Schule

Sexuelle Vielfalt gehört auf den Lehrplan

Von Martin Lücke · 14.02.2014
Sexuelle Identitäten sind keine naturgegebenen Konstanten – sie werden in historischen Prozessen erst hervorgebracht. Daher sollte dieses Thema im Schulunterricht behandelt werden, meint der Didaktik-Professor Martin Lücke.
Wer gegenwärtiges Reden über sexuelle Vielfalt verstehen möchte, sollte zuerst einen Blick in die Geschichte werfen. Denn die Vergangenheit ist bevölkert von Geschichten über sexuelle Vielfalt – der Geschichtsunterricht hat diese Geschichten bisher jedoch nicht entdeckt. Wenn überhaupt (und selten genug), wird Schülerinnen und Schülern von der Verfolgung schwuler Männer im Nationalsozialismus berichtet. Andere Erzählungen – etwa über lesbische und schwule Emanzipation am Ende des 19. Jahrhunderts, über Transvestismus, Intersexualität oder die ersten medizinischen Operationen zur Geschlechtsumwandlung in den 1920er-Jahren, sind aus dem Kanon historischen Wissens in der Schule verbannt.
Dass der berüchtigte § 175 erst 1994 aus dem deutschen Strafgesetzbuch verschwand, weiß kaum jemand – seine Opfer hat die Bundesrepublik noch immer nicht entschädigt. Dass es sogar noch drei Jahre länger dauern musste, bis Vergewaltigung in der Ehe endlich strafbar wurde, auch das weiß kaum jemand. Und beides ist ein historischer Skandal.
Schule muss sich an der Lebenswelt orientieren
Das alles und vieles mehr weiß aber die Geschichte. Und das alles kann auch Geschichtsunterricht in der Schule erzählen, und zwar leise, unaufgeregt und selbstverständlich. Der gegenwärtigen Geschwätzigkeit und den vielen schnellen Toleranzbeteuerungen könnte ein solcher Geschichtsunterricht historische Tiefenschärfe verleihen.
In der Gegenwart spielt Sexualität für Schülerinnen und Schüler ja ohnehin eine wichtige Rolle, ist fester Bestandteil ihrer Lebenswelt. Ein Geschichtsunterricht, der nicht konsequent von Gegenwart und Lebenswelt her denkt, ist sowieso zum Scheitern verurteilt. Noch nie war es für Jugendliche so einfach, hemmungslos Pornografie zu konsumieren. In den Medien sind sie mit sexualisierten Vorbildern konfrontiert, die zu Höchstleistungen auffordern, die ohnehin niemand erfüllen kann. Schule muss die Chance nutzen, mit ihren Mitteln, also vernünftig und strukturiert, mit jungen Menschen über Sexualität zu sprechen. Das sollte für alle Fächer gelten.
Ein historisch lernender Blick auf Sexualität bringt aber noch mehr zum Vorschein: Sexuelle Identitäten, das würde man lernen, waren in der Vergangenheit anders als heute. Sie kamen auf andere Weise zu Stande, spielten für die Menschen der Vergangenheit eine andere Rolle als heute, waren auf ganz andere Weise konfliktträchtig. Sie wurden in der Vergangenheit anders gedacht und anders gemacht.
Sexuelle Identitäten wurden ständig verändert
Heutige sexuelle Identitäten, auch jene oft als natürlich verkaufte Trias aus Homo-, Hetero- und Bisexualität, sind also nicht alternativlos, denn zu ihnen gab es in der Vergangenheit bereits Alternativen. Mal ging es bunter und mal grauer zu als heute, aber eben nie genauso wie in unseren Tagen.
Mehr noch: Sexualität und sexuelle Identitäten waren nicht nur irgendwann einmal anders, sie wurden auch ständig verändert. Und es waren Menschen aus Fleisch und Blut, die an solchen Veränderungen mitgewirkt haben.
Was könnte man also lernen? Sexuelle Identitäten und sexuelle Vielfalt sind eben keine naturgegebenen Konstanten – sie werden in geschichtlichen, kulturellen und sozialen Prozessen erst hervorgebracht, mühsam geboren, hart erkämpft – von handelnden und leidenden Menschen in Vergangenheit und Gegenwart. Und wer weiß: Vielleicht haben die auf diese Weise Informierten dann Lust dazu, in unserer Gegenwart auch an solchen Veränderungen mitzuwirken – freilich mit der Gelassenheit und dem Nachdruck eines historisch informierten Menschen.
Das wäre eine Emanzipation von Schöpfungsgeschichten und Biologismen, wäre eine Integration von Sexualität in die von Menschen gemachten Geschichten, wäre ein Weg hinaus aus der bloßen Biologie, hinein in die Kultur.
Ein solcher Blick zurück in die Vergangenheit freilich kann gefährlich sein. Warum sonst erstarrte die Ehefrau von Lot bei ihrer Flucht aus dem biblischen Sodom zu einer Salzsäule, als sie einen Blick zurück riskierte?
Martin Lücke, geboren 1975 in Marl, studierte Geschichte und Deutsch an der Uni Bielefeld. Er promovierte zur Geschichte der männlichen Prostitution, hat als Lehrer an Berliner Schulen gearbeitet und ist seit 2010 Professor für Didaktik der Geschichte an der FU Berlin. Er gehört zu den Initiatoren des Berliner Queer History Month, eines Schulprojekts, das im Februar 2014 zum ersten Mal stattfindet.
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Martin Lücke© Foto: privat
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