Lehrplanwahn

Geschichte ohne Fundament

Schüler lernen im Geschichtsunterricht an einer Hauptschule in Arnsberg (Sauerland).
Geschichtsunterricht: Schüler in Berlin und Brandenburg erwartet zukünftig ein neuer Lehrplan. © dpa / picture alliance / Fabian Stratenschulte
Von Thomas Brechenmacher |
Bereits ab der siebten Klasse sollen Schüler in Berlin und Brandenburg im Fach Geschichte epochenübergreifend unterrichtet werden. In dem Ende der chronologischen Ordnung sieht Historiker Thomas Brechenmacher einen "Rückfall in eine vorhistoristische Zeit".
In Berliner und Brandenburger Schulen soll künftig bereits in der siebten und achten Klasse Geschichte nicht mehr in chronologischer Ordnung unterrichtet werden. Die neuen Rahmenlehrpläne sehen stattdessen epochenübergreifende Längsschnitte zu einzelnen Themen vor. Weniger Inhalte, mehr Kompetenzen, so lautet die Devise.
Man könnte auch sagen: zu viel Wissen unterminiert die Kompetenz, alles vom Standpunkt der eigenen Wassersuppe aus zu beurteilen. Themenübergreifende Längsschnitte bedeuten – man ahnt es schon – die Geschichte der Unterprivilegierten, der sozialen Ungleichheit, der Demokratie, der Gewalt, der Toleranz, der Migration, der Frauen, der Umwelt und so weiter in appetitlichen Häppchen aus Mittelalter und Neuzeit abzuhandeln – die Antike kommt schon gar nicht mehr vor –, und immer je nach Relevanz für die Gegenwart. Ob dies auch die Themen sind, die für die jeweilige Epoche von Belang waren, scheint keine Rolle zu spielen.
Die "Längsschnittmethode" als Ergebnis einer "Entschlackung und Modernisierung" des Geschichtslehrplans, wie es in der Politikersprache heißt, bedeutet im Grunde einen Erkenntnisrückfall in eine vorhistoristische Zeit lange vor dem 19. Jahrhundert.
Diese glaubte ihrerseits, Versatzstücke aus der Geschichte seien nur insofern von Belang, als sie "Exempla" für den Gebrauch der eigenen Zeit darstellten: Selbstbespiegelung durch Geschichte. Wie sollen die Schüler durch die Häppchenkultur in die Lage versetzt werden, zu verstehen, dass das Vergangene immer das ganz Andere ist, von dem wir unwiderruflich getrennt sind, ohne das wir aber gleichwohl nicht sein können, weil sich das Jetzt aus dem Vergangenen entwickelt?
Eine bessere Allgemeinbildung wird nicht erreicht
Solche bereits komplexen Einsichten können nur auf Wissen aufbauen. Wo und wann soll es vermittelt werden, wenn nicht in den frühen Jahren des Geschichtsunterrichts? Wie will ein Siebtklässler historische Diagnosen zur – sagen wir – Situation der Frau in einer Reichsstadt des späten Mittelalters, in einer höfischen Residenz des 18. Jahrhunderts oder im Deutschland der Weimarer Republik sinnvoll zueinander in Beziehung setzen, wenn ihm die einfachsten Grundkenntnisse über die jeweiligen Kontexte fehlen? Ja, wenn er überhaupt, wie zu fürchten ist, keine Kenntnis des chronologischen Zusammenhangs mehr besitzt?
Wie will der ohnehin knapp bemessene Geschichtsunterricht dies alles nur zu einem einzigen "Längsschnitt-Thema" vermitteln, von anderen ganz zu schweigen?
Ein solcher Geschichtsunterricht überfordert nicht nur sich selbst, sondern auch die Schüler, deren geschichtliches Vorwissen sich aus düsteren Fantasy-Soaps oder aus historisierenden Computerspielen speisen dürfte. Eine bessere Allgemeinbildung – ebenfalls ein Anliegen der neuen Rahmenlehrpläne – wird durch "Längsschnitt-Themen" in der Mittelstufe mit Sicherheit nicht erreicht.
Schule sollte Fundamente legen
Schule sollte zu Seriosität verpflichtet sein, sollte Fundamente legen, auf denen echte Kompetenzen aufbauen können. Voraussetzung jedes historischen Urteils ist Orientierung durch kontextbezogenes Wissen. Dazu gehört, um ein berühmtes Diktum Leopold von Rankes aufzugreifen, die Einsicht, dass jede Epoche unmittelbar zu Gott ist, also nach den je eigenen Maßstäben aus sich heraus verstanden werden muss. Ohne zusammenhängende Wissensbasis ist das unmöglich, denn dann sieht man immer nur sich selbst.
Oder sollte das gar beabsichtigt sein? Sollen die Schüler durch Geschichte nicht die Relativität der eigenen Position erkennen, sondern nur eben so viel wahrnehmen, wie ein zeitgeistiger Frage- und Interessenhorizont gerade zulässt? Damit wäre das Gegenteil von "Kompetenz" erreicht, nämlich Desinformation – und dafür sollte sich der Geschichtsunterricht nicht hergeben.
Thomas Brechenmacher (geb. 1964), studierte Geschichte, Germanistik und Philosophie in München. Der Promotion und Habilitation folgte ein längerer Studienaufenthalt in Rom. Seit 2007 lehrt er als Professor Neuere Geschichte an der Universität Potsdam. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählt neben der deutsch-jüdischen Geschichte die kirchliche Zeitgeschichte, hier besonders das Verhältnis der Kirche zu den totalitären Ideologien und ihren Systemen im 20. Jahrhundert.
Thomas Brechenmacher
Thomas Brechenmacher© Thomas Brechenmacher/privat
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