezeigt, dass eben eine tiefere Absenkung des LDL-Cholesterins…“
Plötzlich klingelt sein Smartphone. Dass es sinnvoll sei, bei Patienten mit einem hohen Risiko LDL-Cholesterin deutlich zu senken, ergänzt Ulf Landmesser, als er sein Telefonat beendet hat. Er ist viel beschäftigt, für das Interview hat er nur zwischen zwei Herzoperationen Zeit.

Kritik an der Cholesterin-Leitlinie

Viele Fachleute haben die Cholesterin-Leitlinie, die 2019 erschienen ist, kritisiert. Thomas Rosemann etwa, der Professor für Hausarztmedizin aus Zürich.
„Ich glaube, es ist unbestritten bei Patienten, die ein hohes Risiko haben, die beispielsweise bereits einen Herzinfarkt oder Schlaganfall erlitten haben, dass es dort gute Daten gibt, die zeigen: Diese Menschen profitieren von einer starken Senkung des LDL-Cholesterins“, sagt er.
„Der Hauptkritikpunkt zielt auf die Absenkung der Grenzwerte in der Primärprävention ab, das heißt: Menschen, die noch nie ein kardiovaskuläres Ereignis hatten, auch die müssen jetzt eigentlich einen Grenzwert unterschreiten, 3,0. Das gilt fast für alle Menschen, und das ist in meinen Augen die Hauptkritik an dieser Guideline."
Denn bei diesen Personen ist das Risiko sehr gering, dass sie einen tödlichen Herzinfarkt oder Schlaganfall erleiden: Es liegt in den nächsten zehn Jahren unter einem Prozent. Trotzdem liegt für diese gesunden Menschen der Normwert für das LDL-Cholesterin in der neuen Leitlinie jetzt plötzlich um ein Drittel niedriger als zuvor.
Warum, darauf hat Ulf Landmesser eine eindeutige Antwort. „Das ergab sich aus zwei großen klinischen Studien, die über 45.000 Patienten untersucht haben und auch aus weiteren Analysen anderer Studienprogramme. Insofern war die wissenschaftliche Evidenzlage sehr, sehr klar. Und deshalb konnte die Fachgesellschaft – das war der Konsens – gar nicht anders als diese tieferen Ziele für das LDL-Cholesterin empfehlen. Aus meiner Wahrnehmung gibt es sehr viele Missverständnisse in der Bevölkerung, auch bei einigen Ärzten bezüglich des Cholesterins."

Theorie und Praxis im Widerspruch

Tatsächlich stimmt es nicht genau, wenn immer wieder zu hören ist: Hier werden gesunde Menschen zu Patienten gemacht. Die Leitlinie sagt nämlich: Der niedrigere Grenzwert sollte zwar immer eingehalten werden. Aber: Zunächst durch eine Beratung über den Lebensstil – Ernährung und Sport können Cholesterin nämlich auch senken. Erst wenn das nichts hilft, sollen Medikamente zum Zug kommen. Soweit die Theorie.
Doch in der Praxis sieht es anders aus, beklagt Thomas Rosemann. "Praktisch alle dieser Patienten muss man medikamentös behandeln. Wir wissen, dass die sogenannten Lebensstil-Maßnahmen das Cholesterin nur in einem geringen Umfang senken. Wir sind da im Bereich von 10, maximal 15 Prozent. Das heißt, wir brauchen praktisch immer Medikamente, um diese Zielwerte zu erreichen."
Und das sei früher eben nicht nötig gewesen. Kritiker wie er verweisen vor allem auf einen Punkt: Die Autorinnen und Autoren der Leitlinie mit den strengeren Zielwerten haben Geld von der Pharmaindustrie erhalten. Und zwar just von den Herstellern der Medikamente, um die es hier geht. 22 der 23 Beteiligten haben Verbindungen zu diesen Unternehmen – und sie sprechen sich zugleich für den häufigeren Einsatz der Präparate aus.
Auch Ulf Landmesser erhält nach eigenen Angaben Vortrags- oder Beratungshonorare gleich von mehreren Herstellern von Cholesterinsenkern. Hat das aus seiner Sicht einen Einfluss auf die Empfehlungen in der Leitlinie? Bevor diese Frage gestellt werden kann, muss Ulf Landmesser dringend zurück in den Operationssaal.

Er antwortet später schriftlich. "Es gibt im Bereich der akademischen Medizin notwendigerweise eine Zusammenarbeit mit der Industrie, z.B. im Rahmen der Zusammenarbeit und Unterstützung von Forschungsprojekten, das ist für Innovation auch erforderlich. Deshalb müssen führende Experten oft auch Kontakt mit der Industrie haben. (...) Die Leitlinien-Empfehlungen dürfen aber dadurch nicht beeinflusst werden – sondern diese beruhen wie (...) dargestellt auf den Ergebnissen der klinischen Studien, die jeweils auch einsehbar und nachlesbar sind – und auch transparent in den Leitlinien angegeben werden müssen."

Pharmahonorare ohne Nebenwirkungen?

Das Argument ist immer wieder zu hören: Es sei ganz normal, dass man als Expertin, als Experte in der Medizin Geld von der Pharmaindustrie bekommt. Mit der fachlichen Einschätzung für die Leitlinie habe das aber nichts zu tun. Die sei davon völlig unabhängig. Keine Beeinflussung also?
Thomas Lempert von Leitlinienwatch kann sich das nicht recht vorstellen. "Das muss gar nicht über den Weg der Korruption laufen. Aber diese Nähe zur Industrie führt dazu, dass man auch Industrie-Sichtweisen übernimmt und auf einmal ehrlich überzeugt ist von Dingen, wo ein anderer ohne Industriekontakte vielleicht zu anderen Schlussfolgerungen kommt."
Inzwischen gibt es mehrere Untersuchungen, die tatsächlich einen Einfluss nachweisen. Auch auf dem Neurologen-Kongress in Berlin ist das ein Thema, im Vortrag des Neurologen Bernhard Hemmer.
"Warum ist das wichtig? Da darf ich jetzt auf eine rezent publizierte Studie zum Thema finanzielle Interessenkonflikte bei Veröffentlichung von Originalarbeiten, aber auch von Leitlinien zitieren. Sie ist im British Medical Journal vor Kurzem rausgekommen. In dieser Analyse ist jetzt noch mal deutlich gezeigt worden, dass auch Leitlinien unter Interessenkonflikten leiden“, sagt er.
Aber können die Fachgesellschaften überhaupt gute Fachleute finden, die kein Geld von der Pharmaindustrie erhalten? Das ist in einigen Bereichen tatsächlich schwierig, und zwar vor allem dort, wo kostspielige Untersuchungsverfahren eine Rolle spielen oder teure Medikamente verschrieben werden.
Auf diesen Gebieten ist die Verflechtung der Medizin mit der Industrie besonders eng – sie sei sogar praktisch zwangsläufig, meint nicht nur Ulf Landmesser. Zu diesen Bereichen der Medizin gehören die Kardiologie und auch die Neurologie, das Gebiet von Thomas Lempert.
"Dieses Argument kenne ich von vielen Seiten, auch aus meinem eigenen Fach. Wenn aber eine Fachgesellschaft keine unabhängigen Experten mehr in ihren Reihen hat, dann ist das ein Offenbarungseid“, sagt er. „Denn zur Fachgesellschaft gehört nicht nur die Expertise, sondern auch die Unabhängigkeit, zumindest genügend unabhängige Leute, um eine unabhängige Stellungnahme abgeben zu können."

„Hört auf mit diesen Beraterverträgen!“

Dass sich hier gerade etwas verändert, zeigt die neue Leitlinie über Multiple Sklerose. Erstmals hat die Fachgesellschaft einen hochkarätigen potenziellen Autor von der Mitarbeit ausgeschlossen. Seine Verbindungen zur Industrie waren selbst den Neurologen zu eng. In den USA gehen einige Fachgesellschaften ähnlich rigoros vor.
Das sollte Schule machen, findet Thomas Lempert. "In einer amerikanischen Denkschrift zu Leitlinien vom Institute of Medicine heißt es, dass Experten mit Beraterverträgen diese Verträge lösen sollen, wenn sie Leitlinienarbeit machen“, sagt er.
„In Deutschland ist es die Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft, der ich auch angehöre, die den gleichen Weg gegangen ist und ihren Leuten gesagt hat: Hört auf mit diesen Beraterverträgen! Wenn ihr bei uns die unabhängige Arzneimittelbewertung machen wollt, dann ist es gut, wenn ihr diese Verbindungen löst."
Das passiert noch nicht oft, aber das Bewusstsein in der Ärzteschaft verändert sich langsam. Auch die Beobachtung durch Leitlinienwatch hat etwas bewirkt: Einige Fachgesellschaften achten mittlerweile genauer darauf, dass eine Leitlinie möglichst unabhängig von Interessen der Industrie entsteht.
Auch wenn das noch längst nicht alle tun - die Veränderung macht sich bereits bemerkbar, findet Patientenvertreterin Jutta Scheiderbauer. "Wenn man jetzt die MS-Leitlinie, die jetzt neu herauskommt, als Beispiel nimmt: Es ist durchaus durch die Regulierung der Interessenkonflikte und das Festlegen einer repräsentativen Gruppe dazu gekommen, dass jetzt der Stil und der Schwerpunkt der Leitlinie ein anderer ist als die der Vorgängerleitlinien."
Wer an der Multiplen Sklerose erkrankt ist, für den ist das eine positive Entwicklung. Halten die behandelnde Ärztin oder der Arzt sich an die Leitlinie, dann bekommen diese Menschen weniger Medikamente als früher, und wenn, dann zielgerichteter. Das bedeutet weniger Nebenwirkungen und eine bessere Lebensqualität. Und nur darum sollte es in der Medizin ja eigentlich gehen.

Autor: Hellmuth Nordwig
Sprecherin und Sprecher: Cornelia Schönwald
Regie: Klaus-Michael Klingsporn
Technik: Thomas Monnerjahn
Redaktion: Martin Mair

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